Beinahe schien es am Abend des 3. September 2009, als befände man sich im Wartezimmer eines Arztes, wo sich die Patienten gegenseitig mit ihren Wehleiden zu übertrumpfen versuchen. „Ein schwieriger, komplexer Text“ sei es gewesen, stöhnte etwa Imre Kurdi aus Ungarn; von „einer großen Herausforderung“ berichtete die schwedische Übersetzerin Aimée Delblanc; über „die gar schwierigste Übersetzung meines Lebens“ klagte der Norweger Isak Rodge und die Zuhörer im Veranstaltungssaal der Straelener Volksbank spürten förmlich, welche Qualen die Übersetzer offenbar durchlitten hatten.
Übersetzer existieren für den Leser eigentlich gar nicht. Der Übersetzungsprozess, das stille Ringen mit dem fremdsprachigen und dem eigenen Text, findet fernab jeglicher Öffentlichkeit statt. Derart fernab, dass er dem öffentlichen Bewusstsein anscheinend völlig entrückt ist. Doch nicht an diesem Abend. An diesem Abend tritt der Übersetzer aus dem übermächtigen Schatten des Autors hervor, steht selbst im Rampenlicht und seine Arbeit wird sichtbar gemacht.
All dies geschieht im Rahmen der vom Europäischen Übersetzer-Kollegium Straelen und der Kunststiftung NRW initiierten „Gläsernen Übersetzerwerkstatt“. Nach Feridun Zaimoglu, Julia Franck und Ingo Schulze war vom 30. August bis zum 3. September 2009 der Autor und Buchpreisträger Uwe Tellkamp in Straelen zu Gast, um mit Übersetzern aus Schweden, Katalonien, Italien, Spanien, Bulgarien, Ungarn, Dänemark, Frankreich, Norwegen, Tschechien und den Niederlanden über sprachliche und inhaltliche Unklarheiten in seinem Roman Der Turm zu diskutieren – und davon gab es einige.
Der Roman, der 2008 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, schildert in geradezu buddenbrooksscher Manier, wie die bildungsbürgerlichen Bewohner des Dresdner Turmstraßenviertels, besonders die Familie um Christian Hoffmann, der Hauptfigur des Romans, die Jahre 1982 bis 1989 erleben.
Uwe Tellkamps großer Vorwenderoman Der Turm entwirft in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt. […] Den Lesern erschließen sich wie nie zuvor Aromen, Redeweisen und Mentalitäten der späten DDR. Unaufhaltsam treibt das Geschehen auf den 9. November zu.[1]
Mit diesen Worten begründet die Buchpreisjury 2008 nicht nur ihre Wahl, sondern umreißt auch haargenau die Schwierigkeiten, die dieser Roman seinen Übersetzern bereitet.
„[…] die süße Krankheit Gestern“ (S. 11)[2] an der die ‚Türmer‘ leiden und deretwegen sie sich vor der feindlichen, real existierenden DDR-Umwelt in Hausmusik und Lektüre flüchten, findet ihr Pendant in Tellkamps poetischer und bilderreicher Prosa. In demselben Maße wie die Familie Hoffmann einem längst vergangenen Bildungsideal anhängt und sich über den kulturellen Einheitsbrei der Sozialisten erhebt, ragt auch Der Turm aufgrund seiner Erzählweise aus der zeitgenössischen deutschen Romanproduktion hervor.
Im Kapitel „Der Magnet“, das an diesem Abend besprochen werden soll, und das als letztes Kapitel des Romans alle Motive aufgreift und zusammenführt, wird dies besonders deutlich.
So verwendet Tellkamp beispielsweise Begriffe aus dem Wortfeld Papier, um auf die „Papierrepublik“ DDR zu verweisen, und macht seine Übersetzer damit nebenbei zu Experten auf dem Gebiet der Papierherstellung: „da sind die Traufen an den Archiven, die unter den Lasten von Papier in geduldige Dumpfheit sanken, der Druck sintert die Schnellhefter, gautscht Formulare, läßt Akten klamm werden, feuchte Vermählung zwischen Druckerschwärze und Holzschliff und Säure anrichten“ (S. 972).
Tellkamps Stil ist wortgewaltig und wortgewandt. Doch obgleich sein enormer, nuancierter Wortschatz schon genügend übersetzerische Herausforderungen bieten würde, konfrontiert er die Übersetzer zusätzlich noch mit sächsischen Regionalismen, die sich in keinem deutschen Standardwörterbuch finden lassen und die auch beim vorwiegend des Sächsischen unkundigen Publikum nur hilflose Gesichter hervorrufen. Gut, dass der Autor anwesend ist, um zwischen den Kulturen zu vermitteln. „Pöbbeln“, so erfahren Übersetzer und Publikum gleichermaßen, ist Sächsisch für „bolzen“ und eine „Kraxe“, erklärt Tellkamp geduldig weiter, ein Wanderrucksack mit Gestell. Wie man das denn in Westdeutschland nenne? – Wanderrucksack mit Gestell, es gebe kein Wort dafür, lautet die ratlose westdeutsche Antwort. Hier bewahrheitet sich, was Friedrich Schleiermacher in einem Vortrag über das Übersetzen bereits 1813 formulierte: „Denn nicht nur daß die Mundarten verschiedener Stämme eines Volkes […] schon in einem engeren Sinne verschiedene Sprachen sind, und nicht selten einer vollständigen Dolmetschung unter einander bedürfen.“[3] Doch die Übersetzungsproblematik bleibt nicht allein darauf beschränkt.
