Buchcover Nicht mehr genau dieselbe Kraft?!?
Alexander Dölecke über Die Bibel in gerechter Sprache
Zu einer Bibelübersetzung, die in gerechter Sprache die Gemüter erregt

Die Bibel zu übersetzen, stellt Bibelwissenschaftler stets vor große Herausforderungen: Nicht nur die Sprache und Kultur, nicht nur die Denkweise der Alten und die Bilderwelt der Tradition müssen erarbeitet und berücksichtigt werden, sondern auch die besondere Dimension dieses besonderen Textes will bedacht sein. Gerade weil man diesem treu sein will, stellt sich die grundlegende Frage immer wieder neu, ob Texte, ja einzelne Verse strikt wörtlich oder eher sinngetreu wiederzugeben seien. Im Ausgangs- und Zieltext der Bibelübersetzung treffen zwei derart unterschiedliche Sprach- und Kulturkreise, also verschiedene Denk- und Lebenswelten, aufeinander, dass es wohl eine Illusion wäre, Übersetzen für Konstruktionen von Eins-zu-eins-Entsprechungen zu halten. August Wilhelm Schlegel hält in diesem Sinne fest: „Wörtlichkeit ist noch lange keine Treue.“[1]

Übersetzungstheoretische Reflexionen, vor allem auch zum unauflösbaren Zusammenhang von Übersetzung und Interpretation, gibt es viele. Eine erstaunliche Entdeckung ist nun, dass auch ein Buch, das in katholischer Tradition zum biblischen Kanon, für evangelische Christen zu den deuterokanonischen Schriften gezählt wird, einen Text kennt, der das Thema seiner eigenen Übersetzung reflektiert. Im Vorwort zu seiner ungefähr zur Zeitenwende entstandenen Übersetzung ins Griechische formuliert der Bibelschreiber am Beginn des Buches Ben Sirach hierbei ein bis heute gültiges hermeneutisches Paradigma:

Vieles und Großes ist uns durch die Tora, die prophetischen Schriften und die anderen Bücher, die ihnen folgen, gegeben worden. Dafür – das heißt für seine Bildung und Weisheit – ist Israel zu loben. Doch sollen nicht nur diejenigen, die diese Schriften lesen können, Erkenntnis gewinnen, sondern die Lernfreudigen sollen auch imstande sein anderen zu nützen, und zwar in Wort und in Schrift. […] Ich lade euch nun also ein mit Wohlwollen und Aufmerksamkeit das Gelesene aufzunehmen und dort Nachsicht zu üben, wo wir trotz intensiven Bemühens bei der Übersetzung vielleicht doch nicht die genaue Ausdrucksweise getroffen haben. Denn das, was bei uns auf Hebräisch gesagt wird, hat ja nicht mehr genau dieselbe Kraft, wenn es in eine andere Sprache übertragen wird. Das gilt nicht nur für das vorliegende Buch, sondern auch die Übersetzungen der Tora, der prophetischen Schriften und der übrigen Bücher unterscheiden sich nicht unwesentlich von den Fassungen in der Originalsprache.[2]

„Nicht mehr genau dieselbe Kraft…“ – der Übersetzer sieht hier, dass auch bei einer noch so brillanten Übersetzung die Differenz von Ausgangs- und Zielsprache bestehen bleibt. Die Worte klingen anders als im Original, Wendungen und Ausdrücke verlieren an Verständlichkeit, die Sprachbilder transportieren nicht mehr alle Dimensionen eines Gedankens. Das soll nun gerade nicht daran hindern, diese Differenz in einer Übersetzung so klein wie möglich halten zu wollen, aber es weist darauf hin, dass die Suche nach einer angemessenen Wiedergabe des im Original Stehenden eine „unendliche Aufgabe“[3] darstellt. Angeregt durch die Übersetzungspraxis und die Bibelarbeiten auf den Evangelischen Kirchentagen der letzten Jahrzehnte, haben sich nun im deutschen Sprachraum die 52 Exegetinnen und Exegeten der Bibel in gerechter Sprache dieser Aufgabe in Einzel- und Teamarbeit gestellt und eine neue wissenschaftliche Bibelübersetzung erarbeitet, über deren übersetzungshermeneutische Grundlagen bereits vor ihrem Erscheinen im Herbst 2006 heftig gestritten worden ist.

