Wo ist eigentlich der Standort der Übersetzungswissenschaft? – das fragen sich manche heute. Seit dem 19. Jahrhundert war das Nachdenken über das Übersetzen an die Literaturwissenschaft geknüpft. Dort war viel von Interpretation und Einfühlung, von kongenialer Leistung und kreativem Stil auf den Spuren eines Autors die Rede, es ging um übersetzerische Treue.[1] Dann kam Mitte des 20. Jahrhunderts die linguistische Wende und jegliche Subjektivität wurde aus dem erkenntnistheoretischen Paradigma der Wissenschaften ausgeklammert. Die Übersetzungswissenschaft bediente sich der Kontrastiven Linguistik zur Entwicklung von Äquivalenzmaßstäben.[2] Die Übersetzungskritik fußte auf der Fehleranalyse in allen linguistischen Ebenen.[3] Besonders im angelsächsischen Raum wird inzwischen Translation Studies als deskriptiv-empirische Wissenschaft definiert.[4] In Korpusanalysen wird nach translatorischen Universalien der übersetzerischen Reaktion auf kausale Ausgangstextstrukturen gesucht,[5] in Fallstudien wird der unterschiedliche Umgang verschiedener Übersetzer mit einem Autor erforscht, es werden mit Fragebogenaktionen die Empfängerreaktionen untersucht und in Experimenten der kognitive Übersetzungsprozess erörtert.[6] Exakte quantifizierbare und qualifizierbare Daten und nachvollziehbare logische Schlussfolgerungen gelten als unverzichtbar, wenn eine Studie den modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll. Seit den 1970er Jahren wurde das Paradigma der naturwissenschaftlichen Forschung als alleingültiger erkenntnistheoretischer Rahmen von Wissenschaftlichkeit angesehen.
Dagegen regt sich nun ganz allmählich Widerstand. Wenn nämlich nicht soziologische Bedingungen und Wirkungen von Übersetzungen deskriptiv untersucht werden sollen, sondern wenn die Übersetzungswissenschaft auch der Herausbildung angemessener Strategien für gute Übersetzungsleistungen dienen soll, wie dies ja im Übersetzungsunterricht vorausgesetzt wird, dann richtet sich das Augenmerk auf die Kompetenz eines Übersetzers als Person, die sich in der Welt orientieren will und die eigene Vorgehensweise überzeugend begründen möchte.[7]
Dynamische Fragestellungen des historischen Werdens und des strategischen Handelns bedürfen aber anderer Kriterien als der reinen Faktenanalyse, weil die Beschreibung von Regeln und Methoden nicht unmittelbar zu entsprechendem Handeln führt. Eine solche Feststellung hat nun nichts mit einem etwaigen Rückfall in ältere literaturwissenschaftliche Darstellungen zu tun, bei denen es vielfach um den individuellen Geschmack ging. Vielmehr ist zu fragen, welche wissenschaftlichen Kriterien für eine moderne Übersetzungswissenschaft gelten können, sollen oder müssen, die unter die sogenannten Geisteswissenschaften eingeordnet wird, da es beim Übersetzen um Personen, Sprache, Geist und Kulturen geht.
An dieser Stelle ist auf eine Neuerscheinung hinzuweisen, die tragfähige Argumente für eine derartige Forschungsauffassung liefert: Marcus Beiners Humanities. Was Geisteswissenschaft macht. Und was sie ausmacht. (WBG 2009).[8] „Die Geisteswissenschaften – und damit eine Vielzahl an reflektierenden, historischen, philologischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen – sind in der Defensive: ihre Existenzberechtigung wird ihnen manchmal gänzlich abgesprochen, ihr Sinn in Frage gestellt, ihre Aufgabe für irrelevant erklärt und ihre Wissenschaftlichkeit in Zweifel gezogen. Das macht ihre Stellung in der Gesamtheit der Wissenschaften prekär.“ – So beginnt das Büchlein, das nun mit diesem allzu verbreiteten Missverständnis aufräumen möchte. Dabei verliert sich der Autor nicht in einer Diskussion darüber, wie denn die Disziplinen der Geisteswissenschaften abzugrenzen seien. Vielmehr gewinnt er einen Zugang zu seiner Fragestellung, indem er untersucht, wie die Praxis geisteswissenschaftlicher Forschung konkret vor sich geht.
