„,Wann verstehst du einen Menschen? Du mußt ihn mitmachen.‘ Mit-machen! Das ist das große Geheimnis, Ulrich! Du mußt sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus!“
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Dass man den Übersetzer dazubittet, wenn man über das Werk eines Autors zu Tisch sitzt[*], sollte nichts Ungewöhnliches sein, zumindest dort nicht, wo statt des Originals die Übersetzung serviert wird – ein Fall, der keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel bildet, immer dann nämlich, wenn weltliterarische Kostproben auf der Karte stehen, Bücher also, die um die Welt gehen und überwiegend nicht in der einen originalen Sprache ihrer Autoren, sondern in den vielen Sprachen ihrer Übersetzer rezipiert werden. Dennoch ist der Übersetzer ein seltener Gast bei solchen Veranstaltungen, häufig genug nur Zaungast, der mit gemischten Gefühlen vom Publikum aus verfolgt, wie ein Schauspieler einen Text liest, für den er, der Schauspieler, und, falls zugegen, der Autor Applaus erhält, nicht aber der, der ihn de facto geschrieben hat, der Übersetzer, der mit etwas Glück immerhin so Erwähnung findet, wie im Hochgeschwindigkeitsabspann eines Hollywoodfilms das Double von Hauptdarsteller oder Hauptdarstellerin.
Den Übersetzer als Autor einer anderssprachlichen Version literarischer Werke dazubitten – wo würde das auch hinführen? Nun, es führt geradewegs an einen Ort, den viele vielleicht noch aus den Lektüren ihrer Kindheit kennen: in ein Land, das nicht sein darf. Weil nicht sein kann, dass zweimal da ist, was doch als literarischer Text einmalig sein soll. In genau dieser Widersprüchlichkeit aber arbeiten Übersetzer und ringen ihr stets dasselbe noch einmal anders ab. Denn solange das vorbabylonische Lummerland nicht wieder aus den Fluten der Sprachverwirrung auftaucht, werden zum Beispiel nichtspanischsprachige Leser überall auf der Welt Reisen wie die zum „Planeten Bolaño“ unternehmen und in einem Paralleluniversum landen, über das wenig oder nichts bekannt ist.
Ich möchte versuchen, vor dem Hintergrund meiner Übersetzung von Bolaños Roman 2666 ein wenig Licht in diesen apokryphen Teil der Literatur zu bringen. Allerdings würde ich mich um den paradoxen Kern allen Übersetzens herumdrücken, wenn ich dazu einfach auf die objektiven, sicht- und messbaren Spuren jener anderen Welt verweisen würde. Wenn ich also zum Beispiel erzählte, dass ich fast drei Jahre mit der Arbeit an der Übersetzung von 2666 beschäftigt war, dass ich mich schwindlig recherchiert habe, um der militärhistorischen Akribie des Autors gerecht zu werden, um landeskundliche Details in Erfahrung zu bringen, über die spätere Leser in Sekundenbruchteilen hinweggehen würden, um zahlreiche satz- bis seitenlange Passagen aufzuspüren, die Bolaño aus obskuren, bis zu tausendseitigen, oft selbst schon übersetzten Büchern abzuschreiben so frei war. Alles das und Ähnliches mehr macht einen nicht unerheblichen Teil des Übersetzens aus, beleuchtet aber eher dessen handwerkliche Seite und eignet sich bestenfalls für Anekdoten. Anekdoten, die sich beispielsweise so anhören würden: Für Stellen aus Wolfram von Eschenbachs Parzival, die Bolaño nach einer spanischen Übersetzung mit hohem Merkwürdigkeits- und geringem Wiedererkennungswert zitiert und die ich schlecht ins Deutsche zurückübersetzen konnte, wo sie jedem Kenner spanisch vorkommen müssten, habe ich den mittelhochdeutschen Roman und die einschlägigen Kommentare durchforstet, bin Übersetzern und Mediävisten auf die Nerven gegangen und habe am Ende einen Cocktail aus Parzival und Willehalm (dem zweiten großen Roman des Autors) vorsichtig gerührt (nicht geschüttelt), der Bolaños Wolfram am nächsten kam.