Die Bibel ist bei diesem Projekt als vielgestaltige und vielstimmige Bibliothek heterogener Originaltexte ernst genommen worden; daher sind zwar die Grundlinien der neuen Übersetzung vom Herausgabe- und Übersetzerteam festgelegt worden, die Bandbreite der verschiedenen übersetzerischen Sprachstile wurde aber nicht eingeebnet, sondern als Chance begriffen:

Hier kann einmal deutlich werden, dass es oft nicht um richtig oder falsch geht, sondern dass zwischen vielen treffenden Varianten jeweils die eine ausgewählt werden muss, die – und dies erfordert eine Entscheidung – das Gemeinte am besten in deutsche Worte fasst.[4]

In ihrer Einleitung zur Bibel in gerechter Sprache, in der die Übersetzungsprinzipien für alle Leser erklärt werden, vergleichen die Herausgebenden diese Vielstimmigkeit mit einem Chor: Jede Stimme sei wichtig, auf keine solle verzichtet werden. In der Hoffnung, dass die eine Stimme auch dadurch klarer singen könne, weil es die andere gebe, bilde die vorgelegte Übersetzung (analog zur Bibel selbst) einen Chor, in dem die einzelnen Stimmen zusammenklingen und aufeinander bezogen seien. Neben experimentellen Übersetzungsversuchen, die „bis an die Grenzen des theologisch Sagbaren gehen und [so] Positionen deutlich machen, die zu eigener Urteilsbildung herausfordern“[5], gibt es viele Stellen, an denen die Übersetzungskriterien selbst miteinander in Konflikt geraten und Kompromisse notwendig geworden sind. Hier haben die Übersetzenden auf Harmonisierungen von spannungsgeladenen Textstellen verzichtet und auch Anstößiges in den Texten nicht zu glätten versucht.

Darüber hinaus sind in einem bislang einzigartigen offenen Diskussionsprozess von vornherein die Leitprinzipien der neuen Übersetzung offengelegt und sukzessive einzelne Teilübersetzungen veröffentlicht worden, so dass es über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren allen Interessierten möglich gewesen ist, sich an der Erprobung der „neuen“ Texte (im Gottesdienst, Gemeindegruppen oder etwa bei privater Lektüre) zu beteiligen. Etwa 300 Einzelpersonen und Personengruppen haben diese Chance wahrgenommen und ihre Erfahrungen, ihre kritischen Rückfragen und Anmerkungen an das Übersetzungsteam übermittelt.

Zudem war bereits ein Jahr vor der Herausgabe ein Begleitband auf den Markt gekommen, der die Grundentscheidungen der neuen Übersetzung vorgestellt, diskutiert und an Beispielen erläutert hat. Von Anfang an ist die Bibel in gerechter Sprache also als Prozess angelegt; ihr Profil als bleibendes „work in progress“ kennzeichnet sie in besonderer Weise.

Diese Übersetzung ist nun kein Projekt, über das leicht hinweggegangen werden kann,[6] vielmehr ruft sie umfangreiche, zugleich kritische und würdigende Stellungnahmen, Voten und Positionierungen hervor: seitens der Kirchenleitungen und einzelner Gemeinden, seitens der akademischen Theologie, aber auch in den Feuilletons großer deutschsprachiger Zeitungen. So spricht Matthias Morgenstern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von „kultischer Destabilisierung“; Robert Leicht variiert in der ZEIT ein Lutherwort, wenn er konstatiert: „Kein Wort sie wollen lassen stahn“; der Theologe Ingolf U. Dalferth schreibt für die Neue Zürcher Zeitung: „weder richtig noch gerecht, sondern konfus“; der Spiegel sieht nur noch „Wortsalat im Garten Eden“; in der Weihnachtsausgabe der Süddeutschen Zeitung bezeichnet Johan Schloeman den Entwurf gar als „gesinnungsterroristische Gerechtigkeitsbibel“.[7] In nicht größer zu denkendem Gegensatz dazu nennt Christiane Thiel denselben Text in ihrer Rezension für die Junge Kirche „ein Wunder“.[8] – Wissenschaftliche Besprechungen des Textes, sowohl scharf ablehnend als auch begeistert würdigend, liegen zuhauf vor.[9] Die Diskurslage ist nahezu unüberschaubar. Die Heftigkeit der Reaktionen hat sowohl die Übersetzenden als auch die Kritiker letztlich überrascht. Sie mag wohl darin begründet liegen, dass theologische Fragestellungen, die bis dato eher am Rand der Betrachtungen standen, jetzt ins Zentrum vor allem der gemeindlichen Aufmerksamkeit gerückt sind. Die theologischen Grundentscheidungen, welche die zu besprechende Übersetzung prägen, sind von derart fundamentaler Natur, dass sie unmöglich übersehen werden können.

