Wie beschreibt man die Vorfreude eines Vaters, der seinen einzigen Sohn seit Monaten nicht gesehen hat und geschlagene fünf Stunden auf dessen Ankunft wartet? Während man heutzutage vielleicht einen nervösen und über die Zustände der öffentlichen Verkehrsmittel verärgerten Mann vor Augen hätte, wartet im Jahre 1859 Nikolai Petrowitsch Kirsanow hingebungsvoll und geduldig darauf, den aus dem fernen St. Petersburg anreisenden Studenten endlich in die Arme zu schließen. Der Leser hingegen muss sich nicht so lange gedulden und lernt schon bald den sehnsuchtsvoll erwarteten Arkadi Kirsanow und dessen Studienfreund Jewgeni Wassiljitsch Basarow kennen, die staubbedeckt aus der Kutsche steigen.
So nimmt der Roman Väter und Söhne seinen Anfang. Der Leser wird mitgenommen auf Arkadis und Basarows Reise durch die provinziellen Landschaften Russlands, die nicht nur zu ihren Familien führt, sondern auch ein Stück in die Vergangenheit, dorthin, wo man sich gleichzeitig heimisch und fremd fühlt: „…ein wenig befangen, so befangen, wie es ein junger Mann eben ist, der gerade die Kindheit hinter sich gelassen hat und an den Ort zurückkehrt, wo man ihn aus alter Gewohnheit wie ein Kind betrachtet und behandelt“.
Verband die Freunde das gemeinsam erlebte Studium, zeigt jedoch schon der Besuch bei Arkadis Eltern, wie problematisch sich das Miteinander verschiedener, aber auch gleicher Generationen gestalten kann, nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Weltanschauungen. Während Arkadi, in Basarows Augen ein „Romantiker“, weitestgehend Neutralität bewahrt, hält der erklärte Nihilist und Mediziner Basarow mit seinen Ansichten nicht hinter dem Berg und macht sich in manch hitziger Diskussion, im Besonderen mit Arkadis Onkel Pawel Petrowitsch, recht unbeliebt. Kein Prinzip ist ihm heilig, er schätzt weder Kunst noch Gefühle, nicht einmal die aufopferungsvolle Liebe seiner Eltern. Im Gegensatz zu Arkadi scheint er von allem losgelöst, geht seinen Weg allein und strebt nach großen, neuen Taten.
Personifiziert durch Pawel Petrowitsch und Basarow stehen sich nicht nur zwei Generationen, sondern auch Vertreter der alten Adelsordnung und eines „neuen“ russischen Menschen gegenüber. Mit Jewgeni Basarow hat Turgenjew eine starke, revolutionäre Persönlichkeit erschaffen, die bis heute als die Inkarnation eines ‚Nihilisten‘ gilt. Doch ist diese Figur ebenso stark wie tragisch und ihr Schicksal vermag dennoch zu Tränen zu rühren: Basarow scheitert an zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem an der unerwiderten Liebe zu Anna Odinzowa. Er widmet sich intensiv seiner Arbeit als Mediziner, aber eben diese Naturwissenschaft ist es, die ihn durch eine scheinbare Banalität das Leben kostet.
Die Frage nach Werten und Normen, nach neuer und alter Ordnung, nach dem Mit- oder Gegeneinander von Generationen und nach dem Verhältnis von „Vätern“ und „Söhnen“, ob im familiären oder politischen Bereich, stellt sich bis heute. Turgenjew nimmt uns mit auf eine Reise durch kleine russische Ortschaften, Familiengenerationen, verschiedene Lebensgeschichten und Lebensumstände, die so vielschichtig sind wie die Sprache, die sie beschreibt. So entsteht ein Stück Weltliteratur, das nie an Aktualität verliert. Die Neuübersetzung dieses Klassikers beweist, wie viel filigrane Arbeit es erfordert, ein solches Werk zu übertragen.
