Buchcover Wo Jesus auf „Schwein Danki“ reitet
Caroline Grunwald über Bibelübersetzungen in Papua-Neuguinea
Die Übersetzung der Übersetzung der Übersetzung

Urwald, Urwald, Urwald, so weit das Auge reicht. Mittendrin eine kleine Lichtung, von Sago und Kokospalmen umsäumt. Frauen sitzen ums Feuer, ein paar Kinder spielen mit Zuckerrohr, ein Schwein jagt ein Huhn in den Dschungel. Kein Strom, kein Telefon, keine Schule. In einer einfachen Buschhütte sitzen ein paar barfüßige Männer, am Körper und im Gesicht tätowiert. Still sind sie, konzentriert. Sie beugen sich über ein Buch. Es ist die Bibel.

 Die Männer gehören zum Volk der Edolo, einer etwa 1000 Menschen umfassenden Volksgruppe im Bergland Papua-Neuguineas. Ihre Sprache, die zur Gruppe der Papua-Sprachen gehört, wird in ca. sechzehn Dörfern in der Region Southern Highlands gesprochen. Die Dörfer liegen weit auseinander. Doch die Männer haben einen zwei Tage langen beschwerlichen Weg durch den Dschungel auf sich genommen, um zu uns nach Huya zu kommen. Denn sie haben eine wichtige Aufgabe: Sie sind Übersetzer. Sie übersetzen die Bibel in ihre Sprache: in Edolo.
 Auch wir sind Übersetzer und arbeiten dabei mit ihnen zusammen. Unglaublich viele Übersetzungsprozesse laufen in dieser Konstellation ab: Meine Muttersprache ist Deutsch, diejenige meiner Kollegin Englisch, wir beide sprechen Englisch miteinander und haben ein paar Brocken Edolo gelernt. Mit den Edolo sprechen wir dennoch in der Kreolsprache Tok Pisin, der lingua franca in Papua-Neuguinea – einem Land mit immerhin etwa 860 eigenständigen Sprachen. Keiner der Männer kann Hebräisch oder Griechisch, doch meine Kollegin und ich haben die biblischen Texte im Original dabei. Die Edolo übersetzen also aus der Bibel im Nachbardialekt Huli (der bereits eine übersetzte Bibel besitzt) und aus der Bibel auf Tok Pisin, fragen uns (auf Tok Pisin) ggf. nach Bedeutungen im Hebräischen oder Griechischen und erhalten so einen Synthesetext auf Edolo. Diesen wiederum übersetzen wir mit ihrer Hilfe auf Tok Pisin, unserer Arbeitssprache, und mit Blick auf das griechische oder hebräische Original und in unsere eigenen Bibeln auf Englisch, Deutsch, Tok Pisin und Huli interlinear ins Englische ‚zurück‘, um den Text von spezialisierten translation consultants auf lexikalische und graphemische Konsistenz prüfen zu lassen. Unsere ‚Rück‘-Übersetzung ist auch noch in anderer Hinsicht übersetzt: Erstens wird die handschriftliche oder mündliche Edolo-Version in ein Computerprogramm eingegeben – den Laptop betreiben wir übrigens mit Solarenergie -, zweitens ergänzen wir die semantische Bedeutung des Wortes oft durch grammatikalische Informationen (etwa Genus oder Person), und drittens fügen wir häufig Erklärungen zum kulturellen Kontext hinzu.
Hier werden nämlich zwei Kulturen ineinander übersetzt, die unterschiedlicher nicht sein können: das Leben in Israel vor etwa 2000 Jahren und das Leben in einem abgelegenen Urwalddorf in Papua-Neuguinea. Nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch kulturell liegen hier Jahrtausende, Ozeane und Kontinente zwischen Ausgangs- und Zieltext. Meine Kollegin ist zudem im US-amerikanischen Kulturkontext aufgewachsen, ich selbst im europäischen. Von mindestens drei voneinander völlig verschiedenen Kulturen gehen wir also an einen höchst komplexen Text heran, der wiederum in seiner spezifischen Kultur sehr verankert ist.

Heute zum Beispiel übersetzen wir das Matthäusevangelium, genauer: die Bergpredigt. In Kap. 5, V. 34 – 35 sagt Jesus in Luthers Übersetzung von 1545 (Orthographie angeglichen): „Ich aber sage euch, daß ihr allerdinge nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl [Thron]; noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist eines großen Königs Stadt[.] “, in der King James Version (1769) auf Englisch: „But I say unto you, Swear not at all; neither by heaven; for it is Gods throne: Nor by the earth; for it is his footstool: neither by Jerusalem; for it is the city of the great King.“ Nun gibt es in Edolo kein Wort, keinen verbalen Ausdruck, für den Vorgang des Schwörens. Zwar ist das Schwören eine traditionelle Handlung, und die Edolo tun es auch, sie benennen es nur nicht. Wer schwört, legt in der Edolo-Kultur den Zeigefinger seiner rechten Hand an die Nase und redet laut – oder, auf Tok Pisin, „strongpela toktok“, was auch ‚eindringlich‘, ‚heftig‘ oder ‚hart‘ bedeuten kann. Im Englischen heißt es in unserer ‚Rück‘-Übersetzung also: „Don’t put the finger of your right hand on your nose and speak loudly [or: talk strongly]“, also auf Deutsch: „Lege den Finger deiner rechten Hand nicht an die Nase und rede laut [oder: eindringlich].“

Ein zweites Problem taucht in diesem Vers auf: in der Edolo-Kultur gibt es keine Stühle, geschweige denn Throne. Die Menschen leben in einfachen Hütten ohne jegliche Möblierung, in deren Mitte sich eine Feuerstelle befindet. Nur an einer Seite der Hütte gibt es oft eine Art Erhöhung, auf der der älteste, am meisten respektierte Mann der Familie sitzt und schläft. Dieser Teil der Hütte kann im Englischen in etwa mit „bed“, im Deutschen also mit „Bett“ wiedergegeben werden. Wo Gott im Deutschen auf seinem Thron sitzt, liegt er also in der Edolo-Bibel im Bett!