Was sind nun aber die Grundprinzipien, die eine derartige Rezeptionsbreite hervorrufen können? Die Bibel in gerechter Sprache trägt ihr inhaltliches Profil bereits im Namen: Dem biblischen Grundthema der Gerechtigkeit soll auch die theologische Rede von Gott und Mensch entsprechen. Dabei soll der übersetzte Text vor allem dem Ausgangstext gerecht werden; des Weiteren identifizieren die Übersetzenden drei Bereiche, in denen die Dimension der Gerechtigkeit sprachlich besonders zum Tragen kommt: Vom Ansatz der in den 1980er Jahren in den USA aufkommenden inclusive language geprägt ist erstens eine geschlechtergerechte Sprache im Blick. Die konsequente Rede von „Hirtinnen und Hirten“ (zum Beispiel in der bekannten Weihnachtsgeschichte nach Lukas), von „Pharisäerinnen und Pharisäern“ und von „Apostelinnen und Aposteln“ fällt sogleich auf. Im Hinblick auf das biblische Israel und das gegenwärtige Judentum stellt sich zweitens die Frage, wie biblische Texte angesichts der Erkenntnisse des christlich-jüdischen Dialogs der letzten Jahre und Jahrzehnte gerecht übersetzt werden können. Dabei ist einer antijüdisch verzerrten Lektüre entgegen zu wirken; zum Beispiel wird Jesu Formel in der Bergpredigt (Matthäus 5,22 u.ö.: egò dè légo) nicht antithetisch („Ich aber sage euch“), sondern dem jüdischen Hintergrund Jesu entsprechend so übersetzt, dass deutlich wird, dass hier ein innerjüdischer Diskurs fortgeführt wird: „Ich lege das heute so aus.“ Drittens wird die sozialhistorische Perspektive stärker als bisher berücksichtigt, wenn beispielsweise statt romantisch-idyllisch von „Knechten und Mägden“ die damalige soziale Realität in unserer Sprache angemessen widerspiegelnd von „Sklavinnen und Sklaven“ gesprochen wird.

Die Kritik, die sich an diesen Grundentscheidungen des 2400 Seiten langen Textes sowohl in theologischer als auch in philologischer Perspektive entzündet, kann an dieser Stelle lediglich angerissen werden. Daher sei nur auf den Aspekt der geschlechtergerechten Sprache kurz eingegangen: Der Versuch, die männliche Dominanz, die sprachlich aus den biblischen Texten hervorbricht, zu mildern und durch eine inklusive Sprache, die Frauen auch dort expliziert, wo sie eindeutig mitgemeint, aber nicht genannt sind, zu ersetzen, erscheint an vielen Stellen der Bibel (gerade auch vom Kontext des Textes selbst her) sachlich mehr als angemessen. Ein Beispiel nur soll dies verdeutlichen: Wenn Paulus in der Grußliste des Römerbriefes (16,3-16) neben vielen Männern namentlich auch Priska, Mirjam, Junia, Persis, Julia und einige weitere Frauen sowie unbenannt die Mutter des Rufus und die Schwester des Nereus grüßen lässt, so ist einsichtig, dass der gesamte Brief nicht nur an die „Brüder“, sondern an die „Geschwister“ (16,17: adelphoí) im Glauben gerichtet ist. Die gleiche Einsicht muss bei Philipper 4,1f. erreicht werden: Wenn der zweite Satz zwei Frauen, nämlich Evodia und Syntyche, namentlich nennt, kann der als allgemeine Einleitung in den paränetischen Teil zu verstehende erste Satz nicht nur die „Brüder“ in den Blick nehmen.