Was die Geisteswissenschaften genau sind und wie sie arbeiten, kann so anhand von sieben Kategorien verdeutlicht werden, die im Folgenden besprochen und in einer gewissen Ausführlichkeit skizziert werden. Sie sind alle miteinander verknüpft und kennzeichnen als Grundmuster geisteswissenschaftlicher Erkenntnis sowohl die Forschungsgegenstände als auch die Forschungspraxis.
(1) Die Einführung der Kategorie der Historizität unterstreicht, dass die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung, beispielsweise Werke der Kunst, Musik und Literatur, wesentlich gewordene sind. Die humane Perspektive ist für solche Forschung essentiell; sie richtet sich auf Kontexte sozialer Art, Entstehungszusammenhänge und Abhängigkeiten von Vorigem: Forschungsgegenstände können nur verstanden werden, wenn wir wissen, wie sie entstanden sind. Für jeden heutigen Zustand gibt es ein relevantes Gestern, und je größer ein Betrachtungszeitraum in historischer Perspektive gewählt wird, desto größer ist seine innere Dynamik. Elemente der Gegenstände oder ihre Bewertung ändern sich dann.
Die Historizität der geisteswissenschaftlichen Forschung geht so mit einer latenten Unbestimmtheit bezüglich ihrer Gegenstände einher. Immer wieder, von immer wechselnden Standpunkten her, die sich aus dem linearen Fortschreiten der Zeit ergeben, ist also die Arbeit der Aneignung neu zu leisten. So entsteht eine Historisierung des Forschens selbst. Die Forschungsgeschichte hat ja stets den Anspruch, Neues aufzuzeigen. Man muss verdeutlichen, wie man sich vom bisher einschlägig Erforschten absetzt, weil zum Beispiel neue Fragestellungen aufgekommen sind. Die Historizität der geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis spielt über die Bezugnahmen auf ältere Forschung in jedes Werk hinein. Der Austausch von Argumenten, das Abwägen von Theorien, das Bewerten von Fakten und Wertungen Anderer, die Korrektur von Irrtümern und Fehlmeinungen – all das sind zentrale Aufgaben geisteswissenschaftlicher Forschung, die ohne historische Bezugnahmen nicht auskommen.
(2) Die Kategorie der Dialogizität bzw. Intersubjektivität bezieht sich auf eine bestimmte Form der Verwobenheit, mit der es geisteswissenschaftliche Forschung zu tun hat. Viele ihrer Gegenstände sind abstrakter, nicht-materieller Natur. Sie stellen selbst Gesprächszusammenhänge dar, in denen unterschiedliche Positionen politischer, ideologischer, existenzieller Art im realen Leben oder in gedanklichen Konstrukten artikuliert und zwischen verschiedenen Vertretern ausgetauscht werden. Es geht vielfach um die Analyse vorliegender Deutungen, Interpretationen und Behauptungen, die als Theorien, als Geschehenszusammenhänge, als künstlerischer Ausdruck, als Quellenmaterial oftmals schon selbst im Rahmen diskursiver Auseinandersetzung oder handelnder Interaktion entstanden sind. Die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung sind ‚sprechend‘ und müssen im Rahmen ihrer Erforschung erst definiert werden – was jeweils aus einem bestimmten Fragehorizont heraus geschieht. Das Gespräch ist meistens nicht von sich aus abgeschlossen. Der Forscher steht vor der schwierigen Aufgabe, die schon aus forschungspraktischen Gründen immer notwendige Einschränkung seines Untersuchungsfeldes auch zu rechtfertigen, wobei er das thematische Umfeld dazu einschätzen muss.
Es ist naheliegend, dass sich die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis im Modus der Dialogizität bzw. Intersubjektivität ereignet. Der Diskurs selbst ist diese Forschung. Wer den Forschungstand zu einer geisteswissenschaftlichen Frage benennen will, muss den Stand einer Diskussion referieren. Der Raum des Intersubjektiven, in welchem diese Diskussion geführt wird, ist gewissermaßen der Adressat solcher Forschung. Argumente zur Sache werden ausgetauscht, um deren Triftigkeit wird gestritten. Dialogizität hebt ab auf die Form des Austausches, Intersubjektivität auf die angestrebte Geltung von argumentativen Ansprüchen. Diese Praxis der Anerkennung ist natürlich wiederum nicht an ein Ende in dem Sinn zu führen, dass irgendwann einmal alle einer These zugestimmt haben werden. Sie ist vielmehr prinzipiell relativiert durch die jeweils Anerkennenden.
