Nicht nur in ganz Lateinamerika, auch hierzulande ist Pablo Neruda der bekannteste Dichter Chiles. Antonio Skármeta macht sich den in Chile üblichen Kult – weniger um das literarische Vermächtnis als vielmehr um die Person Nerudas – zunutze und erzählt eine Liebesgeschichte, bei der der Literaturnobelpreisträger von 1973 als „der gute heiratsvermittelnde Dichter“ („el buen poeta casamentero“) auftritt: Während der Dichter auf La Isla Negra weilt, stellt der junge Mario Jiménez als Briefträger Nerudas Korrespondenzen zu. Auf diese Weise versucht er, sich dem durch den Vater vorherbestimmten Beruf des Fischers zu entziehen. Er verliebt sich in die schöne Beatriz González, fühlt sich jedoch nicht imstande, ihr seine Liebe zu gestehen. Nach einigen Gesprächen mit dem Dichter über die Wirkungsmacht von Metaphern wagt er es, in einem Liebesbrief an Beatriz ein anzügliches Gedicht Nerudas zu zitieren und als das seine auszugeben. Damit beeindruckt er die Geliebte ebenso, wie er deren Mutter erzürnt, die den Liebesbrief findet. In der Konfrontation mit der Mutter setzt sich Neruda zunächst widerwillig und später ausgesprochen engagiert für Mario ein. Antonio Skármeta schildert die fingierte Beziehung Pablo Nerudas zu seinem Briefträger vor dem Hintergrund der Allende-Ära und des sich anschließenden Militärputsches durch Augusto Pinochet. Die Thematisierung dieser politisch höchst brisanten Zeitspanne erlaubt eine interessante Durchmischung von Faktum und Fiktion, die dem Lesepublikum sowohl – teils erfundene – Details der Schriftstellerbiographie als auch Aspekte der chilenischen Geschichte vermittelt.
Bereits im Erscheinungsjahr 1985 wurde Ardiente paciencia von Willi Zurbrüggen übersetzt. Der Roman liegt auf Deutsch mittlerweile in der 14. Auflage vor und wurde bislang in 19 Sprachen übertragen. Zurbrüggens große Leistung ist die stilgetreue Nachbildung manch schwieriger, vor umschreibenden Adjektiven nur so strotzender Passagen. Diese sind kennzeichnend für den überschwänglichen, auf Klappentexten so gerne als „poetisch“ bezeichneten Stil Antonio Skármetas, mit dem er an den Tonfall manch eines Neruda-Liebesgedichtes anknüpft. Man denke etwa an Nerudas 20 poemas de amor y una canción desesperada (20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung). Gleichzeitig liefert Skármeta damit eine Hommage an den Literaturnobelpreisträger, den er in seinem Roman porträtiert.
In Skármetas Buch werden häufig einzelne Verse und Gedichttitel aus Nerudas Werk angeführt. Man kann davon ausgehen, dass Zurbrüggen die zu großen Teilen von Erich Arendt übersetzte und von Karsten Garscha herausgegebene dreibändige Neruda-Werkausgabe kennt. Zurbrüggen übersetzt jedoch viele der Passagen aus Nerudas Werk neu. Ein kleines Beispiel erläutert, dass er hierbei verdienstvollerweise der Maxime ‚So frei wie nötig und so nah wie möglich‘ folgt: Während in der Oda a la sal (Ode an das Salz) bei Zurbrüggen aus „cristal del mar, olvido de las olas“ das „Kristall des Meeres, Vergessen der Wellen“ wird, lautet die Ergänzung bei Arendt anders, die interessante Ambiguität wird hier bedauerlicherweise aufgelöst: „Kristall des Meeres, Vergessen von den Wogen“[1]. Zurbrüggen übersetzt an dieser Stelle wortwörtlich, denn bei Neruda steht „olvido“ und nicht „olvidado por las olas“, wie es für Arendts Übersetzung notwendig wäre. Demnach verwendet Zurbrüggen die vorliegende Übersetzung von Arendt, sofern sie für den Kontext angemessen ist, und passt die Übersetzung dort an, wo starke inhaltliche Abweichungen zum Ausgangstext vorliegen.
