Ältere Werke zu übersetzen, kann ein ganz schöner Brocken sein – vor allem, wenn man dabei merkt, dass es mit den eigenen sprachgeschichtlichen Kenntnissen gar nicht so weit her ist. Aber wem wollte man schon verübeln, nicht die drei Bände deutscher Sprachgeschichte von Polenz durchgearbeitet zu haben, um in puncto Sprachwandel wirklich auf der Höhe zu sein? So sehr es auch Spaß machen kann, „im Grimm zu surfen“, wie Sarah Kirsch das lustvoll-planlose Herumschmökern im Deutschen Wörterbuch einmal genannt hat, oder sich stundenlang in eine historische Grammatik zu vertiefen: Der Alltag von Übersetzern lässt wohl in der Regel keine Zeit für ausgedehnte diachrone Studien, und die Fragen und Probleme der Übersetzer betreffen ohnehin weniger das große Ganze der Sprachgeschichte als vielmehr die kleinen Details, die dem jeweils zu übersetzenden Text sein besonderes stilistisches Gepräge geben.
Die beiden Literaturübersetzerinnen Gabriele Leupold und Eveline Passet haben vor einiger Zeit im Rahmen einer Veranstaltungsreihe im Literarischen Colloquium Berlin jene kleinen Details ins Licht gerückt, die Übersetzer oft tagelang umtreiben, die jedoch von Philologen vergangener Epochen häufig als Verstöße gegen die Regeln des „guten und richtigen Deutsch“ verpönt wurden: Modalpartikeln, Interjektionen, Abweichungen von grammatikalischen Normen, aber auch nicht-standardsprachliche Varietäten wie Dialekte, Mischsprachen und Slang. Die Beiträge, die durchgängig aus der Feder von Linguisten mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen Sprachgeschichte, Dialektologie und/oder Varietätenlinguistik stammen, sind nun in dem Sammelband Im Bergwerk der Sprache. Eine Geschichte des Deutschen in Episoden im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. In einem Interview im Bayrischen Rundfunk begründen die Herausgeberinnen die Wahl der Titel-Metapher gleich doppelt: Natürlich hätten sie einerseits an die literarischen Bergwerke der Romantik gedacht, wichtig sei ihnen aber auch das Bild des Übersetzers als Bergarbeiter, der bei seiner Arbeit immer wieder „unter Tage gehen“ müsse, wenn er Literatur in der eigenen Sprache nachschaffen wolle.
Beim ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis erscheinen die sechzehn Beiträge ziemlich heterogen, widmen sie sich doch so unterschiedlichen Gegenständen wie dem Wandel in Syntax und Zeichensetzung, Sprachkontaktphänomenen in Ostmitteleuropa oder Verfahren sprachlicher Patinierung. Eine systematische Sprachgeschichte hat der Leser, wie ja auch der Untertitel des Bandes deutlich macht, also nicht zu erwarten. Vielmehr werden ihm jeweils vom Einzelnen und Konkreten ausgehende Forschungen präsentiert, die zwar zunächst disparat erscheinen, in Wirklichkeit aber, wie die Herausgeberinnen im Vorwort betonen, durch das gemeinsame Thema der Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit „unterirdisch“ miteinander verbunden sind. Es ergeben sich zwei Hauptabteilungen: Die ersten neun Beiträge sind – so führen die Herausgeberinnen die Titelmetapher weiter aus – diachrone Erkundungen der „Gänge und Stöcke“ im Bergwerk des Deutschen, in weiteren sieben Beiträgen geht es um den „Mergel“, also um sprachliche Mischgesteine wie die „Lagersprache“ der NS-Zeit, das Kiezdeutsch oder Formen des „Kakanischen“. Die beiden letzten Beiträge zu Dialektindikatoren und Patinierung bilden streng genommen den Nukleus zu einer dritten Abteilung, die – würde sie ausgebaut – Phänomene der Schaffung artifizieller Varietäten bzw. Kunstsprachen behandeln könnte.
Bei Anne Betten, die direkte Rede und Verfahren der Redewiedergabe in Erzähltexten über fünf Jahrhunderte verfolgt, erfährt der Leser, wie sich der Blick der Sprachhistoriker auf komplexe syntaktische Strukturen verändert hat: Während die ältere Forschung, die von der Idee einer kontinuierlichen „Weiterentwicklung“ der Syntax ausging, hypotaktische Stufungen in frühneuzeitlichen Texten als reine „Anfügungen“ und damit als „Zeichen struktureller Simplizität“ gedeutet hat, ist in jüngerer Zeit ein unverstellter Blick auf die Besonderheiten des Periodenbaus in diesen Texten möglich geworden. Paul Rössler arbeitet heraus, wie sich die Zeichensetzung von einer rhetorischen zu einer primär syntaktisch begründeten gewandelt hat. Die Beobachtungen regen dazu an, Zeichensetzung auch einmal im interkulturellen Vergleich zu betrachten, kann doch zum Beispiel die Semantik eines Ausrufezeichens in einem italienischen Text eine ganz andere sein als in einem deutschen. Britt-Marie Schusters Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf bewusste Abweichungen vom deutschen Klammerprinzip und verhilft unter anderem zu der Erkenntnis, dass der typische „Sound“ der Mutmassungen über Jakob einem ganz bestimmten stilistischen Kunstgriff Johnsons zu verdanken ist: der systematischen Verwendung der Ausklammerung. Sibylle Kurt zeigt an zahlreichen Beispielen von Übersetzungen aus den und in die Sprachen Deutsch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Englisch und Russisch, dass ein mangelndes Bewusstsein des Übersetzers für die grammatikalischen und lexikalischen Feinheiten der erlebten Rede entscheidende Verschiebungen in Perspektive und Wahrnehmung zur Folge haben kann, so dass letztlich die narratologische Konzeption des übersetzten Textes eine andere ist als die des Ausgangstextes.