Später kommen wir im Matthäusevangelium zu Kapitel 21, Jesu Einzug in Jerusalem. Die Revidierte Elberfelder Übersetzung (2006) übersetzt Kap. 21, Vers 5: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig und auf einer Eselin reitend, und [zwar] auf einem Fohlen, dem Jungen eines Lasttiers[.]“, in der englischen New International Version (NIV, revidiert 2000) heißt es: „Say to the Daughter of Zion: See, your King comes to you, gentle, and riding on a donkey, on a colt, the foal of a donkey.“ In den Gesichtern der Edolo-Übersetzer stehen Fragezeichen: Denn was ein „donkey“ – sie sprechen: danki -, ein Esel, ist, wissen sie nicht. In ihrem Land sind Schweine die größten Tiere, die man sich vorstellen kann. Nach langem Hin- und Herüberlegen auf Tok Pisin, Edolo, Huli und Englisch setzt sich Jesus in der Edolo-Bibel nun also auf „pig Danki“, das „Schwein Danki“, und zieht feierlich nach Jerusalem ein!*

Und was rufen die Menschenmassen, als sie Jesus auf „Schwein Danki“ kommen sehen? In der King James Version heißt Vers 9: „Hosanna to the Son of David: Blessed is he that cometh in the name of the Lord; Hosanna in the highest!”, „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobet sei, der da kommt in dem Namen des HERRN! Hosianna in der Höhe!“ bei Luther. Und auf Edolo schließlich rufen die Menschen begeistert: „Agua! Nesege!“. Den Ausdruck benutzt man, um Freude und Überwältigung über etwas Neues, Einzigartiges auszudrücken. Die beste englische Übersetzung, die uns einfiel, ist: „Wow! Thank you!“ So reitet also Jesus also auf „Schwein Danki“ nach Jerusalem, und die Menschen sind begeistert und rufen: „Wow! Danke!”

Schließlich kommen wir zum Lukasevangelium. In Kap. 11, Vers 11 heißt es in der Revidierten Elberfelder Übersetzung: „Wen von Euch, der Vater ist, wird der Sohn um Brot bitten – und er wird ihm stattdessen einen Stein geben? Oder auch, wenn er um einen Fisch bäte – er wird ihm doch nicht eine Schlange geben?“, in der King James Version: „If a son shall ask bread of any of you that is a father, will he give him a stone? or if he ask a fish, will he for a fish give him a serpent?“ Auch das stellt die Edolo-Übersetzer vor viele Rätsel: Sie kennen kein Brot; in ihrer Kultur ist das Grundnahrungsmittel kaukau, eine Süßkartoffel. Außerdem essen sie Schlangen. Allerdings nur solche, die nicht giftig sind – auf Tok Pisin „gutpela“, „good“, gut, im Gegensatz zu „nogut“, also „bad“, schlecht, giftig. Darum heißt es in der englischen ‚Rück‘-Übersetzung: „If your son asks you for a kaukau, will you give him a stone? Or if he asks for a fish, will you give him a killed bad snake?“, also auf Deutsch in etwa „Wenn dein Sohn dich um eine kaukau bittet, wirst du ihm dann einen Stein geben? Oder wenn er um einen Fisch bittet, wirst du ihm eine tote böse Schlange geben?“

Um vom griechischen und hebräischen Urtext zur Edolo-Bibel zu kommen, muss über viele tiefe Gräben über(ge)setzt werden: Sprache, Zeit, Religion, Lebenswelt. Das Ergebnis ist eine Meta-Übersetzung, die aus einer Übersetzung der Übersetzung der Übersetzung (der Übersetzung der Übersetzung) entstanden ist. Doch dieses hochkomplexe Gebilde spricht in ganz einfacher Weise zu den Menschen der Edolo-Sprachgruppe: Es ist das erste und einzige Buch in ihrer eigenen Sprache, sie verstehen es, weil es ihre Sprache spricht und aus ihrer Lebenswelt kommt. Und so, nur so, kann es zu ihren Herzen sprechen.

Walter Benjamin zitiert in seinem Aufsatz über die Aufgabe des Übersetzers (1923) Rudolf Pannwitz: „unsere übertragungen auch die besten gehen von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen“, und nennt dies die „wahre Bedeutung der Freiheit“: „[es] berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetz der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.“ (In: Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, S. 20). Beim Bibel-Übersetzungsprojekt in der Edolo-Sprache wird das Hebräische und das Griechische ver-Edolo-t. Die Übersetzung überträgt den ‚Sinn‘, und verfolgt doch ihre eigene Sprach- und Kulturbewegung. Gut, dass die Übersetzer hier sagen können: Ich bin so frei.
 

 *Anm. d. Verf.: Dabei ist allerdings kein tatsächliches Schwein gemeint: Das Schwein dient lediglich als Platzhalter für das Konzept ‚großes Tier‘. In einer überarbeiteten Version wird mit einem Bindestrich („pig-danki“) deutlich gemacht, dass es sich nur um ein großes Tier – etwa so groß wie ein Schwein – mit dem Namen „danki“ handelt. Außerdem wird die Edolo-Bibel bebildert, und die Abbildung eines Esels schafft hier Klarheit.