Wie sähe die Geschichte von Oscar Wildes Dorian Gray aus, wenn sie hundert Jahre später spielen würde? Will Self, der Autor bekannter Romane wie My Idea of Fun, hat sich dieser Frage angenommen. Dorian. An Imitation ist ein Kunstwerk für sich geworden. In drei Akten wird die Geschichte um Dorian Gray, Basil Hallward, Henry Wotton und zahlreiche andere Charaktere, deren Namen teilweise übernommen wurden, in die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts versetzt. Will Self lässt seine Erlebnisse und Erfahrungen als Ex-Junkie mit einfließen und so landet man in einer Szene, die von Drogen, Homosexualität und AIDS geprägt ist.
Wir befinden uns zunächst im Umfeld der Londoner Oberschicht der 80er Jahre. Basil Hallward, ein von Dorian besessener Künstler, schafft eine Videoinstallation, mit der er die Jugend und Schönheit des jungen Mannes für immer festhalten will. Nun taucht auch Henry Wotton auf, ein Liebhaber von Bonmots und Aphorismen, und ist so begeistert von dem zarten Dorian, dass er ihn zu seinem Schützling erklärt. Die Theaterbesuche aus Wildes Klassiker werden durch Drogenexzesse ersetzt, Liebschaften mit Frauen durch Liebschaften mit Männern, und das berühmte Bildnis des Dorian Gray durch neun Videobänder mit nackten Ebenbildern Dorians, die an seiner Stelle altern. Und so endet der erste Akt mit einer Vernissage, die in eine von Sex und Drogen bestimmte Orgie ausartet. In den folgenden beiden Akten werden daraufhin die 90er Jahre skizziert. Durch Rückblicke erfährt der Leser vom wilden Leben der Charaktere während der letzten zehn Jahre und dessen Konsequenzen – das AIDS-Virus verschont keinen. Keinen außer Dorian. Dieser ist schön und gesund wie eh und je, obwohl auch seine Lebensweise alles andere als unschuldig war…
Nun könnte man meinen, man kenne den ungefähren Verlauf der Geschichte, wenn man die Vorlage gelesen hat. Doch überrascht Selfs Roman immer wieder durch neue Wendungen und vor allem durch einen Schluss, den wohl keiner erwartet hätte. So rasant, wie das Leben am Ende des vergangenen Jahrhunderts war, wird der Leser zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her geworfen und verschlingt den Roman nicht zuletzt wegen seines herrlich zeitgenössischen Sprachstils. Die interessante Mischung der verschiedensten Charaktere spiegelt sich in den Dialogen wider: von Wottons hochgestochener und schlagfertiger Ausdrucksweise über den Slang der Dealer und Transsexuellen bis hin zum australischen Akzent werden alle Register gezogen.
Der erfahrene Übersetzer, Journalist und Autor Robin Detje hat den 2002 in England erschienenen Roman fünf Jahre später auch für den deutschen Leser zugänglich gemacht und damit ein ganz eigenes Werk geschaffen. Die Übersetzung ist so eigenwillig, dass man zunächst über Ausdrücke wie „Gequackel […], das munter weiterquackelte“ („the drawl, which continued“) oder „als der Kellner […] davongeklackert war“ („when the waiter had clicked off“) stolpert, aber gerade diese mit der Zeit lieb gewinnt. Außerdem ist Detje ohne Zweifel ein Freund der Alliteration. So wird zum Beispiel aus „the acned acme of all“ der „Geifer giftende Gipfel des Ganzen“ und aus „stupid squad“ die „tumbe Truppe“. Detje übernimmt auch andere rhetorische Figuren gut und gerne, so etwa das Trikolon „The rey and bray and hooray of wealthy fun“, das bei ihm zu „das Geschiebe und Getriebe und Gejohle teurer Vergnügungen“ wird. Hier ersetzt er Endreime durch Stabreime, wodurch das Original stilistisch äquivalent ins Deutsche übersetzt wird. Nebenbei wird der Leser immer wieder daran erinnert, dass sich die Originalgeschichte in England abspielt. So übernimmt Detje Wörter wie „lunch“ einfach und setzt sogar weniger geläufige Begriffe wie den Namen des Spielzeugs „Etch-A-Sketch“ als dem deutschen Leser bekannt voraus. Um den Witz des Originals zu wahren, werden einige Stellen einfach auf Englisch beibehalten und der deutschen Grammatik angepasst. Da lautet der Gedanke zu einer berühmten Songzeile schon mal „Er hat mich immer näher […] an die edge gepusht.“ Hätte Detje Wortspiele, die sich auf einen englischen Song beziehen, oder ein Spielzeug, das hierzulande eher unbekannt ist, wortwörtlich auf Deutsch wiedergegeben, wäre die Übersetzung um einiges langweiliger und unschlüssiger geworden. Dafür mussten Personen, die im Original in englischem Slang sprechen, nichts von ihrer Persönlichkeit einbüßen. Detje hat das Nuscheln und die raue Sprache der Straße wunderbar ins Deutsche übertragen. Und dass er den australischen Akzent einer der Hauptpersonen nicht übernommen hat, ist verständlich, denn es wird anfangs sowieso erwähnt, dass es sich um einen Australier handelt, und diesen Umstand in der deutschen Sprache wiederzugeben, ist nicht nur schwierig, sondern würde auch unnötig gekünstelt klingen.
Mit Dorian ist Will Self im englischen Original wie auch Robin Detje in der deutschen Übersetzung jeweils ein literarisches Kunststück gelungen, das auch jene Leser anspricht, die den Klassiker von Oscar Wilde nicht kennen.
—
Will Self: Dorian – Eine Nachahmung, aus dem Englischen übersetzt von Robin Detje, Berlin: Berlin Verlag 2007, 350 Seiten
Will Self: Dorian – An Imitation, London: Viking 2002, 278 Seiten