Bei einer Eintragung weiblicher Sprachformen in den biblischen Text ergeben sich nun aber immer dann Probleme, wenn religions- und kulturgeschichtlich unklar ist, ob Frauen wirklich mitgemeint sein dürften oder können:[10] Das griechische Danielbuch (3,84) nennt in der Übersetzung „Priesterinnen“ am Tempel, Nehemia (8,7 u.ö.) spricht von „Levitinnen und Leviten“ – beides ist eher unwahrscheinlich. Der im Gerichtskontext stehende Vers Amos 5,10 („Die Wahres redet, die verabscheuen sie.“) ist nur dann sinnvoll übersetzt, wenn – entgegen der historisch überlieferten Wirklichkeit – angenommen wird, dass Zeuginnen vor Gericht aussagen durften und gehört wurden.

Zudem wird durch die konsequente Einfügung von „Richterinnen“, „Hirtinnen“, „Prophetinnen“, „Pharisäerinnen“ und „Königinnen“ auch dann, wenn nur eine dieser den Reigen der männlichen Richter, Hirten, Propheten, Pharisäer und Könige komplettiert, der Eindruck erweckt, dass die damalige Gesellschaft fast schon egalitär organisiert gewesen sei. Dem widerspricht die Bibel selbst (auch in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache), wenn sie vom „männlich dominierten Israel“ (Numeri 27,8) spricht. Mit der Einebnung der sich aus der Geschlechterdifferenz ergebenden Unterschiede werden gerade auch die besonderen Stellen, an denen Frauen hervorgehoben werden, abgewertet und ein Bild des alten Israel konstruiert, wie wir es uns aus heutiger Sicht wohl wünschen, das aber den damaligen Realitäten zumindest in der in der Bibel in gerechter Sprache gewählten Form nicht entsprechen dürfte.

An anderen Stellen werden dagegen weibliche Sprachformen nicht hinzugefügt, obwohl dies eigentlich, der Text- und Gerechtigkeitslogik folgend, von Nöten wäre: Zum Beispiel bedrängen in der Genesis (19,4) nur die Männer Sodoms das Haus Lots. Numeri 23,19 schließlich bringt im Zusammenhang der Ablehnung göttlicher Eigenschaften die Lüge mit dem Mann und das Gefühl mit der Frau in Verbindung: „Gott ist kein Mann, der lügen würde, kein Mensch, dass sie ihren Gefühlen ausgeliefert wäre.“ Diese Zuordnung ist allerdings weder sachlich noch sprachlich angemessen. So lässt sich des von Martin Rösel formulierten Eindrucks nicht erwehren, „dass eine gewisse Scheu besteht, Frauen dann zu nennen, wenn es um negative oder gewalttätige Ereignisse geht“[11].

Das alles erklärt aber noch nicht die großen Gemütsregungen, die sich im Streit um diese neue Bibelübersetzung in den vergangenen zweieinhalb Jahren in der Theologie entladen haben. Vielmehr ist ein weiterer Aspekt zu betrachten: Die drei Gerechtigkeitsdimensionen wurden nämlich auch auf die Übersetzung des Gottesnamens (hebr.: jhwh) und dessen neutestamentliches Pendant (kyrios) übertragen. So werden diese nicht (wie beispielsweise im Alten Testament der Lutherübersetzung) mit „der Herr“ wiedergegeben, sondern verschiedene Lesevorschläge fungieren als Ersatznamen. Diese entstammen unterschiedlichen Traditionen und werden zumeist gendergerecht variiert. Es finden sich unter anderem folgende Ersetzungen im Text: Adonaj, Gott, ha-Schem (hebr.: der Name), Er Sie, der Ewige, die Lebendige, der Heilige. Am linken oberen Rand bringt eine Kopfzeile, zufällig ausgewählt, weitere Lesevorschläge ins Gespräch, die aus den 18 insgesamt verwendeten Varianten stammen. Zudem werden die entsprechenden Stellen im Text grau unterlegt und durch weitere Layoutmarker ausgewiesen. Intention der Übersetzenden ist bei diesem Verfahren, vor dem Hintergrund des biblischen Bilderverbotes deutlich zu machen und ernst zu nehmen, dass der biblische Gott selbst einen Eigennamen hat, der allerdings weder in unsere Sprache übersetzt werden kann noch ausgesprochen werden darf. Auch hier sei nur auf wenige Probleme verwiesen. Dass die Bezeichnung „Herr“ bei den Ersatznamen gänzlich fehlt, nimmt dem Gottesnamen bewusst eine besondere Dimension und zeigt ein Defizit an: Gott wird so nicht mehr als der Herr über alle anderen Herren und alle Herrschaft überragend bekannt. Manche der Ersatznamen verundeutlichen sodann die Personalität, die Gott in biblischer Perspektive zukommt. Des Weiteren erscheint der Geschlechterwechsel der Gottesbezeichnungen nicht immer sinnvoll. So gerät beispielsweise Hosea 2,18 in sprachliches Chaos, wenn übersetzt wird: „An jenen Tagen geschieht’s – spricht die Ewige – : du nennst mich ‚mein Mann.‘“