(3) Geisteswissenschaftliche Forschung ist selten auf der Suche nach Gesetzen. Sie richtet sich vielmehr auf ein besonderes Spezielles, Einmaliges, Einzigartiges, beziehungsweise arbeitet gerade dieses an ihren Gegenständen heraus. Ob die jeweilige Spezifizität mehr den Gegenständen oder der Fragestellung zuzuschreiben sei – das ist für viele geisteswissenschaftliche Forschungsarbeiten selbst wieder eine Untersuchung wert. Aus der Fülle möglicher Gegenstände greift die geisteswissenschaftliche Untersuchung einen Gegenstand nach bestimmten Kriterien heraus, um die jeweilige Besonderheit im Vergleich zu anderen Gegenständen oder Gegenstandsklassen herauszuarbeiten. Dabei ist eine Eigentümlichkeit zu beachten: Die Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung konstituieren sich gewissermaßen erst im Prozess der Analyse, wenn sie beschrieben und abgegrenzt werden. Zu Beginn einer Forschungsarbeit gibt es begründete Vermutungen, Thesen, Ahnungen dazu, und dieser Umstand verweist auf eine Koppelung geisteswissenschaftlicher Forschung an außerwissenschaftliche Sinn- und Relevanzkriterien aus der Lebenswelt, die unumgänglich ist.
Das Spezifische, das Einzigartige eines Forschungsgegenstandes der Geisteswissenschaften interessiert uns dank seiner lebenspraktischen Orientierungsfunktion. Die vermutete Einzigartigkeit eines Gegenstandes ist sogar ausdrücklich der Grund für dessen Erforschung. Das Besondere des Forschungsgegenstandes entsteht durch den Prozess der Zuschreibung von Spezifizität während der Forschungsarbeit, und dadurch wird diese selbst spezifisch. Die Spezifizität des Forschungsprozesses besteht in der aktiven Rolle des fragenden geisteswissenschaftlichen Forschers: In seinen Zuschreibungen, die er mit Detailanalysen und Vergleichen, mit Quellen und Konsistenzüberlegungen erhärtet, entsteht die Spezifizität, die im Ergebnis dem Gegenstand angerechnet wird.
(4) Die schon angedeutete Frage nach der lebenspraktischen Berechtigung einer Perspektivwahl für die Forschung ist zentral. Perspektivität bestimmt die Fragestellung, den Gegenstand und die Vorgehensweise geisteswissenschaftlicher Untersuchungen. Über die Historizität geisteswissenschaftlicher Forschungsgegenstände lässt sich auch ihre Perspektivität plausibilisieren. Die Entwicklung eines faktischen Geschehens (beispielsweise für die Geschichtswissenschaft) oder eines fiktiven Geschehens (etwa für die Literaturwissenschaft) oder eines strategischen Aufgabenbereichs (etwa für die Übersetzungswissenschaft) macht aus der Periode als Forschungsobjekt etwas Besonderes, legt sozusagen von der Sache her eine Wahrnehmungsperspektive fest, die fern von Beliebigkeit ist. Gegenstände erscheinen jeweils in einem neuen Licht, und wissenschaftliche Methoden bieten Zugänge dazu. Gleichzeitig legen sie aber auch Perspektiven, Fragerichtungen und Standards fest; sie schränken also zugleich die möglichen Erkenntnisse über einen Gegenstand auf ihren Einsatzbereich ein. Andere potentielle Gegenstandsbereiche werden aufgrund perspektivischer Beschränkungen gar nicht erfasst. Folglich gilt, dass erst verschiedene Methoden ein näherungsweise vollständiges Bild eines speziellen Forschungsbereichs ermöglichen.
Was ein akzeptierter methodischer Zugang ist, oder was als legitimierend konkretes Erkenntnisinteresse gilt, bildet sich im Prozess der einschlägigen Forschungsgeschichte heraus. Insofern sind perspektivische Entscheidungen forschungshistorisch fundiert, und verschiedene Perspektiven sind grundsätzlich möglich und sinnvoll. Dies erklärt die prinzipielle Multiperspektivität der geisteswissenschaftlichen Forschung; es gibt nicht die eine richtige Schlussfolgerung. Die faktische Verschiedenheit der Zugänge zum Gegenstand als jeweils besonderem im Prozess der Forschung, die als eine sich fortschreibende Forschungsgeschichte verstanden wird, zeichnet die Geisteswissenschaften aus.
