Buchcover Der Gaucho im Kometenschweif
Vera Elisabeth Gerling über Nationalstereotype bei Jorge Luis Borges und ihre Übersetzung

Der Gaucho – jener wilde und ungebundene Viehhirte, der zu Pferde durch die Pampa zieht – ist zweifelsohne neben dem Tango ein Nationalstereotyp Argentiniens. Auch im Lande selbst entsteht der Gaucho im 19. Jahrhundert als Identitätsmodell. Schließlich gilt das Werk Martín Fierro, in dem José Hernández diese Gestalt zum heroischen Protagonisten erhebt, als Nationalepos.

Nach wie vor ist ungeklärt, woher die seit dem 18. Jahrhundert bekannten Gauchos eigentlich stammen – sind sie Nachfahren der Ureinwohner, der Immigranten oder gar als Mestizen aus beiden ethnischen Gruppen entstanden? Diese Unsicherheiten mögen zur mythischen Überhöhung der Figur noch beigetragen haben. Jorge Luis Borges folgert daraus, dass die Gauchos nicht über ihre Herkunft, sondern vielmehr durch ihr gemeinsames Schicksal zu definieren seien.

Im 19. Jahrhundert wurde den Gauchos ihr Lebensraum streitig gemacht: Da sie kein eigenes Land besaßen und dieses von der massiven Immigration eingenommen wurde, sahen sie sich gezwungen, in den Großstädten ihr Glück zu suchen. Vorrangig siedelten sie sich in den Vorstädten von Buenos Aires an und wurden so Teil jenes Milieus, in dem auch der Tango entstehen sollte.

Jorge Luis Borges schrieb 1935 eine Erzählung mit dem Titel „Hombre de la esquina rosada“: In einer mit Wörtern aus dem lunfardo, dem Vorstadtslang von Buenos Aires, durchsetzten Rede erzählt hier ein Bandenmitglied, wie der Anführer seiner Gruppe von einem anderen herausgefordert wird, die Provokation jedoch nicht annimmt, sondern das Tanzlokal verlässt. Der Herausforderer wird kurz darauf ermordet und am Ende stellt sich heraus, dass der Ich-Erzähler selbst ihn umgebracht hat. Borges entwirft hier verschiedene Figuren, die den Typus des Gauchos hinsichtlich Rivalität, Machismus, Frauenbild und Machtgehabe parodierend überzeichnen und somit die Gültigkeit als Identitätsmodell in Frage stellen.

Die Übersetzungsgeschichte des modernen Klassikers Jorge Luis Borges im deutschen Sprachraum ist hoch komplex, wie sich bei dieser Erzählung in besonders eklatanter Weise nachverfolgen lässt. Eine Sammlung von Erzählungen des Argentiniers wurde erstmals im Jahr 1959 unter dem Titel Labyrinthe publiziert. Seitdem erschienen unter seinem Namen 30 Erstausgaben und insgesamt 62 Publikationen seiner Werke in achtzehn unterschiedlichen Verlagen und übersetzt von dreizehn verschiedenen Übersetzern. Auch die Erzählung „Hombre de la esquina rosada“ liegt auf Deutsch in fünf Varianten vor: Zunächst 1961 von Karl August Horst entdeckt sowie übersetzt und einmal für eine Neuausgabe 1971 überarbeitet, folgen drei weitere Versionen von Gisbert Haefs (1981, 1988, 1991)[1] – ideale Voraussetzungen für eine Kometenschweifanalyse!

Der Göttinger Sonderforschungsbereich „Die literarische Übersetzung“ bescherte der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft den Terminus „Kometenschweif“, dessen metaphorische Bedeutung Armin Paul Frank und Brigitte Schultze als Untersuchung von „historische[n] Reihen von Mehrfachübersetzungen desselben Werks in ein und demselben Literatur-, Sprach- und Kulturpaar“[2] erläutern. Dies soll ermöglichen, verschiedene Übersetzungsstrategien auch in historischer Perspektive zu beleuchten. Was geschieht nun mit der Parodie des Gauchos beim fünffachen Transfer von Argentinien in den deutschsprachigen Raum?

Für das lunfardo gibt es keine Entsprechung, gewiss. Und warum sollte ein Gaucho auf einmal Berlinerisch oder Bayerisch sprechen? Fatal jedoch, wenn der Vorstadtgauner stilistisch verquast reden wie in den Fassungen von Karl August Horst, auch wenn zwischen der ersten und zweiten Version Unterschiede festzustellen sind. Da sagt der Ich-Erzähler in der ersten Version: „Indem ich höre, wie sie hinten den Platz wechseln“, in der zweiten dann: „Just da höre ich, wie sie hinten zur Seite rücken“, oder auch zunächst: „Der Tango machte mit uns, was er wollte“ und später: „Der Tango verfuhr mit uns nach seinem Willen“. Höflich spricht er sein Gegenüber mit „lieber Herr“ an oder berichtet: „Nicht mehr als dreimal hatte ich mit ihm das Vergnügen“. Hier werden, stilistisch unangemessen, fälschlicherweise freundschaftliche Verbundenheit und höfliche Distanz vermittelt. Formulierun­gen, die der gehobenen Schriftsprache angehören, unterstreichen das hier unangebrachte Bild des gebil­deten Bürgers: „Kommt es doch mir zu, auf den verblichenen Francisco Real die Rede zu bringen“. Er lobt das Tanzlokal folgendermaßen: „so daß es nie an Musikanten fehlte, an gutem Getränk und aus­dauernden Tanzpartnerinnen“. Gar märchenhaft wird es bei Formulierungen wie: „auf Nimmerwiederkehr“, „die Geschichte dieser wunderseltsamen Nacht“, „er hatte seinen Wechsel mehr im Norden“, „die Nacht war ein Wunder an Kühle“, „Er war ein Schoßkind des Glücks, wie man so sagt“. Die durchaus umgangssprachliche Aussage: „Warum macht er nicht Hackfleisch aus diesem Großmaul?“ stellt hier eine überraschende Ausnahme dar.