Gelegentlich steht das Pathos der Neruda-Gedichte im Kontrast zu den von Skármeta fingierten Dialogen, die er dem Dichter in den Mund legt. Verwunderlich wird dies, wenn der Protagonist Neruda in seiner ersten Belehrung des Briefträgers Metaphern und Vergleiche verwechselt. „Tu quedas ahí parado como un poste.“ („Du stehst da wie ein Laternenpfahl.“). Auch der humorvolle Kommentar des Dichters im längsten Kapitel des Buches ist im Original ein mit einem Binnenreim versehener Vergleich. Gekonnt korrigiert Zurbrüggen diese kleine Unebenheit, indem er tatsächlich eine Metapher einfügt: „Esta conversación es más larga que tren de carga“ wird zu: „Unsere Unterhaltung hat ihren Zielbahnhof noch lange nicht erreicht.“
Problematisch gestaltet sich die Wiedergabe der chilenischen Sprachvarietät. Skármeta benutzt Chilenismen, um die Ausdrucksweise des Briefträgers von der Nerudas abzugrenzen und somit die Figuren über einen schichtspezifischen Sprachgebrauch zu charakterisieren. Es ist allerdings schlicht unmöglich, für das chilenische Adjektiv „fome“ (span. „aburrido“) oder das Adverb „al tiro“ (span. „enseguida“) Gegenstücke im Deutschen zu finden, die die Abweichung von der Hochsprache markieren. Der Übersetzer lässt eine Unterscheidung sicher nicht aus Unkenntnis, sondern wegen der nicht signifikanten Bedeutungsverschiebung unter den Tisch fallen. So verzichtet Zurbrüggen auch fast ausnahmslos auf eine Reproduktion der Figurenporträts über Sprache, wodurch die Erzählung aus dem spezifisch chilenischen Zusammenhang herausgehoben wird. Im Ausgangstext auffällig ist die für das Chilenische typische Verschleifung bei Verben in der 2. Person Singular (z.B. „estaí“ statt „estás“), insbesondere dann, wenn im Text kurz auf die Wiedergabe einer chilenischen Verbform zur Unterstreichung des Unterschieds dasselbe Verb in korrekt standardsprachlich konjugierter Form folgt. Bei seiner ersten Begegnung mit Beatriz, so berichtet Mario stolz, habe er sie gefragt, wie sie heiße. Dies wiederholt er in direkter Rede („¿Cómo te llamái?“). Neruda resümiert kurz darauf: „Le preguntaste ‚cómo te llamas’.“ („Du hast sie gefragt, wie heißt du?“). Die Lösungsmöglichkeiten im Deutschen sind nicht ganz befriedigend und beleuchten das Dilemma, vor dem der Übersetzer hier steht. Zwar ist es möglich, die standardsprachliche Frage „Wie heißt du denn?“ zu verkürzen, was in gesprochener Sprache durchaus gängig ist und den Unterschied zwischen Marios konzeptioneller Mündlichkeit gegenüber Nerudas konzeptioneller Schriftlichkeit hervorheben würde (z.B. „Wie heißt’n du?“), doch sähe das Schriftbild einer solchen Maßnahme etwas befremdlich aus. An anderer Stelle findet Zurbrüggen eine gangbare Lösung, um die Verschleifung kenntlich zu machen. Denn auch der Dichter selbst neigt ausnahmsweise zu Verkürzungen („El Premio Nobel de Literatura, mijo“ statt „mi hijo“), worin sich weniger eine sprachliche Nachlässigkeit Nerudas als vielmehr seine Zuneigung zu Mario ausdrückt. Diese wird in der Übersetzung hinreichend wiedergegeben: „De[r] Nobelpreis für Literatur, mein Junge.“ Ausgesprochen gelungen ist die Differenzierung des Registers bei Beatriz’ Verwendung des Verbes „mirar“, das sie nicht hochsprachlich konjugiert („¿Qué mirái?“ statt „¿Qué miras?“). In der Übersetzung wird ein Verb der Umgangssprache verwendet („Was gaffst du mich an?“).
