Buchcover Der Autor ist tot. Lang lebe der Autor!
Caroline Sauter über Und dann gab's keinen mehr von Gilbert Adair, aus dem Englischen übersetzt von Jochen Schimmang

Wäre er nicht so intelligent und unterhaltsam, könnte Gilbert Adairs skurriler whodunnit gewisse nervige Tendenzen postmoderner Spielerei aufweisen. Evadne Mount, Adairs Hauptfigur[1], knallt ihm dies im Epilog gebündelt und fulminant, wie nur sie es kann, an den Kopf: „Despoten und Sexoten! ‚Schnauzbärtige Schnorrer!‘ Mein Gott, das ist so typisch für Sie! […] Sie zögern keinen Augenblick, den Rhythmus Ihrer Erzählung zu unterbrechen, damit man eine Ihrer belanglosen Metaphern bewundern kann! Für wen halten Sie sich?“ Und der Autor mault kleinlaut zurück: „Es waren keine Metaphern, es waren Alliterationen.“

Hat Evadne Mount –  „wie immer“, würde sie sagen –  recht? Wie in einem Kaleidoskop schüttelt Adairs Roman alle möglichen quietschbunten Steinchen durcheinander: literarische Genres, Anspielungen, Erzählebenen, Fußnoten, Parodien, Wortspiele, Realien und Zitate. Auf jeder Seite entstehen aus ihnen neue Konstellationen, verdrehen sich noch einmal und schon sieht das Bild wieder ganz anders aus. Heraus kommt schließlich ein schwindelerregend gutes Buch, das sich, unglaublich aber wahr, irgendwo zwischen Krimi und Poetologie bewegt. Und das nicht nur hervorragend übersetzt ist, sondern durch den Übersetzer Jochen Schimmang sogar noch um eine Komplexitätsstufe bereichert wird. Und dann gab’s keinen mehr ist tatsächlich noch besser als And then there was no one.

Und worum ‚geht‘ es in Adairs drittem Evadne-Mount-Krimi? Der britische Autor Gilbert Adair wird im Jahr 2011 eher unfreiwillig zum ersten Sherlock-Holmes-Festival im beschaulichen Schweizer Alpenort Meiringen, unweit der symbolträchtigen Reichenbachfälle[2], eingeladen.[1] Während der Lesung, bei der auch sein deutscher Übersetzer Jochen Schimmang dabei ist, taucht ausgerechnet seine Meisterdetektivin Evadne Mount[4] im Publikum auf, die mit ihm ein ziemlich dickes Hühnchen zu rupfen hat: schließlich hat er sie, ohne ihre Einwilligung, als Hauptfigur von bisher zwei Romanen[5],verwendet‘. Ein mysteriöser Überraschungsgast soll das Festival ebenfalls beehren. Bald stellt sich heraus, dass es sich um Gustav Slavorigin handelt, einen bulgarisch-englischen Starautor (also: of slav(ic) origin), der mit seinem amerikafeindlichen 9/11-Buch einen reaktionären Industriellen aus Texas so sehr verärgert hat, dass dieser ein Kopfgeld von hundert Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt hat. In Begleitung seiner zwei Bodyguards („Schulze und Schultze“) reist Slavorigin spätabends an, entpuppt sich als ausgesprochenes Ekelpaket und schafft es, sämtliche geladene Festivalgäste – neben Adair, Schimmang und Evadne („Evie“) Mount noch vier weitere Autoren und Intellektuelle, nur Umberto Eco hat leider abgesagt – gegen sich aufzubringen. Am folgenden Morgen wird er tot im Sherlock-Holmes-Museum aufgefunden, ein Pfeil hat sein Herz durchbohrt. Und Evadne Mount macht sich daran, diesmal verstärkt durch ihren Assistenten Adair,  diesen – ihren dritten, letzten und bei weitem kniffligsten – Fall aufzuklären.