Mühelos kann man in der Übersetzung von Annelore Nitschke dem Fluss der Sätze folgen, die häufig zeilenlang das Auge des „Betrachters“ über eine frühlingshafte Landschaft, einen Wohnraum oder eine genauestens beschriebene Person schweifen lassen, ohne über die Syntax zu stolpern oder sich in komplexen Erklärungen zu verlieren.
Vor allem die verschiedenen Sprachstile, die sich je nach Person und nach Herkunft deutlich unterscheiden, stellen eine übersetzerische Herausforderung dar. Schmeichelt im Russischen ein Diminutiv dem Ohr, würde dies in der deutschen Übersetzung auf Dauer womöglich zu lieblich klingen. Die genaue ‚Dosierung‘ der Verkleinerungsformen im gesamten Text gelingt der Übersetzerin ohne Einbußen, wenn sie beispielsweise statt „Väterchen“ für „папаша“ das gängige „Papa“ wählt, der sich aber wiederum „auf ein Bänkchen“ (сел на скамеечку) setzt.
Bewahren Basarow und Pawel Petrowitsch in ihren Gesprächen anfänglich einen Rest sprachlicher Contenance, werden ihre Argumente im Verlauf der Debatte immer persönlicher. Während Pawel Petrowitsch im Kontext der entbrannten Grundsatzdiskussion den Nihilisten Basarow als „Mißstandsentlarver“ und „Schwätzer“ bezeichnet, stellt letzterer das Wort „дрянь“ auf eine Stufe mit „Aristokrat“. Das grobe „дрянь“, das etwas Unwürdiges oder Dreck bezeichnet, übersetzt Annelore Nitschke mit „Luftikus“ und geht somit auf eine andere Ebene. „Luftikus“ lässt die offenkundige Missachtung zurückhaltend erscheinen und reflektiert nicht die Grundidee des Nihilisten, der die Aristokratie als unbrauchbar und abschaffungswürdig ansieht.
Jene Stellen, an denen im Original eine Fremdsprache gesprochen wird, beispielsweise Französisch, Englisch oder Deutsch, bleiben in der Übersetzung in der jeweiligen Sprache erhalten. Schade ist jedoch, dass im Deutschen eine Besonderheit in der Ausdrucksweise von Basarows Vater verlorengeht: Turgenjew macht deutlich, dass dieser Mann einiger Fremdsprachen mächtig ist, diese aber gelegentlich auf eigene Weise oder mit starkem russischen Akzent ausspricht, indem er den Wortlaut der Fremdsprache mit kyrillischen Buchstaben ‚transkribiert‘, ohne die korrekte lateinische Schreibweise zu verwenden. Die Übersetzerin greift hier zur jeweiligen Originalsprache, ohne die Lautung im Deutschen zu imitieren. So bleibt dem Leser der Witz eines „анаматёр“ für „en amateur“ oder „оммфе“ für „homme fait“ leider vorenthalten, die womöglich „onamatör“ und „ommfe“ lauten könnten.
Das Lokalkolorit und die Ländlichkeit, die sich besonders durch Sprichwörter und urig-derbe Sprüche in der Sprache von Basarows Vater zeigen, finden im Deutschen dafür stets ein passendes Äquivalent. Besonders gelungen ist die Übertragung des Sprichwortes „на нет и суда нет“ durch „Wo nichts ist, hat auch der Zar sein Recht verloren“. Hier hat die Übersetzerin das deutsche Sprichwort zusätzlich russifiziert, indem sie „Kaiser“ gegen „Zar“ tauscht.
Wo es Basarows Vater an Derbheit nicht mangelt, übertreibt Turgenjew ebenso die Sachlichkeit von Pawel Petrowitsch, wenn er ihm Worte in den Mund legt, die speziell verfremdet und somit besonders gebildet klingen sollen. In das übliche „этим“ für „damit“ beispielsweise wird elegant ein zusätzlicher Konsonant eingefügt: „эфтим“ ist hervorragend mit „darmit“ übertragen.