Mit den Beiträgen von Jörg Kilian und Elke Hentschel verbindet diesen Aufsatz das Thema „Mündlichkeitsmarker“. Kilian, dessen Beitrag sich den sogenannten „Gesprächswörtern“ oder, linguistisch korrekt, den „Dialogstrukturpartikeln“ widmet, hat in barocken Werken zur „Sprachkunst“ sowie in literarischen Texten höchst interessante Funde gemacht. Die Partikel „ey“ etwa, die um 1615 zum Ausdruck „liebkosiger“ Gemütsbewegung verwendet wurde, dient in der Schreibung „ei“ im 18. Jahrhundert als gesprächsschritteinleitende Partikel ( „Ei, was redst du doch“), hundert Jahre später in der Form „Ei!“ als Ausruf der Überraschung und im modernen Jugenddeutsch unter anderem als Ausdruck der Empörung („ey, Mann, das kannst du doch nicht machen!“). Dass die Abtönungspartikeln alles andere als die „Läuse im Pelz der Sprache“ sind, als die man sie in vergangener Zeit manchmal betrachtet hat, weiß niemand besser als die Übersetzer. Hentschel referiert zunächst Ergebnisse von Befragungen, bei denen Teilnehmer die emotionale Färbung von Sätzen mit und ohne Partikeln beurteilten. Im zweiten Teil ihres Beitrags untersucht sie das Partikelvorkommen in dramatischen Texten, da Modalpartikeln naturgemäß in Dialogen am häufigsten aufträten. Profitieren können von diesem Beitrag allerdings auch Übersetzer erzählender Literatur, spielen doch Modalpartikeln auch bei der Ausgestaltung von Figuren- und Erzählerrede eine zentrale Rolle.
Klaas-Hinrich Ehlers zeigt, dass in der NS-Zeit eine Vielzahl hybrider Grußformeln entstand, in denen die vertraute „vertikale“ Form des Grüßens sich neben der erzwungenen „horizontalen“ behauptete: „Ich verbleibe / mit deutschem Gruß / und Heil Hitler / Ihr aufrichtig ergebener…“. Auch bei Anja Voeste geht es um Korrespondenz. Sie zeigt im Vergleich zweier Briefe, wie im 19. Jahrhundert bei wenig gebildeten Schreiberinnen unter dem Einfluss der Erbauungsliteratur ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen mündlicher Sprache und prestigereicherer Schriftsprache entstand und der Wunsch nach Anerkennung der schriftsprachlichen Kompetenz so dominierte, dass auf individuellen Ausdruck verzichtet wurde.
Die Beiträge von András F. Balogh, Katharina Mayr/Kerstin Paul/Kathleen Schumann, Renate Birkenhauer, Manfred Michael Glauninger und Hermann Scheuringer widmen sich Varietäten, die im Kontakt des Deutschen mit anderen Sprachen entstanden sind. Während Scheuringers Beitrag einen Überblick über die Vielzahl der Sprach- und Dialektkontakte im Gebiet der ehemaligen Donaumonarchie gibt, betrachtet Balogh das Phänomen am Beispiel mehrsprachiger Schriftsteller im Gebiet des heutigen Rumänien. Glauninger nimmt den in der Budapester Josefstadt im 19. Jahrhundert gesprochenen „kakanischen Slang“ sowie das im slawonischen Osijek entstandene „Essekerisch“ in den Blick, heute verschwundene Varietäten, die jedoch in literarischen Texten, zum Beispiel in den Spielvorlagen der damals populären Marionettentheater, überliefert und daher erstaunlich gut erforschbar sind. Auch die sogenannte „Lagersprache“, die Birkenhauer als eines von mehreren Sprachphänomenen der NS-Zeit näher untersucht hat, ist, obgleich in einer weitgehend schriftlosen Kommunikationssituation entstanden, literarisch belegt, zum Beispiel durch Erinnerungstexte ehemaliger Häftlinge. Birkenhauer zeigt an vielen Beispielen, dass es eine Lagersprache nicht gab, da jedes Lager gemäß der Herkunft der Häftlinge einen je eigenen Argot ausbildete. Sie beklagt, dass man Lagersprache nach dem Krieg noch lange Zeit häufig als etwas Peinliches empfunden und daher redaktionell geglättet habe, so dass die „körperliche und seelische Not, von der sie Zeugnis ablegt“, verdrängt wurde. Mayr/Paul/Schumann schärfen in ihrem Beitrag das Bewusstsein dafür, dass das sogenannte „Gastarbeiterdeutsch“ nicht mit dem „Kiezdeutsch“, das etwa in migrantenreichen Stadtteilen von Berlin gesprochen wird, gleichgesetzt werden darf. Partikeln wie „ischwöre“ zur Bekräftigung einer Aussage, oft als „typisch kiezdeutsch“ empfunden, seien nach Struktur und Funktion keineswegs auf diese Varietät beschränkt, sie tauchten vielmehr auch in der Umgangssprache von Muttersprachlern ohne Migrationshintergrund auf (z.B.: „Er will glaubich später kommen.“). Wie unterschiedlich eine Mischsprache wie das Kiezdeutsche künstlerisch (um)gestaltet werden kann, zeigen die Autorinnen an Texten Özdamars, Zaimoglus und Khemiris.