(5) Bei der Kategorie Verbalität geht es um die sprachliche Verfasstheit der geisteswissenschaftlichen Forschung. Die meisten Gegenstände der Geisteswissenschaften sind selbst (überwiegend schriftlich) sprachlich verfasst, und der Prozess ihrer Erforschung und die Präsentation ihrer Ergebnisse finden im Medium der Sprache statt. Sprachliche Äußerungen zielen auf einen Austausch, denn Texte sind für Leser gemacht; was aufgeschrieben ist, harrt der Rezeption. Die sprachlich verfassten Forschungsgegenstände werden in der geisteswissenschaftlichen Forschung objektiviert, gegen den Strich ihrer Intentionen gelesen. Die Frage nach dem Warum ihrer Genese ist legitim. Die Interpretation ist freilich bei kanonischen und bei fiktionalen Texten nicht identisch.
Die geisteswissenschaftliche Forschung tritt angesichts der Verbalität ihrer Gegenstände in diesen Prozess von deren Deutung mit ein und setzt ihn fort. Sie mischt sich in ein Gespräch ein, das die Gegenstände schon begonnen haben. Allerdings ist diese Forschung immer auch eine sprachlich durchgeführte Distanznahme vom Gegenstand, sie reflektiert ihre eigene Perspektive genauso wie das Gespräch mit dem Gegenstand, auf das sie sich einlässt, um diesen aus der Nähe zu sehen. Auch Zukunftsgestaltung ist auf Sprache angewiesen, ist diese doch das Medium, in dem gesagt und geschrieben werden kann, was sein soll. Weil Sprache auf Austausch, Dialog, Mitteilung angelegt ist, ist geisteswissenschaftliche Forschungsarbeit wesentlich eine Kommunikationsleistung. Die Qualität der Forschung verlangt eine präzise sprachliche Darstellung. Gemeint sind: begriffliche Klarheit, eindeutige Definitionen, sachangemessene Beschreibungen, eine klare Strukturierung der Darstellung, eine umfassende Schilderung aller wichtiger Details, eine nachvollziehbare Argumentation, ein widerspruchsfreies Aussagensystem, eindeutiges Kenntlich-Machen von Bezügen und Querverweisen: das hieße Verständlichkeit für andere Forscher. In der Kommunikation in Richtung der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit ist dagegen Einfachheit im Sinne einer angemessenen Komplexitätsreduktion gefordert, denn hier kann von weniger geteiltem Fachwissen ausgegangen werden. Einfachheit, die auf Verständlichkeit zielt, muss daher mit Alltagssprache, kurzen Sätzen, sowie bildreichen Erklärungen und Beispielen arbeiten. Die Orientierungsleistungen der Geisteswissensschaften in die Gesellschaft hinein – Identitätsfragen und Zukunftsgestaltung, Fragen der gesellschaftlichen Ordnung, zur Gestaltung individuellen Lebens beispielsweise – können diese nur erbringen, wenn sie verständlich sind und deshalb auch Gehör finden. Dies ist Chance und Verpflichtung zugleich.
(6) In der Kategorie der Reflexivität kommt die geisteswissenschaftliche Forschung sozusagen zu sich selbst. Sie abstrahiert von ihrem Gegenstand und bezieht sich auf ihr eigenes Tun. Dies ist nicht selbstbezügliche Nabelschau, sondern bietet Anknüpfungspunkte für das Verstehen seitens der Rezipienten. Diesen wird vor der eigentlichen Arbeit das Warum der Fragestellung, der methodische Anfang genauso erläutert wie die Beschränkungen, die sich daraus ergeben. Die Perspektiven der konkreten Forschung werden ausdrücklich gemacht, es wird auf das reflektiert, was der eigentlichen Arbeit vorausgeht. Das Reflektieren ist die Generalmethode der Geisteswissenschaften, was allerdings in sehr unterschiedlicher Weise erfolgt. Den sprachlich verfassten Gegenständen der Geisteswissenschaften kann oft eine in unterschiedlichem Ausmaß realisierte Reflexivität selbst zugesprochen werden. Dabei bleibt es schwer, den Gegenstand so klar vom Forschen als Beschreiben und Darstellen zu trennen, wie dies aus analytischen Gründen theoretisch wünschenswert wäre. Mit jedem Reflexionsschritt können auch neue Perspektivierungen verbunden werden, lassen sich Zugänge erläutern und selbst deuten. Eine der größten Schwierigkeiten der geisteswissenschaftlichen Forschung besteht genau darin: dass bereits ihr Gegenstand reflexiv verfasst ist. Das macht seine wissenschaftliche Aufarbeitung im Vergleich zu empirischen Wissenschaften, die einfach zeigen, was und wie etwas ist – losgelöst von menschlichen Einflüssen, Meinungen, Darstellungen und Interpretationen – so anspruchsvoll.