Adairs Roman ist in der Tat – mit und trotz aller Selbstironie – postmodern. Der Autor selbst, sein deutscher Übersetzer und sogar seine eigene (fiktive) Hauptfigur tauchen als literarische Figuren im Roman auf und machen ihn zu einem Meta-Meta-(Meta-)Krimi. Das Buch ist ein Pastiche des englischen Krimis à la Agatha Christie und Arthur Conan Doyle. Gleichzeitig jedoch ist es auch eine Parodie des Pastiches, insofern als Evadne Mount zugleich ein Pastiche einer Christie-Romanfigur ist und eine nach dieser modellierte, liebevoll-satirisch überzeichnete Figur einer Figur im Roman im Roman. Adair beschreibt seine erste Begegnung mit Evie, „einer lebenden Parodie von Agatha Christie“ – die zu allem Überfluss selbst Krimis im Stil der dreißiger Jahre schreibt („deren angestammte Amateurdetektivin, Alexis Baddeley, ebenfalls eine ältliche Jungfer war“ – auch das noch) –, während der er beschließt, sie zur Heldin seiner Romane zu machen. Allerdings dichtet er der „echten“ (also: fiktiv-echten) Evie im Roman noch Accessoires an, wie etwa einen Dreispitz, den exzentrischen Ausruf „Großer Scott Moncrieff!“ oder eine Ehe mit ihrem fiktiven (also: fiktiv-fiktiven) Assistenten Eustace Trubshaw. Die Evadne Mount, die Gilbert Adair in Meiringen trifft, trägt nun verwirrenderweise einen Dreispitz, benutzt den Moncrieff-Fluch regelmäßig und stellt sich kokett als „Evadne Trubshaw“ vor: Fiktion der Fiktion in der Fiktion. Doch noch mehr Fiktion spielt in die Fiktion der Fiktion hinein: Adairs eigener Sherlock-Holmes-Pastiche, den er in Meiringen liest, entpuppt sich als Selbstplagiat, und niemand anders als eben seine Figur (der Figur), Evadne Mount, weist ihn darauf hin. Die im Roman auftretende Evadne Mount andererseits distanziert sich wiederum von ihrer nach ihr selbst modellierten Romanvorlage: „Wer sagt, dass ich nicht rauche? Sie. In diesen beiden Krimis. Das ist eine Entscheidung, die Sie getroffen haben, ohne mich zu fragen, aber ab und zu nehme ich ganz gern eine Zichte.“ Andererseits liest sie jedoch in Meiringen den Sunday Sentinel, eine Zeitung, die tatsächlich nur in den Evadne-Mount-Romanen existiert.

Mit unerträglicher Besserwisserei und gleichzeitig bestechender Intelligenz flicht der Autor Anspielungen und Wortspiele in das an sich bereits komplex-skurrile Romangeschehen ein. Einer von Evadne Mounts (der Autorin) „gastronomischen Krimis“ heißt etwa The Timing of the Stew – hier klingt Shakespeares The Taming of the Shrew an –, oder Slavorigin, der „Serienplagiator“, wird beschimpft als „Hannibal Lecteur“. Allerdings kommentiert Adair (Adair, die Romanfigur und gleichzeitig Adair, der Erzähler) diese postmodernen Verflechtungen nur selten und überlässt es dem Leser, seine literarische Bildung und verbale Intelligenz unter Beweis zu stellen – zumindest im englischen Original.

In der deutschen Übersetzung greift der Übersetzer Jochen Schimmang (gleichzeitig Romanfigur und Übersetzer) massiv in die Erzählung ein und fügt dem hochkomplexen postmodernen Spiel noch eine Ebene hinzu. Erstens erklärt er dem deutschen Leser Adairs Anspielungen. Zweitens kommentiert er diese. Drittens kommentiert er die Erzählung selbst, und ihre Figuren. Und viertens stiftet er als advocatus diaboli auch selbst noch ein wenig postmoderne Verwirrung. Ganz davon abgesehen, dass er, fünftens, auch noch fantastisch übersetzt.