Das Original arbeitet mit Fußnoten, in denen jeder fremdsprachliche Ausdruck ausnahmslos ins Russische übersetzt wird. Die Übersetzerin ist hier nicht an allen Stellen dem russischen Vorbild gefolgt und hat Ausdrücke wie beispielsweise „bon soir“ als allgemein verständlich vorausgesetzt. Eine Entscheidung, die den Lesefluss erleichtert, da der Leser nicht mit unnötigen Informationen überhäuft wird. Nur Wortbedeutungen aus dem Russischen und Französischen, die für das Verständnis des Textes wichtig sind, werden erklärt und durch einige Anmerkungen zu Persönlichkeiten oder Ereignissen ergänzt. Da diese jedoch präzise und sparsam platziert sind, bieten sie dem Leser einen informativen Mehrwert und einen Blick auf Details, die möglicherweise beim Lesen überflogen würden.
Generationen im Mit- und Gegeneinander, Generationen von Übersetzern und Lesern. Seit der ersten Übertragung von Väter und Söhne aus dem Jahre 1869 haben zahlreiche Übersetzer am kulturellen Dialog zwischen diesem Werk und dem Leser gearbeitet. Eine Neuübersetzung muss nicht den Wunsch hegen, es ‚besser‘ machen zu wollen als der Vorgänger. Vielmehr unterliegt auch die sprachliche und kulturelle Vermittlung einem Wandel, so dass Werke, deren Themen so aktuell sind wie die in Turgenjews Väter und Söhne, auch über Generationen zu neuen Dialogen mit den Lesern führen. Annelore Nitschkes Neuübersetzung überzeugt in diesem Dialog durch die Leichtigkeit der Treue zum Original, indem sie den Fluss der Sprache, die sprachlichen Besonderheiten und Charakteristika feinsinnig und zeitgemäß wiedergibt.
Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne, aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke, Mannheim: Artemis & Winkler 2008, 309 Seiten, 39,90 €
Iwan S. Turgenjew: Otzy i deti (Отцы и дети: роман, повести, рассказы, стихотворения в прозе), Moskau: Eksmo 2009, 640 Seiten, 9,90 €, daraus S. 5-170
Iwan Sergejewitsch Turgenjew wurde 1818 auf dem Gut Spasskoje/Orel geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und Mitbegründer des russischen Realismus. Das Hauptanliegen Turgenjews war die Darstellung der Gegenwartsprobleme in der russischen Gesellschaft, wie er sie bereits in jungen Jahren auf dem Hof seines adeligen Vaters beobachten konnte. Sein Sichtfeld ging aber über Russland hinaus, ab 1856 lebte er in Deutschland und Frankreich. Bis heute kann er als wichtiger Kulturvermittler für Ost und West gesehen werden. Sein Werk umfasst romantische Gedichte und Verspoeme, Dramen, Novellen, Romane sowie literaturkritische und publizistische Abhandlungen. Bereits mit der ersten Veröffentlichung, dem Erzählband Записки охотника (Aufzeichnungen eines Jägers, 1852), gewann Turgenjew eine breite Leserschaft. Zu seinen bedeutendsten Romanen gehören Накануне (Am Vorabend, 1860), Дым (Dunst, 1867) und Отцы и дети (Väter und Söhne, 1862).
Annelore Nitschke wurde 1944 in Bernburg an der Saale geboren. Sie übersetzt seit dreißig Jahren literarische Prosa sowie Sachtexte aus den Bereichen Kunst und Kultur aus dem Russischen. Sie studierte Germanistik und Slawistik und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin für eine Vielzahl namhafter Verlage. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u. a. Boris Chasanow, Alexander Ikonnikov, Boris Falkow, Ilya Kabakov, Pavel Pepperštejn und Vladimir Tendrjakow. Zusammen mit Boris Chasanow erhielt sie 1998 den Preis Literatur im Exil der Stadt Heidelberg. Zuletzt erschien in Zusammenarbeit mit Barbara Conrad ihre Neuübersetzung der Volkserzählungen von Tolstoi.
Marina Alexandrova studiert derzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im 9. Semester Literaturübersetzen mit den Sprachen Englisch und Französisch. 2008 schloss sie das Studium der Musik an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf ab. Sie ist als Orchestermusikerin und Pädagogin für Violine tätig.