Im Blick auf die geisteswissenschaftliche Forschungsleistung kann man also sagen, Reflexivität gehört zum harten Kern dessen, was geisteswissenschaftliche Forschung ausmacht. Der geisteswissenschaftliche Forschungsprozess ist eine reflektierte, also bewusst erläuterte, prinzipiell nachvollziehbare und vor allem argumentativ ausgetragene Auseinandersetzung eines wissenschaftlichen Niveaus. Dass dies alles mit der Subjektivität der Forscher verbunden ist, ist unausweichlich, aber gerade dies bildet auch Gegenstand der Reflexion.
(7) Mit der Kategorie der Universalität gerät schließlich eine vermeintliche Balance in Gefahr, die selten explizit angesprochen wird, nämlich die Annahme, dass das Terrain zwischen den Naturwissenschaften und den Wissenschaften des Geistes einigermaßen klar abgesteckt sei. Die geisteswissenschaftlichen Deutungsaufgaben machen nun aber vor gar keinem Gegenstand halt, und entsprechend weit gefasst ist der Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften. Er schließt gewissermaßen die Natur und auch das Wirken der Naturwissenschaften mit ein und ist in diesem Sinne universell. Erst zu Beginn des 21. Jahrhundert bekommt ein Bewusstsein für das historische Wachsen der Wissenschaft als zentralem Bereich einer Gesellschaft einen größeren Stellenwert, dort wo man immerhin schon selbstbewusst von einer „Wissensgesellschaft“ spricht. Prioritätensetzungen erscheinen nun erst im richtigen Licht: Geisteswissenschaftler sind nie in der angenehmen Lage, die Relevanz des konkreten Forschungsobjekts einfach unkommentiert unterstellen zu können, sondern stets in der Pflicht, Auswahl und Konstitution ihres Forschungsobjekts angesichts einer prinzipiellen Universalzuständigkeit zu rechtfertigen.
So gesehen sorgt die kategoriale Universalität der geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstände für das genaue Gegenteil von Beliebigkeit: nämlich für einen Legitimationsdruck auf die eigene Forschungsarbeit, schon im Ansatz und durchaus mit Bezug auf außerwissenschaftliche Fragestellungen. Auswahl- und Relevanzentscheidungen sind zu begründen, Hintergründe und Frageperspektiven sind zu erläutern und Zugangsweisen zu plausibilisieren. Während die Universalität forschungspraktisch unproblematisch ist, weil sie großen Themenreichtum zulässt, entsteht für die oft geforderte interdisziplinäre Zusammenarbeit ein Problem. Es ergibt sich nämlich eine Asymmetrie, die der fachübergreifenden Zusammenarbeit eher abträglich ist.
Geisteswissenschaftler haben in solchen Konstellationen damit zu kämpfen, dass die prinzipielle Universalität ihrer Forschungsthemen nicht akzeptiert wird und zudem methodische Schwierigkeiten auftreten, eben weil Geisteswissenschaftler methodisch offener und flexibler sind. Sie kritisieren naturwissenschaftliche Zugänge nicht grundsätzlich, sondern verlangen nur nach ergänzenden Zugängen aus anderen Perspektiven. Und genau mit dieser eingeforderten Multiperspektivität laufen sie in Kooperationen mit Partnern auf, die den eigenen Zugang für den wissenschaftlich einzig möglichen halten. Es sind die Mühen der Perspektivität, die Geisteswissenschaftler in interdisziplinären Konstellationen ihren Partnern abverlangen (müssen). Schwierigkeiten gibt es, wo das Wissenschaftsverständnis der Kooperationspartner von einer Eindeutigkeit geprägt ist, die Geisteswissenschaftlern fremd sein muss.