So beschreibt Adair im Prolog Slavorigins Skandalbuch. Einer seiner Essays trägt den Titel Buddy, can you spare a Paradigm? Schimmang kommentiert in einer Fußnote: „‚Brother, can you spare a dime?‘ war ein bekannter Song aus der amerikanischen Depressionszeit in den 30er Jahren. Wie es Evadne Mount später in diesem Roman sagen wird: Gilbert kann keine Anspielung und kein Wortspiel auslassen.“ Im zweiten Kapitel treffen Adair und Schimmang aufeinander: „Ich sollte durch meinen Übersetzer Jochen Schimmang vorgestellt werden, selbst ein mit Preisen ausgezeichneter Romancier und inzwischen ein liebgewordener Freund.“ Der Übersetzer Schimmang kommentiert:„O wirklich? Bis auf den heutigen Tag habe ich davon gar nichts gewußt!“ Bei der (in der Erzählung erzählten) ersten Begegnung zwischen Adair und Evie unterhalten sich die beiden unter anderem über Mayhem-Parva-Krimis, und Schimmang interveniert direkt: „Vgl. dazu Evies Ausführungen in Mord auf ffolkes Manor.“[6] Auch explizite Kommentare zur Übersetzung werden abgegeben. Etwa wenn Evadne Mount „Heiliges Kanonenrohr!“ brüllt, kann Schimmang sich nicht zurückhalten: „Im Original: ‚Holy Rwanda‘, was sich mit ein bißchen Schütteln leicht als Andy Warhol entziffern lässt: Aber der ist wohl kaum Evies Kunstgeschmack, wie wir uns nach dem Gespräch bei Carmen Calill im vorhergehenden Kapitel vorstellen können.“ Und auch in seiner Tätigkeit als Übersetzer tritt Schimmang, die Romanfigur, auf: „Und schließlich, was keiner von uns wußte, auch ich nicht, stellte sich heraus, daß Jochen tatsächlich der deutsche Übersetzer von Slavorigins erstem Roman gewesen war, Dark Jade. Auch er hielt ihn für einen Kotzbrocken.“ Eine Reflexion des Übersetzungsprozesses findet sich zudem in Adairs merkwürdig verrätseltem Literatentraum, in dem der Autor (= die Romanfigur = der Erzähler) aufgeschlagene Bücher an sich vorbeiflattern sieht; eins heißt Pnun, ein anderes Son of Palefire:Pnun ist natürlich eine Verballhornung von Nabokovs Roman Pnin, und Son of Palefire spielt auf Fahles Feuer an. Gilbert, der der literarischen Grundausbildung des deutschen Lesers offensichtlich nicht viel zutraut, hat mich um diesen expliziten Hinweis gebeten“, teilt Schimmang eben diesem deutschen Leser mit. Und einen Satz von Evadne Mount kommentiert er folgendermaßen: „Auch Evie ist also dem Plagiat nicht abgeneigt und leiht sich einen Satz aus All about Eve aus.“ – Was übrigens umso pikanter ist, als Evie gerade eben Adair, der Romanfigur, das Selbstplagiat vorgeworfen hat. Als besonders fies gegenüber ‚seinem‘ Autor erweist sich der Übersetzer an folgender Stelle: Adairs Sherlock-Holmes-Pastiche heißt „Die Riesenratte aus Sumatra, auf die sich Watson in Der Vampir von Sussex bezieht“, und Schimmang merkt an: „Hier irrt Gilbert, denn es war Holmes, der das sagte. Da war die Doyle-Wiederholungslektüre wohl ein bißchen ungenau.“ Nur steht leider im Original: „alluded to by Holmes“. Fast möchte man das diabolische ‚Ha!‘ hören.

In Adairs Und dann gab’s keinen mehr kommt dem Übersetzer, als Figur und als Übersetzer, also eine eminent wichtige Rolle zu, wenn nicht gar die Schlüsselrolle: Er legt Adairs literarische Strategie offen, konfirmiert sie allerdings nur, um sie sofort wieder zu subvertieren. Schimmangs Selbstinszenierung als ‚untreuer‘ Übersetzer entspricht eben dem Roman. Im Grunde wäre es nämlich dem Romankonzept gegenüber ‚untreu‘, wenn sich der Übersetzer, der ja selbst als Figur auftaucht, nicht einbringen würde. Wie Adair als Autor = Erzähler = Figur den Schreibvorgang offenlegt, reflektiert und subvertiert, tut Schimmang dasselbe mit dem Übersetzungsvorgang, also dem Schreibvorgang des deutschen Textes. Das ist nicht nur konsequent, sondern nachgerade brillant.

Die Wortspiele und Alliterationen, die Adair schon beinahe obsessiv verwendet, hat Jochen Schimmang souverän und mit spürbarem Augenzwinkern ins Deutsche übertragen. Meredith van Demarest, „a hellish Hellenist“, wird „eine hysterische Historikerin“, Gilberts „skinny litte“ ein ebenso schlagfertiger „caffé litte“ (der, um es dazuzusagen, laut Adair in englischen Buchläden verkauft wird). Ein vulgäres Wortspiel wird dagegen im Deutschen deutlich zivilisierter: „Pardon the clitch.“ –  „The clitch?“ – „Cliché.“ –  „Touché – or rather, tootch.“ Clitch und tootch sind im Englischen ausgesprochen vulgäre Ausdrücke, die sich auf die männlichen Genitalien und den Anus beziehen und damit natürlich wiederum ziemlich selbstironisch auf Adairs Homosexualität und schwule Praktiken anspielen. Bei Schimmang heißt es brav: „Verzeihung fürs Klisch.“ – „Klisch?“ –  „Klischee.“ – „Touché – oder besser, Tusch.“