Eine weitere Problematik, die Zurbrüggen konsequent löst, ergibt sich beim chilenischen Füllwort „pó“ bzw. „pú’“ für span. „pués“, wie es im Roman verschriftlicht ist. Im Chilenischen steht diese Partikel zur emotionalen Betonung meist am Ende eines Satzes. In Wörterbüchern vorhandene Übersetzungsvorschläge für „pués“ sind u.a. „ja“, „denn“, „doch“, „eben“, „dann“, „also“ und „halt“, die sich je nach Kontext und wegen des Ausrufcharakters von „pó“ nicht immer anbieten. Zurbrüggen verwendet stets denselben Zusatz, um Marios vergleichsweise begrenztes Ausdrucksvermögen zu markieren und von dem Nerudas abzusetzen: „Qué hace tu padre? – Pescador, pu’“ („‚Was ist dein Vater?‘ ‚Fischer natürlich.‘‘) „‚Qué es lo que quieres decir‘ – ‚[…] Que está lloviendo, pu!‘“ („‚[W]as willst du dann damit sagen?‘ ‚[…] Daß es regnet natürlich.‘“).
Für jeden Übersetzer ist die Übersetzung von Sprichwörtern und Redensarten, von Phraseologie also, besonders schwierig. In Skármetas Text spielen sie eine wichtige Rolle, da die spätere Schwiegermutter des Briefträgers „Doña Rosa viuda de González“ Phraseologismen pointiert als Abwehrmechanismus gegen die Metaphern – und Vergleiche – des Dichters einsetzt. In Ausnahmefällen ist die Übersetzung etwas befremdlich, etwa wenn Doña Rosa auf die Ankündigung der anstehenden Hochzeit ihrer Tochter mit dem Briefträger mit dem lakonischen Schlagreim „A lo hecho, pecho“ reagiert. Im Deutschen findet Zurbrüggen zwar eine gute Entsprechung zu dem Sprichwort, versieht diese aber mit einer überflüssigen Ergänzung: „Passiert ist passiert. Geschehenes kann nun mal nicht rückgängig gemacht werden.“ Allerdings lassen sich viele Gegenbeispiele finden, die einen versierten Umgang mit der Phraseologie illustrieren – beispielsweise als Neruda sein Erstaunen über den Brief von Doña Rosa, den er Mario vorlesen soll, mit einer festen stehenden Wendung zum Ausdruck bringt: „Aquí hay gato encerrado“. Die wörtliche Übersetzung würde lauten: „Hier ist die Katze eingesperrt.“ Zwar gibt es im Deutschen dem übertragenen Wortsinn entsprechende Ausdrücke wie „Hier ist etwas faul“ oder „Da stimmt etwas nicht.“ Der Übersetzer übernimmt hingegen das zentrale Substantiv der im Sprichwort enthaltenen Situation des spanischen Ausdrucks und gebraucht ein anderes gut passendes deutsches Sprichwort: „Lässt der Kater etwa das Mausen nicht“. Schließlich ergänzt Zurbrüggen ein im Originaltext verkürzt wiedergegebenes, nur im Spanischen vorhandenes Sprichwort, damit es vom deutschsprachigen Lesepublikum verstanden wird. Auf Marios euphorische Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises an Neruda („Wir haben gewonnen!“) erwidert die negativ überzeichnete Schwiegermutter, die stets beflissen Sprichwörter bemüht: „Wir pflügen, sagte die Fliege auf dem Rücken des Ochsen.“ Im Original heißt es hingegen nur: „Vamos arando dijo la mosca“. Der ansonsten übliche Zusatz „dijo la mosca en el cacho del buey“ wird vom Autor ausgespart, da bereits der Anfang des Satzes für ein spanischsprachiges Publikum ausreicht, um das bekannte Sprichwort im Geist zu ergänzen. Zurbrüggen fügt passenderweise den zweiten Teil hinzu, damit die Leser Doña Rosas Zynismus über Marios unbotmäßige Inanspruchnahme Nerudas nachvollziehen können.