Wesentliche Gedanken des vorgestellten Buches wurden hier deswegen so ausführlich referiert, weil sie aus Sicht der Rezensentin für Geisteswissenschaftler und so auch für Übersetzungswissenschaftler eminent wichtig sind. Die eingangs erwähnte Unsicherheit geisteswissenschaftlicher Forschung ist ja vor allem dann gravierend und abträglich, wenn die Forscher selbst versuchen, sich am naturwissenschaftlichen Ideal der Eindeutigkeit und Quantifizierbarkeit zu orientieren.[9] Dann entstehen pseudowissenschaftlich bemühte, methodenfixierte aber lebenspraktisch irrelevante Beiträge, die nicht zuletzt auch zu der prekären Lage der Geisteswissenschaften beigetragen haben dürften. Dies gilt besonders für die Übersetzungswissenschaft.[10]
Wenn Geisteswissenschaftler sich ihr eigenes Potential verdeutlichen, dann können sie auch mit mehr Selbstbewusstsein auftreten, damit künftig den Geisteswissenschaften der ihnen zustehende Rang zukommt. Und für das Übersetzen als sprachgebundenes Phänomen wäre zumindest eine geisteswissenschaftliche Ausrichtung neben der szientifisch-strukturalistischen dem Forschungsgegenstand angemessen.
Marcus Beiner: Humanities. Was Geisteswissenschaft macht. Und was sie ausmacht, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 154 Seiten, 24,90 €.
Dr. Marcus Beiner ist seit 2007 Leiter des Dezernates Akademische Angelegenheiten der Universität Bremen. Seit 1994 war er im Wissenschaftsmanagement tätig, zuletzt als Koordinator der Initiative „Pro Geisteswissenschaften“.
Dr. Radegundis Stolze, Dipl.-Übers., ist wissenschaftliche Autorin im Bereich Übersetzungswissenschaft, Lehrbeauftragte am Sprachenzentrum der Technischen Universität Darmstadt und selbständig tätig als Übersetzerin.
[1] Jörn Albrecht: Literarische Übersetzung. Geschichte – Theorie – Kulturelle Wirkung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, 67.
[2] Werner Koller: Einführung in die Übersetzungswissenschaft, 4. völlig neu bearbeitete Auflage, Heidelberg/Wiesbaden: Quelle & Meyer 1992, 215.
[3] Juliane House: Translation Quality Assessment. A model revisited, Tübingen: Narr 1997.
[4] Gideon Toury: Descriptive Translation Studies and beyond, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 1995.
[5] Andrew Chesterman: „A Causal Model for Translation Studies“, in: Olohan, M. (Hg.): Intercultural Faultlines. Manchester: St. Jerome Publishing 2000, 15-27.
[6] Vgl. die Beiträge in dem Kongressband: Yves Gambier et al. (Hg.): Doubts and Directions in Translation Studies, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 2007.
[7] Radegundis Stolze: Hermeneutik und Translation, Tübingen: Narr 2003.
[8] Marcus Beiner: Humanities. Was Geisteswissenschaft macht. Und was sie ausmacht, Berlin: University Press (Lizenzausgabe 2009 für Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt)
[9] Da werden dann zum Beispiel historisch durchgängige Ideen oder zentrale theoretische Aussagen szientifisch als Gegenstände bezeichnet, die sich selbst als „Meme“ fortpflanzen würden; vgl. Andrew Chesterman: Memes of Translation, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 1997. Dabei handelt es sich im geisteswissenschaftlichen Sinn um Betrachtungsweisen, die in gewandelter Form immer wieder auftauchen, wenn sie in neuem Licht erscheinen.
[10] Vgl. Wolfram Wilss: Kognition und Übersetzen. Zu Theorie und Praxis der menschlichen und der maschinellen Übersetzung, Tübingen: Niemeyer 1988. Siehe die bemühte Feststellung: „Nichtwörtliche Übersetzungen erfordern einen größeren Problemlösungsaufwand als wörtliche Übersetzungen, deren Reichweite in der Übersetzungspraxis oft überschätzt, aber auch unterschätzt wird.“ (88) In Katharina Reiß/Hans J. Vermeer: Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen: Niemeyer 1984, wird zum Beispiel ein Faktorenmodell für die Translation entwickelt und unter anderem behauptet, dass die Textsorte die „Verbalisierung des Informationsangebots für den Rezipienten durch den Übersetzer“ (ebd.: 148) beeinflusse. Dabei ist es aber eher der Übersetzer, der eine bestimmte Textsorte erkennt, postuliert und entsprechend formuliert, oder eben auch nicht.
Der Beitrag ist mehr als nur eine exzellente Rezension des Buches von Beiner. Er gibt einführend einen guten Überblick über translatorische Paradigmen; die angekündigten Anregungen durch das rezensierte Buch beschränken sich aber im Grunde auf die bekannten neueren Ansätze in der Translatologie: Hermeneutik, Kognitionswissenschaft, Translation als soziale Praxis im weiteren Sinn (à la Homi Bhabha und Bachmann-Medick). Allemal aber anregend…