Schade, dass so manches wirklich witzige Wortspiel dann doch keine so gelungene Übersetzung ins Deutsche gefunden hat: der schon erwähnte Romantitel The Timing of the Stew etwa (ein wenig einfallslos: „Zeit für Eintopf“) oder Adairs selbstironischer Kommentar über seine Hornbrille: „I look better with but read better without them“, auf Deutsch: „Mit sehe ich besser aus, ohne lese ich besser“, bei Schimmang ziemlich unlustig und leider falsch: „Ich sehe besser mit Brille, lese aber besser ohne sie.“

In jeder Hinsicht mutet der Meta-Meta-(Meta-)Krimi seinen Lesern viel zu. So verknotet sich bisweilen auch das aufmerksamste Gehirn, und erst „am Ende laufen alle Fäden zusammen“ – in einem unerwarteten Showdown: Adair und Evie[7] allein an den berühmt-verhängnisvollen Reichenbachfällen. Ein Autor und seine Figur. Und das Buch endet, wie es beginnt: mit einem Todesfall. Der Autor ist tot. Lang lebe der Autor!

Gilbert Adair: Und dann gab’s keinen mehr. Evadne Mounts dritter Fall, aus dem Englischen von Jochen Schimmang, München: C.H. Beck, 2008, 271 Seiten, 18,90 €

Gilbert Adair: And then there was no one (Evadne Mount Mystery 3), London: Faber & Faber 2008, 272 Seiten, 15,95 €

 

Gilbert Adair wurde 1944 in Edinburgh geboren, lebte von 1968 bis 1980 in Paris und seither in London. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Kolumnist und veröffentlichte u. a. die Romane Blindband, Der Tod des Autors, Liebestod auf Long Island, Der Schlüssel zum Turm und Träumer. Bei C.H. Beck erschienen auf Deutsch seine beiden bisherigen Evadne-Mount-Krimis Mord auf ffolkes Manor (2006) und Ein stilvoller Mord in Elstree (2007), die sämtlich von Jochen Schimmang ins Deutsche übertragen wurden.

Jochen Schimmang wurde 1948 in Northeim (Hannover) geboren und wuchs in Leer (Ostfriesland) auf. Er studierte von 1969 bis 1974 Politische Wissenschaften und Philosophie an der Freien Universität Berlin und arbeitete später in der Erwachsenenbildung, bis er 1993 endgültig das Leben eines freien Autors wählte. Er war 1996/97 poet in residence an der Universität Essen und im Wintersemester 2000/2001 Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 1996 wurde er für den Erzählband Königswege mit dem Rheinischen Literaturpreis und 2002 für den Roman Die Murnausche Lücke mit dem Preis „das neue buch“ ausgezeichnet und gewann auf den Zonser Hörspieltagen den Preis „Regionales Hörspiel“ 2005. Im Jahr 2000 erhielt er das Niedersächsische Jahresstipendium für Literatur. Schimmang schreibt regelmäßig für große Zeitungen und für den Rundfunk und hat mehrere Bücher aus dem Englischen übersetzt.

Caroline Sauter hat in Düsseldorf und Paris Literaturübersetzen, deutsch-französische Kulturwissenschaft und Germanistik studiert. Sie promoviert an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der Université Paris III (Sorbonne Nouvelle) über Walter Benjamins Baudelaire-Übertragungen. Seit September 2008 hat sie bei ReLü die Leitung des wissenschaftlichen Bereichs übernommen.

[1] Ist sie tatsächlich seine Figur? Ich komme darauf zurück.

[2]„an denen der arme Conan Doyle in dem sehnlichen Wunsch, endlich ein für alle Mal diesen klobigen Klotz am Bein loszuwerden, Holmes in unlösbarer Verklammerung mit dem Erzfeind Moriarty in den Tod stürzen lässt, und zwar in der Geschichte mit dem Titel Das letzte Problem“ (S. 35); Jochen Schimmang fügt schelmisch hinzu: „- wie sich herausstellen sollte, ein etwas voreiliger Titel.“

[3] Genau genommen wird er von seinem deutschen Lektor Martin Hielscher (C.H. Beck) hingeschickt.

[4] … die gleichzeitig ihre eigene Vorlage ist – auch darauf komme ich noch zurück.

[5] Mord auf ffolkes Manor (C.H. Beck, 2006) und Ein stilvoller Mord in Elstree (C.H. Beck, 2007).

[6]Jochen Schimmang hat alle Evadne-Mount-Krimis ins Deutsche übersetzt.

[7] Auch die nicht gerade subtile Anspielung auf Adam und Eva ist sicherlich kein Zufall.