Aber ich wollte ja nicht über handwerkliche Dinge sprechen, sondern über die gewissermaßen metaphysische Seite des Übersetzens, seine immanente Widersprüchlichkeit. Eine, die ich selten eindrücklicher formuliert gefunden habe als bei dem Mann, dem wir unser weniges Wissen über Tlön verdanken, das vielleicht berühmteste „Land, das nicht sein darf“ der neueren Literaturgeschichte – Jorge Luis Borges. In einer seiner Erzählungen lesen wir von dem furchtlosen Vorhaben eines französischen Schriftstellers, der es im Jahr 1934 unternimmt, Cervantes’ Quijote von 1605 f. noch einmal neu zu schreiben – nicht abzuschreiben, sondern noch einmal neu zu schreiben, und zwar, wie es heißt, „Wort für Wort und Zeile für Zeile“ identisch mit dem Original. Wir lesen dort:
„Mein konzilianter Vorgänger erteilte der Mitarbeit des Zufalls keinen Korb; er schrieb das unsterbliche Werk ein bißchen à la diable, wobei es zu Pannen im Sprachstil und in der Erfindung kam. Ich habe die geheimnisvolle Pflicht übernommen, sein spontanes Werk Wort für Wort zu rekonstruieren. Mein einsames Spiel wird von zwei polaren Gesetzen beherrscht. Das erste erlaubt mir, Varianten formaler und psychologischer Art auszuprobieren; das zweite nötigt mich, sie dem Originaltext aufzuopfern und diese Tilgung auf unwiderlegliche Art rational zu begründen.“[1]
Sie haben es erkannt, hier spricht Pierre Menard, Autor des Quijote (mit der deutschen Stimme von Gisbert Haefs). Was auf den ersten Blick als literaturgeschichtlicher Ausnahmezustand irritiert, wird als paradoxer Normalzustand erkennbar, wenn wir die Erzählung als das lesen, was sie, gewollt oder ungewollt, auch ist: eine parabelhafte, aber ziemlich treffende Beschreibung dessen, was jede literarische Übersetzung zu leisten hat. Wie Pierre Menard soll auch der Übersetzer für jedes „willkürliche“ Wort im Werk eines Autors den einzig möglichen und absolut notwendigen Ersatz in seiner Sprache schaffen, also dasselbe noch einmal anders. „Mein Unternehmen ist im Grunde nicht schwierig“, schreibt Menard ganz entspannt an den Erzähler. „Ich brauchte nur unsterblich zu sein, um es zu vollenden“[2]. Da Verlage ihren Übersetzern in der Regel knappere Termine setzen, müssen sie eine Abkürzung finden, und die geht so: Dem Schauspieler vergleichbar, der für die Person, die er verkörpern soll, zunächst die innere Haltung finden muss, die jede seiner körperlichen und sprachlichen Äußerungen glaubwürdig und selbstverständlich erscheinen lässt, kann auch der Übersetzer den Originaltext nicht einfach nachmachen oder mitmachen, sondern muss ihn sich in einem emphatischen Sinne zu eigen machen. Oder um die kreative Gewaltenteilung zwischen Autor und Übersetzer auf eine griffige Formel zu bringen: Der Autor erfindet einen Text, der Übersetzer erfindet einen Autor.
Natürlich ist das Erfinden eines Autors nicht frei erfunden, keine creatio ex nihilo – genauso wenig übrigens wie das Erfinden eines literarischen Textes. In beiden Fällen ist das Erfinden eingebettet in einen Prozess des Findens. Und in beiden Fällen liegt zwischen dem Finden und dem Erfinden das, was man gemeinhin die künstlerische Qualität eines Werkes nennt, sein unerschöpflicher Sinn. Dieser erste Schritt auf dem Weg jeder Übersetzung, die Erfindung des Autors, war auch der Schlüssel zur Lösung eines Missverständnisses, das am Anfang meiner Beschäftigung mit Bolaños Texten stand. Ein Missverständnis, mit dem ich durchaus nicht allein dastehe. Erst kürzlich schrieb Alberto Manguel in seiner Rezension der englischen Übersetzung von Bolaños Die Naziliteratur in Amerika: „It is not enough to invent a character and lend it a name and a bibliography and a few circumstantial details; something must justify its existence on the page, which otherwise risks resembling an annotated phonebook“.[3] Das Schöne an Manguels Polemik ist, dass sie offen ausspricht, was vielleicht gar nicht so wenige denken, aber niemand sich zu sagen traut. Und dass sie mir aus dem Herzen spricht. Aus dem Herzen nämlich, mit dem ich mich vor jetzt zwölf Jahren hingesetzt und meine erste Seite Bolaño übersetzt habe. Eigentlich hatte ich damals – theoretisch – längst Abschied genommen vom klassischen Konzept einer Literatur im Namen der Einheit des Werkes und des Autors und der Heiligen Inspiration, Amen. Als ich aber praktisch mit einem solchermaßen „gottlosen“ Schreiben konfrontiert war und es in eigene Worte fassen wollte, ging es mir wie Manguel: Ich sah mich mit meiner uneingestandenen Erwartung, dass Literatur, vereinfacht gesprochen, formal und „inhaltlich“ nachvollziehbar machen soll, wovon sie spricht, vor den