Wie der vollständige Romantitel Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land bereits verheißt, spielt die Handlung in einem versunkenen, einem untergegangenen Land. Doch was nach Atlantis klingt, ist alles andere als ein Mythos: Es gab sie wirklich, die DDR. Uwe Tellkamp ist in diesem Land aufgewachsen, hat 21 Jahre seines Lebens dort verbracht, und in seinem Roman beschreibt er ihren Untergang. Doch um sie untergehen zu lassen, musste er die DDR zuerst wieder heraufbeschwören, aus Worten auferstehen lassen – und die Übersetzer müssen dies auch. Das größte Übersetzungsproblem von Tellkamps Der Turm ist es demnach, die kulturellen Schlüsselbegriffe, die Kulturrealia eines Landes, das nicht mehr existiert, in eine andere Sprache zu übertragen.
Der Schriftsteller Peter Weiss spricht von einem schwer fassbaren Schatten unter den Worten, einem Kulturschatten. Hinter beinahe jedem Wort des Romans hält sich dieser Schatten, einem Geist gleich, versteckt und zeigt sich selbst westdeutschen Muttersprachlern nicht immer – wie sollen ihn da bloß die Übersetzer für eine fremdsprachige Leserschaft sichtbar machen? In Tellkamps Text wimmelt es von solchen Geistern.
Schaumgummikosmonauten, „die kosteten damals 10 Pfennig“, erläutert der Autor, mysteriöse Blousonträger, „das war die Ziviluniform der Stasi“, und FDJler entsteigen gemeinschaftlich Tellkamps Zeitmaschine. „Pittiplatsch“ und „Schnatterinchen“ gesellen sich ebenfalls dazu. „Ach du meine Nase“, stöhnt Pittiplatsch und die Übersetzer möchten wohl am liebsten mit einstimmen.
Wie der Satz: „Sie lauschten nach Prag“ (S. 942) zu verstehen sei, will einer der Übersetzer wissen, und warum Tellkamp einmal „Wir sind das Volk“ und ein anderes Mal „Wir sind ein Volk“ geschrieben habe. Schlagwörter, Slogans, die wohl in jedem Bundesbürgerkopf dieselbe Flut von Fernsehbildern lostreten: Genschers Stimme auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag, der hell erleuchtete Balkon, die dunkle, stille Masse darunter, der bereits bei „um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise“ ausbrechende Jubel; wieder eine dunkle Masse, die sich im Oktober 1989 durch die Leipziger Straßen zwängt und wieder ist nur eine Stimme auszumachen – die Stimme des Volkes. Doch wie soll man diese in einer anderen Sprache erklingen lassen? Übersetzer und Autor sind an diesem Abend in der Straelener Übersetzerwerkstatt gleichermaßen verzweifelt. Wie nur soll der Übersetzer vorgehen, wenn er neben Schleiermachers „Geist der Sprache“ und dem „Geist des Verfassers“ auch noch vom Geist eines versunkenen Landes angeweht wird? In Straelen betrachtet man das Problem an diesem Abend eher pragmatisch denn sprachphilosophisch: Glossar und Fußnoten wolle man vermeiden, man werde versuchen zu umschreiben, wo es ginge – und wenn gar nichts geht? „Weglassen!“, rät der Autor.
Der letzte Satz des Buches endet mit einem Doppelpunkt: „aber dann auf einmal […] schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‚Deutschland einig Vaterland‘, schlugen ans Brandenburger Tor:“. Der Autor verweist damit auf das Nachfolgeprojekt von Der Turm, das die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 behandeln wird. Uwe Tellkamp bleibt seinem Sujet treu. Bleibt zu hoffen, dass er auch dafür Übersetzer finden wird, die mehr leisten als den bloßen Sprachtransfer – denen es gelingt, ein versunkenes Land aus Worten auferstehen zu lassen.
Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 976 Seiten, 24,80 €
Uwe Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren. Nach seinem Wehrdienst in der NVA verliert er aufgrund „politischer Diversantentätigkeit“ seinen Studienplatz für Medizin. Im Rahmen des 1989er Umsturzes wird Tellkamp inhaftiert. Nach der Wende studiert er in Dresden, Leipzig und New York Medizin und praktiziert als Arzt in München. Den Arztberuf gab er jedoch 2004 zugunsten seiner Schriftstellerkarriere auf.
Bislang sind von ihm Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café und Der Eisvogel erschienen. Für Der Schlaf in den Uhren, einen Auszug aus seinem Roman Der Turm, erhielt Tellkamp 2004 den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Der vollständige Roman wurde 2008 mit dem Deutschen Buchpreis sowie dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. 2009 erhielt Tellkamp den Deutschen Nationalpreis. Sein neuestes Werk Die Reise zur blauen Stadt ist im Herbst 2009 erschienen.
Seit 2009 lebt Uwe Tellkamp wieder in Dresden.
Silke Pfeiffer studiert seit 2006 Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit den Sprachen Englisch und Französisch. Das Wintersemester 2008/09 verbrachte sie in Besançon und Lyon.
[1] http://www.deutscher-buchpreis.de/de/177061?valid=true&meldungs_id=282085 (Stand: 24.10.2009)
[2] Dies und die folgenden Zitate mit Seitenangaben stammen aus: Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
[3] Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. [1813], in: H.J. Störig: Das Problem des Übersetzens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. 38.