Insgesamt stellt die Bibel in gerechter Sprache aber eine facettenreiche und auf hohem wissenschaftlichen Niveau angesiedelte Bibelübersetzung dar. Dabei ist zunächst bei aller notwendigen Kritik eines festzuhalten: Die Bibel in gerechter Sprache bietet unter Einbezug der neuesten exegetischen Erkenntnisse „eine ganze Reihe von Einzelstellen und Passagen […], die glänzend übersetzt sind und den Sinn der Texte unmittelbar deutlich machen“[12]. Manches ist hingegen kritisch zu sehen: Nicht immer wird sie ihrem eigenen Anspruch gerecht, die Chance der Vielstimmigkeit ist gerade auch ein großes Manko, einige Übersetzungen und Formulierungen erscheinen doch eher misslungen und auch den genannten Leitlinien muss nicht in allen Akzenten gefolgt werden. Und dennoch: Ein ausgiebiger und genauer Blick lohnt sich sehr! Vor allem im Vergleich mit der sprachgewaltigen und wirkmächtigen Lutherübersetzung und mit der philologisch sehr genauen revidierten Version der Zürcher Übersetzung von 2007[13] können so Besonderheiten des biblischen Textes neu erhellt und Dimensionen entdeckt werden, die bislang verhüllt lagen!

„Nicht mehr genau dieselbe Kraft…“ – das kann daher auch anders verstanden werden: Dass eine Übersetzung nicht mehr genau dieselbe Kraft hat, heißt ja nicht zwingend, dass sie weniger kräftig wirkt; es kann auch bedeuten, dass es schlichtweg nicht mehr dieselbe Kraft ist, dass sie vielmehr an manchen Stellen dafür vielleicht eine andere Kraft zu gewinnen und auszustrahlen vermag, die dem Text selbst schon innewohnt, nun aber in der Übersetzung erst neu entdeckt werden kann.[14] Das Wissen um die bleibende Differenz zwischen Original und Zielsprache befreit die Übersetzenden so vom Zwang und der Illusion, eine in allen Nuancen fehlerfreie, sprachlich ausdrucksstarke und endgültig „richtige“ Übersetzung aller Stellen gleichzeitig bieten zu müssen bzw. bieten zu können. Eine Übersetzung kann „nicht mehr genau dieselbe Kraft“ haben. In diesem Sinne bringen Übersetzungen, auch die der Bibel in gerechter Sprache, immer etwas Neues an und aus dem übersetzten Text hervor, das vorher nicht wahrgenommen wurde. Sie sind selbst eigene Texte, die neues Lesen erst ermöglichen.

Ulrike Bail et al. (Hg.): Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 2400 Seiten, 29,95 €

Helga Kuhlmann (Hg.): Die Bibel – übersetzt in gerechte Sprache? Grundlagen einer neuen Übersetzung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, 238 Seiten, 19,95 €

Zu den Übersetzenden, die am Projekt Bibel in gerechter Sprache mitgewirkt haben, sei verwiesen auf http://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/modules.php?name=Content&pid=7

Alexander Dölecke, geb. 1984, Studium der Evangelischen Theologie und Germanistik in Osnabrück und Münster, Examensarbeit zum Thema „‚Weniger an, aber mehr drauf‘? Biblisch-theologische und religionspädagogische Erwägungen zur ‚Bibel in gerechter Sprache‘“ [245 S.; abgeschlossen im Januar 2009]


[1] August Wilhelm Schlegel: „Etwas über Wilhelm Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters [1796]“, in: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 1: Sprache und Poetik, hrsg. von Edgar Lohner, Stuttgart: Kohlhammer 1962, 101.