Die beiden letzten Beiträge mit den schönen Titeln „Wie ma n Text Platt macht“ (Horst J. Simon) und „Was lässt einen Text ‚alt’ aussehen?“ (Dieter Cherubim) kann man mit Gewinn als Anleitungen zur Herstellung eines bestimmten Stils lesen. Simon geht der Frage nach, was die real existierenden Dialekte des Deutschen bei aller Verschiedenheit überregional gemeinsam haben, und hilft damit gerade Übersetzern, da ja bekanntlich ein Dialekt der Ausgangssprache wegen dessen Bindung an Ort und Milieu nicht ohne Weiteres durch einen existierenden Dialekt der Zielsprache wiederzugeben ist. Ähnliche Probleme stellen sich dem Übersetzer im Falle archaisierender Texte: Cherubim zeigt, dass man nicht nur Möbel, sondern auch Sprache „patinieren“ kann, und erläutert anhand verschiedener Beispieltexte ganz konkret, „wie’s geht“. Es liegt in der Natur des Konzepts der „notwendigen Lückenhaftigkeit“ (Vorwort), dass man bei der Lektüre anfängt, neue Möglichkeiten der „Tiefenbohrung“, aber auch des interkulturellen Vergleichs zu ersinnen: Das Bergwerk ist riesig, und man darf auf die Fortsetzung der Vortragsreihe gespannt sein.
Gemeinsam ist allen Beiträgen des Bandes, dass sie Sprachwandel und Sprachmischung nicht von abstrakten Regelkategorien ausgehend bewerten oder gar in populistische Klagen über den angeblichen Verfall der deutschen Sprache einfallen, sondern einzelne Phänomene in ihrer historischen Bedingtheit beschreiben. Dass dies eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema „Sprachkritik“ nicht ausschließt, zeigt der Beitrag von Hans-Joachim Bopst über den vermeintlich „falschen“ Gebrauch von Präpositionen wie „für“, „über“, „durch/von“, „auf“ (zum Beispiel: „Vollsperrung durch ein herunterhängendes Stromkabel“). Er plädiert dafür, Sprachkritik nicht als Schelte von Normverstößen, sondern als kritische Reflexion der Normen selbst zu betreiben.
Dieses Anliegen lässt sich im Übrigen auf das ganze Buch übertragen: Im Bergwerk der Sprache fordert in vielfältiger Weise zum Nachdenken über Normen auf. Es bietet eine Vielzahl von interessanten Fallbeispielen, konkreten Hinweisen und vor allem Anregungen zum immer neuem Nachdenken über die deutsche Sprache und die Grenzen ihrer Übersetzbarkeit. Gerade weil es kein auf Vollständigkeit bedachtes Handbuch zur Sprachgeschichte sein will, sondern mit seinen „Tiefenbohrungen“ dazu anregt, vom Einzelfall aus auf das Ganze zu schauen, kann es zur Vervollständigung der häuslichen Handbibliothek nur empfohlen werden.
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Gabriele Leupold und Eveline Passet (Hg.): Im Bergwerk der Sprache. Eine Geschichte des Deutschen in Episoden, Göttingen: Wallstein Verlag 2012, 360 S., € 24,90
Gabriele Leupold studierte Slawistik und Germanistik. Sie übersetzt aus dem Russischen (u.a. Mandelstam, Pasternak, Schalamow) und ist Trägerin des Paul-Celan-Preises sowie des Johann-Heinrich-Voß-Preises.
Eveline Passet studierte Slawistik und Romanistik. Sie übersetzt aus dem Französischen und dem Russischen (u.a. Kuprin, Rosanow, Daudet, Pennac) und ist Autorin von Rundfunk-Features.
Vera Viehöver, Dr. phil., studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Aachen, Brüssel und Düsseldorf. Sie lehrt Deutsche Sprache und Übersetzung (Französisch/Deutsch) an der Université de Liège. www.cea.ulg.ac.be