Bei Haefs hingegen wird die sprachliche Zuordnung zum Gaunermilieu nachvollziehbar in Ausdruck und Schreibweise. Hier finden wir in der jüngsten, fünften Version Textstellen wie: „runtergeschlingert“, „so’n toller Kerl […] in so’nem toten Nest“, „um ihm eine zu kleben“, „um das zu kapieren“, „Der große Kerl hatte sogar eine Frau für diese Nacht aufgerissen“ oder „Himmel bis zum Abwinken“. Haefs nimmt hier auch freilich unkorrekte, aber für Umgangssprache bezeichnende Tempuswechsel in Kauf: „[…] weil da die Lujanera, einfach so, in meine Hütte schlafen kam, und in der Nacht ist Rosendo Juárez für immer aus dem Viertel am Bach verschwunden“. Und einer Figur legt er auch in den Mund: „Wenn ich dich nicht in Stücke schneide, dann nur, weil du mich ankotzt“.

Schauen wir uns zwei Kometenschweife im Detail an. Der erste Fall zeigt die generelle Tendenz der stärkeren Markierung von Umgangssprache. Die von Horst gewählte Wendung „Die Bitterkeit übermannte mich“ ändert Haefs zunächst in „überkam mich ganz schön bitter“; später wird daraus „War mir ganz schön bitter“ und zu guter Letzt „Ist mir ganz schön bitter aufgestoßen“.

Und im folgenden Beispiel wird deutlich, wie sich das Bild vom berittenen argentinischen Cowboy (Borges selbst hätte sich als Titel für die englische Fassung „drugstore cowboy“ gewünscht) beim Gang durch die Übersetzungen verändert: Borges lässt den Ich-Erzähler über den Herausforderer sagen – an dieser Stelle sei für Interessierte auch das Original zitiert: „sabía llegar de lo más paquete al quilombo, en un oscuro, con las prendas de plata“ und präsentiert ihn uns somit als einen stolzen Gaucho, dessen Pferd mit silbernem Zaumzeug ausgestattet ist. Horst verwandelt in der Erstfassung Rosendo in einen des Nachts vagabundierenden Räuber: „Er konnte es sich leisten, mit Sack und Pack in der Kaschemme aufzukreuzen, wenn es finster war, mit dem geraubten Silber“, wohingegen er ihn in der zweiten Version zum vornehmen Freier stilisiert: „Er brachte es fertig, tipptopp geschniegelt ins Bordell zu gehen, im schwarzen Rock mit den Silberknöpfen“. Beide Male unterschlägt Horst den Rappen – was aber wäre ein Gaucho ohne sein Pferd? Haefs schließt den Kreis, indem er ihn zum angesehenen, mächtigen Compadrito zu Pferd werden lässt: „Er kriegte es fertig, tipptopp geschniegelt zum Puff zu reiten, auf einem Rappen, mit silbernem Zaumzeug“.

Die Inszenierung des nationalen Identitätsmodells „Gaucho“ gerät bei Borges zur ironisch vermittelten Parodie. In den deutschen Übersetzungen gelingt dies nur bedingt. Haefs stand immerhin die Möglichkeit zur Verfügung, in den Anmerkungen auf dieses Milieu hinzuweisen. Die Ironisierung und Dekonstruktion dieses Identitätsentwurfs kann in den Übersetzungen somit nur in eingeschränkter Weise wahrgenommen werden. Und doch: Gerade in der Existenz sich komplementär ergänzender und einander widersprechender Versionen bereichern diese Übersetzungen jene „Bibliothek von Babel“, die Borges in seinem Gesamtwerk aus miteinander verwobenen Texten entworfen hat. Gerade in ihrer Vielfalt führen sie somit ein Charakteristikum seiner Texte fort: die Dekonstruktion von Original und Identität!


[1] Vertiefende Informationen zur kuriosen Übersetzungsgeschichte von Borges‘ Werk finden sich in folgenden Texten: Vera Elisabeth Gerling: „Tausendundein Jorge Luis Borges – ein übersetztes Werk als Paradigma für die Literaturwissenschaft“, in: Vittoria Borsò; Christine Schwarzer (Hg.): Übersetzung und Transfer als Paradigma in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Oberhausen: Athena 2006, 81-91; dies.: „Die ‚Spur des Schwertes‘ führt zur ‚Narbe‘. Das Werk Jorge Luis Borges‘ in deutscher Übersetzung als Bibliothek von Babel“, in: Revista de Lengua y Lingüística Alemanas (Sevilla) 1/2007, 37-56.

[2] Armin Paul Frank; Brigitte Schulze: „Historische Übersetzungsreihen I: Kometenschweifstudien“, in: Armin Paul Frank; Horst Turk (Hg.): Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit. (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 18), Berlin: Erich Schmidt 2004, 71-92, hier 72.