Zurbrüggen arbeitet gewissenhaft, indem er sich nötige Freiheiten bei möglichster Nähe zugesteht und an den jeweiligen Textstellen entsprechende Entscheidungen trifft. An mehreren Stellen geht in der Übersetzung der bedeutungsrelevante Aspekt der Sprachvarietät verloren, da dieser im Deutschen nicht nachzubilden ist. Jedoch verwendet Zurbrüggen gute Strategien, um das Register der Sprecher zu verdeutlichen, etwa die einheitliche Übersetzung der Partikel „pú“ und die Verwendung informeller Formulierungen. Bei einigen Passagen – und bei welcher Übersetzung wäre das nicht der Fall? – erhält das spanischkundige Lesepublikum bei einem Blick ins Original zusätzliche Informationen zum Register, das von Skármeta als Stilmittel zur Unterscheidung des Sprachgestus’ seiner Figuren verwendet wird. Insgesamt ist das Buch in der Übersetzung zu empfehlen, da man hier ebenso wie im Ausgangstext zahlreiche landeskundliche Hintergrundinformationen über Chile während einer politisch höchst brisanten Umbruchphase erhält und gleichzeitig Skármetas an Neruda orientierte Sprachverwendung in ansprechender Weise nachvollziehen kann.
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Antonio Skármeta: Mit brennender Geduld, übersetzt von Willi Zurbrüggen, München: Piper 2010, 149 Seiten, 7,95 €
Antonio Skármeta: Ardiente paciencia (El cartero de Neruda), Ditzingen: Reclam 2006, 207 Seiten, 5,00 €
Antonio Skármeta, geb. 1940 in Antofagasta, Chile, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Die erste Verfilmung seines Buches Ardiente paciencia im selben Jahr der Veröffentlichung fand unter seiner Regie statt. Bis zu seiner Emigration 1975, die ihn für mehrere Jahre nach Deutschland führte, war er als Dozent für Literatur an der Universidad de Chile in Santiago tätig. 1989 kehrte er in sein Heimatland zurück und hielt sich anschließend nochmals im Zuge seines Amtes als Botschafter für Chile von 2000 bis 2003 in Berlin auf.
Willi Zurbrüggen, geb. 1949 in Borghorst, absolvierte eine Übersetzerausbildung am Englischen Institut in Heidelberg. Seit 1982 arbeitet er als freier Übersetzer und lebt nach mehrjährigen Aufenthalten in Mexiko und Mittelamerika in Heidelberg. Er erhielt diverse Preise, u.a. den Übersetzerpreis des Spanischen Kulturministeriums, den Literaturpreis der Stadt Stuttgart und den Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft in Bonn.
Nils Bernstein, geb. 1979, DAAD-Lektor an der Universidad Nacional Autónoma de México UNAM in Mexiko-Stadt, promovierte an der Universität Wuppertal mit einer Arbeit über Phraseologismen in moderner Lyrik am Beispiel von Nicanor Parra und Ernst Jandl. 2006/2007 war er DAAD-Sprachassistent an der Universidad de Chile in Santiago.
[1] Erich Arendts Übersetzung der Ode an das Salz wurde zitiert aus: Pablo Neruda: Das lyrische Werk. Bd. II. Hg. von Karsten Garscha, übers. von Erich Arendt. Darmstadt: Luchterhand 1985, hier S. 883.