Kopf gestoßen. Vergeblich suchte ich in der Sprache von Stern in der Ferne, meiner ersten Bolaño-Übersetzung, nach dem sprachpoetischen Mehrwert; was ich fand, kam mir vor wie vergleichsweise nachlässige Gebrauchsprosa. Ich folgte gebannt den Worten des Erzählers und wollte die behauptete Amoralität des folternden Luftpoeten Carlos Wieder alias Ruiz Tagle glauben können, fühlte mich jedoch mit Lippenbekenntnissen abgespeist. Ich ärgerte mich über Bolaños Personendarstellungen mit ungefähr den gleichen Worten, mit denen Manguel die Charakterisierung eines (fiktiven) Schriftstellers in der Naziliteratur aufs Korn nimmt: „No example of this ‚abrasive, caustic, embittered prose‘ is given, so the reader must take the impassioned adjectives on trust. In fact, no illustrative ‚quotations‘ are given at all.“
Die Literatur, die Alberto Manguel vorzuschweben scheint, eine Beispiel-Literatur, eine „Das-ist-wie“-Literatur, eine illustrierte Literatur, das habe ich damals bald begriffen, sucht man bei Bolaño tatsächlich vergebens. Wer dergleichen nicht erwartet, entdeckt einen Autor, der, wie Manguel richtig vermutet, ein kommentiertes Telefonbuch, von Blanes zum Beispiel, schreiben könnte, und zwar so, dass man mit Tränen in den Augen dasitzt und nicht weiß, wie einem geschieht. Bolaño entwirft sein literarisches Personal nicht als holographische Abziehbildchen, sondern als Figuren – in einigen Erzählungen maximal verknappt, zu Strichmännchen mit Buchstabenkennung A oder B anstelle von Namen, oder etwa im ersten Teil von 2666 als abstraktes, schematisch wirkendes Beziehungsgefüge, das im Reigen akademischer Symposien, Kolloquien und Konferenzen alle erdenklichen Konstellationen durchläuft. Für eine solche Schreibweise also, in der, wie der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar in seinem Roman Rayuela schrieb, „alles die Beschaffenheit einer Figur erreicht, wo alles als Zeichen gilt und nicht als Thema für eine Beschreibung“[4], musste ich einen Autor erfinden, der eine Sprache spricht, die nicht ständig mit dem Finger auf sich selbst zeigt, die geschmeidig und transparent genug ist für das, was ich salopp auch Bolaños „Daumenkinoprosa“ nennen könnte – weil auch hier erst ab einer gewissen Lese- bzw. Blättergeschwindigkeit die Bilder laufen lernen und Figuren bilden; einen Autor, der eine Sprache beherrscht, die die oft unmerklichen Transzendierungen vom Abstrakten ins Persönlichste, Verborgenste, Anrührendste ermöglicht, die nicht naturalistische, sondern assoziative Resonanzräume spannt; einen Autor schließlich, der in jenem höheren Sinn amoralisch operiert, wie es im griechischen Begriff epoché vorgezeichnet ist: durch Urteilsenthaltung.
Und so habe ich also einen Autor erfunden, der einen Text schreibt, der immer schon und noch nicht da zugleich ist. Ohne Anspruch darauf, das letzte Wort zu behalten: Denn anders als ein Autor seinen Text, können Übersetzer einen Autor immer wieder neu erfinden.
Roberto Bolaño wurde 1953 in Chile geboren. Nach Pinochets Militärputsch 1973 ging er zunächst ins mexikanische, dann ins spanische Exil. Dort hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bevor er von seiner Arbeit als Schriftsteller leben konnte. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, Die wilden Detektive u.a. mit dem Premio Rómulo Gallegos, 2666 u.a. mit dem Premio del Círculo de Críticos Nacional del Libro (National Book Critics Circle Award). Bolaño starb 2003 an einem Leberleiden, 2666 ist somit sein literarisches Vermächtnis.
Christian Hansen wurde 1962 in Köln geboren. Er studierte Literaturwissenschaft in Berlin und Paris. Seit 1996 ist er als Literaturübersetzer aus dem Französischen und Spanischen tätig. Hansen war Stipendiat der Berliner Übersetzerwerkstatt, des Deutschen Übersetzerfonds und des Deutschen Literaturfonds. Für seine Übersetzung des Romans 2666 von Roberto Bolaño wurde er 2009 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhält 2010 den Jane-Scatchered-Preis der Rowohlt Stiftung.
[*] Bei dem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 25. Februar 2010 im Rahmen eines Bolaño-Kolloquiums im Instituto Cervantes in Frankfurt am Main gehalten wurde.
[1] Jorge Luis Borges, Pierre Menard, Autor des Quijote, in: Ders., Gesammelte Werke, Erzählungen 1 (Fiktionen, 1944), München: Hanser, 1981, S. 119.
[2] Ders., dass., S. 118.
[3] The Guardian, 6.2.2010 (http://www.guardian.co.uk/books/2010/feb/06/roberto-bolano-nazi-literature-americas).
[4] Julio Cortázar, Rayuela. Himmel und Hölle, übersetzt von Fritz Rudolf Fries, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1981, S. 547.