Im Oktober letzten Jahres trat Peter Englund, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, vor die internationale Presse und teilte in knappen Worten mit, in diesem Jahr werde Herta Müller mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa zeichne Herta Müller die Landschaft der Heimatlosigkeit.
Verliehen wird der Preis demjenigen, der, so heißt es in Alfred Nobels Testament, „der Menschheit den größten Nutzen geleistet“ und „das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat“[1]. Für Schriftsteller ist der Literaturnobelpreis zweifelsohne die Krönung ihrer Karriere, für Kulturnationen das höchste Statussymbol. Es stellt sich aber die Frage: Auf welchem Text gründet dieses Urteil – auf dem Original, auf der Übersetzung? Oder, anders gesagt: Welche Rolle spielt die literarische Übersetzung bei der Nominierung des Nobelpreisträgers?
Den knappen Worten des ständigen Sekretärs geht ein langer Auswahlprozess voraus, in dem der literarischen Übersetzung eine Schlüsselrolle zukommt – von der Öffentlichkeit und der Literaturkritik so gut wie unbemerkt. Zunächst bittet das Nobelkomitee Experten und Schriftsteller um Vorschläge für zukünftige Preisträger. Daraufhin werden alle eintreffenden Namen sondiert, und in den folgenden Monaten schrumpft die Liste der in Frage kommenden Preisträger von ungefähr 350 auf fünf Kandidaten. Den Sommer verbringen die Mitglieder der Akademie – achtzehn schwedische Schriftsteller, Historiker, Literatur- und Sprachwissenschaftler – mit den Werken der ausgewählten Autoren und machen sich mit diesen vertraut, sofern sie dies nicht schon in den Jahren zuvor getan haben. Denn von der ersten Nominierung bis zur Verleihung des Preises vergehen in der Regel viele Jahre. Nach dem Sommer kehren die Mitglieder ins alte Börsenhaus, den Sitz der Schwedischen Akademie, zurück und fassen aufgrund ihrer Lektüre und eventueller Gutachten den Beschluss, an wen der Preis verliehen wird.
Bei der Wahl von neuen Mitgliedern in die Schwedische Akademie wird Wert auf solide Fremdsprachenkenntnisse gelegt – auch wenn diese keine Voraussetzung sind. Auf der Internetseite der Akademie erfährt man allerdings, dass die Akademiemitglieder hauptsächlich die ‚großen‘ europäischen Sprachen beherrschen: nämlich neben Englisch, Französisch und Deutsch alle skandinavischen Sprachen; hinzu kommen die chinesischen Sprachkenntnisse des Sinologen Göran Malmqvist. Grundkenntnisse in Russisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch gibt es ebenso. Andere Sprachen betreffend bilden sich die Mitglieder ihre Meinung aufgrund von Übersetzungen, und in diesem Zusammenhang heißt es auf der Internetseite „mit allen Nachteilen, die dies mit sich bringt“[2]. Da man sich der möglichen Unterschiede zwischen Ausgangstext und Zieltext bewusst ist, werden zudem Gutachten von Sachverständigen eingeholt und bis zu 300-seitige Übersetzungsproben in Auftrag gegeben. Sie werden unter Eid angefertigt und sind lediglich für den internen Gebrauch bestimmt. Diese werden aber nur dann eingeholt, wenn es keine bereits vorhandenen Übersetzungen ins Schwedische, Englische, Deutsche und Französische gibt. Man könnte vermuten, dass Autoren, die in Sprachen schreiben, die den Mitgliedern nicht zugänglich sind, eine geringere Aussicht auf den Preis haben. Und in der Tat: Nach Aussage des Schriftstellers und Akademiemitglieds Per Wästberg haben natürlich Autoren, deren Werke auf Schwedisch oder in einer der großen Sprachen vorliegen, einen „Vorsprung“. Zu bedenken sei aber, dass alle erstklassigen Schriftsteller, die in Sprachen schreiben, die für die Mitglieder der Akademie unzugänglich sind, in die großen Sprachen übersetzt seien. In den letzten Jahren trifft dies auf Imre Kertész und Orhan Pamuk zu, denen die Mitglieder ausgehend von den Übersetzungen den Preis zusprachen.
Dass der Preis ein okzidentaler Preis sei und allzu häufig der Laureat in einer der großen europäischen Sprachen schreibe, ist eine immer wieder geäußerte Kritik. Eine seltene Ausnahme ist Gao Xingjian, der Preisträger aus dem Jahr 2000, dessen Werk beispielsweise zum größten Teil erst nach der Verleihung in den USA zu erhalten war. Sein Übersetzer ist aber auch Mitglied der Akademie – Spekulationen über von wirtschaftlichen Interessen getriebene Machenschaften gab es zuhauf. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Gao Xingjian noch eine Woche vor der Bekanntgabe des Preisträgers 2000 schnell den schwedischen Verleger wechselte.[3]
Mit Herta Müllers Werk hat sich die Akademie sowohl auf Deutsch als auch in der schwedischen Übersetzung auseinandergesetzt. Karin Löfdahl, ihre „herausragende Übersetzerin“ (Per Wästberg), übersetzte seit der Bekanntgabe unter noch größerem Druck als in der Branche üblich das letzte Werk, Atemschaukel, damit es pünktlich zur Preisverleihung am 10. Dezember auf den Büchertischen der Buchhandlungen liegen konnte. Außer der gewöhnlichen finanziellen Beteiligung am Verkaufspreis dürfte sich für Löfdahl die Auszeichnung Müllers leider nicht besonders rentieren. Aber immerhin darf sie an Ruhm und Ehre teilhaben, die Herta Müller in Stockholm erfährt. Am Tag nach dem Nobelbankett, zu dem sie eine der heißbegehrten Einladungen bekam, schwärmte sie von dem Interesse, das ihrer Arbeit entgegengebracht werde, und sagte: „Ich habe das Gefühl, als hätte ich selbst den Preis bekommen.“[4]
Die Verfasserin dankt Per Wästberg und Peter Englund von der Schwedischen Akademie für die freundlichen Auskünfte.
Christine Becker hat im Frühjahr 2005 den Diplomstudiengang Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf abgeschlossen. Seit 2006 ist sie Lektorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Stockholm, Schweden.
[1] http://nobelprize.org/alfred_nobel/will/testamente.html (21.06.2010)
[2] http://www.svenskaakademien.se/web/Nomineringar_och_utlatanden.aspx (21.06.2010)
[3] http://www.taipeitimes.com/News/feat/archives/2001/02/01/71918 (21.06.2010)
[4] http://www.dn.se/dnbok/karin-lofdahl-herta-muller-wahlstrom-widstrand-1.970299 (21.06.2010)