[2] Vorwort zur griechischen Übersetzung des Buches Ben Sirach 1-6.15-26, Übersetzung von Angelika Strotmann für die Bibel in gerechter Sprache.

[3] Unter Aufnahme eines Zitates von Friedrich Schlegel: Klaus Reichert: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München/Wien: Carl Hanser 2003.

[4] Ulrike Bail et al.: „Einleitung“, in: dies. et al. (Hg.): Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 25.

[5] Ulrike Bail et al.: „Einleitung“, 25.

[6] Die erste Auflage war binnen weniger Tage vergriffen, mittlerweile liegt die dritte Auflage vor, es gibt umfangreiche Begleitprodukte (eine CD-Rom, ein Hörbuch, ein Tageslesebuch, Arbeitsbücher, den Text als Schmuckausgabe etc.), einzelne Übersetzungen sind auch mit Preisen ausgezeichnet worden.

[7] Matthias Morgenstern: „Kultische Destabilisierung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 66/2007 (19.03.2007), 7; Robert Leicht: „Kein Wort sie wollen lassen stahn“, in: DIE ZEIT 15/2006 (06.04.2006), 40; Ingolf U. Dalferth: „Der Ewige und die Ewige. ‚Die Bibel in gerechter Sprache‘ – weder richtig noch gerecht, sondern konfus“, in: Neue Zürcher Zeitung 269/2006 (18.11.2006), 65; Matthias Schulz: „Wortsalat im Garten Eden“, in: Der Spiegel 44/2006 (30.10.2006), 190-192; Johan Schloeman: „‚Und die Weisheit wurde Materie‘. Über Gesinnungsterror und die Weihnachtsgeschichte in der Übersetzung der ‚Bibel in gerechter Sprache‘“, in: Süddeutsche Zeitung 217/2006 (23./24.12.2006).

[8] Christiane Thiel: „Ein Wunder!“, in: Junge Kirche. Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 68 (2007), H. 1, 62.

[9] Um aus der Fülle nur eine Einführung und Besprechung zu nennen, die m.E. äußerst lesenswert, sehr kundig, ausgewogen und verständlich Stärken und Schwächen des Textes beleuchtet, sei verwiesen auf Walter Klaiber; Martin Rösel: Streitpunkt Bibel in gerechter Sprache, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. Als eine kürzere Rezension sei empfohlen Marie-Theres Wacker [Rez.]: „Bibel in gerechter Sprache“, in: bbs 1/2008 [www.biblische-buecherschau.de/2007/bail_bigs_wacker.pdf].

[10] Zum Folgenden vgl. ausführlicher Walter Klaiber; Martin Rösel: Streitpunkt Bibel in gerechter Sprache, 47-51.

[11] Walter Klaiber; Martin Rösel: Streitpunkt Bibel in gerechter Sprache, 49.

[12] Walter Klaiber; Martin Rösel: Streitpunkt Bibel in gerechter Sprache, 57.

[13] Vgl. zu dieser und der unter besonderer Berücksichtigung der Genderperspektive vorgetragenen Kritik von Marie-Theres Wacker [Rez.]: „Zürcher Bibel“, in: bbs 4/2008 [www.biblische-buecherschau.de/2008/Zuercher_Bibel.pdf], gekürzt auch in: Bibel und Kirche 64 (2009), H. 2, 122-127, sowie für das Neue Testament mit genauen Analysen aus feministischer Perspektive Ursula Sigg-Suter; Esther Straub; Angela Wäffler-Boveland: „‚…und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein‘. Die neue Zürcher Bibel feministisch gelesen“, Zürich: Theologischer Verlag 2007.

[14] Klaus Reichert drückt das in seinen übersetzungstheoretischen Überlegungen so aus: „Beim Übersetzen […] geht immer etwas verloren, vielleicht das Wesentliche. Es kommt aber immer auch etwas hinzu, vielleicht etwas anderes Wesentliches, und sei es nur in einer Wendung, die in der Übersetzung glücklicher sich fügt, als das in der Sprache des Originals möglich war.“ (Klaus Reichert: Die unendliche Aufgabe, 39).