Wie auch schon in anderen Texten beschäftigt sich Elia Barceló in ihrem neuen Roman Das Rätsel der Masken (Disfraces terribles, 2004) mit der Vergangenheit. Dieses Mal geht es um das Leben des fiktiven argentinischen Schriftstellers Raúl de la Torre, um dessen Figur eine fesselnde Geschichte über Macht und Ohnmacht, Liebe und Abhängigkeit sowie Fakten und Fiktionen entsteht.
Der junge französische Literaturwissenschaftler Ariel Lenormand erhält ein Stipendium, um die Biographie des großen argentinischen Schriftstellers de la Torre zu schreiben, der sich in den 1990er Jahren in Paris das Leben nahm. Zielsetzungen dieser Biographie werden bereits im ersten Kapitel des Romans deutlich, das die Buchpräsentation des Werkes, an dem Lenormand schreibt, vorwegnimmt: „die Zusammenführung eines schillernden Mosaiks“, „der Mensch, das Werk, die Gesellschaft seiner Zeit“, „eine außergewöhnliche Biographie“, „Raúl de la Torre, der Wortakrobat.“ Dieses Mosaik versucht Lenormand zusammenzusetzen und muss dabei feststellen, dass die Vergangenheit fremd bleibt und sich seinen Ermittlungen entzieht. Die Romanhandlung spielt größtenteils in Paris, jedoch zu verschiedenen Zeiten. So finden sich immer wieder Rückblicke in die 70er Jahre, die Zeit, in der Raúl de la Torre und mit ihm der lateinamerikanische Boom seine Erfolge feierte. Der Literaturwissenschaftler sucht nach Zeitzeugen, um die bisherigen Lücken in de la Torres Lebenslauf zu schließen: Was veranlasste ihn zum Selbstmord? War der Tod seiner zweiten Frau wirklich ein Unfall? Wieso gestand er öffentlich seine spät erkannte Homosexualität? Diese und viele weitere Fragen beschäftigen Lenormand, doch muss er sich jedes Mal wieder eingestehen, dass es keine gültige Wahrheit über das Leben de la Torres gibt und seine Zeitzeugen die Vergangenheit aus ihrer eigenen Perspektive erzählen.
Das Erzählen wird zu einem wichtigen Handlungsträger, literaturwissenschaftliche Themen und Strömungen werden benannt, diskutiert, scheinbar vorweggenommen. Ganz nebenbei stellt das Buch auch die Frage, was Literaturwissenschaft eigentlich leisten kann, was den Reiz von Biographien ausmacht, und es beschäftigt sich mit der Rolle des Forschers als Detektiv: „Genauso ist jeder Forscher, selbst wenn sein Gegenstand die Literatur ist, ein Detektiv, ein private eye, wie es in amerikanischen Romanen heißt und womit trefflich beschrieben ist, was sich hinter jeder Nachforschung verbirgt: the eye, das Auge, das beobachtet, registriert und Verbindungen zieht.“ Und so ist das Buch auch konzipiert: es beobachtet, oszilliert zwischen verschiedenen Perspektiven und Genres, stellt Hypothesen über die Vergangenheit auf, um diese schließlich doch wieder in Frage zu stellen.
Die gelungene Übersetzung dieses Romans liest sich flüssig und leicht und gleicht insofern dem Original. Abgesehen von kleinen lexikalischen Ungenauigkeiten (wenn zum Beispiel zwei der Protagonisten vor Ekel „aufkreischen“: ein etwas zu starkes Bild für die „ruidos de asco“ im Originaltext), trifft die Übersetzerin sowohl den Stil als auch die Metaphorik der Autorin und bereitet dem deutschen Leser ein vergleichbares Lesevergnügen wie den Lesern des Originals. Stefanie Gerhold schafft es meisterhaft, zwischen den verschiedenen Genres und Erzählperspektiven sowie den verschiedenen Erzählzeiten und der damit verbundenen Wortwahl und Patina hin und her zu wechseln und die unterschiedlichen Protagonisten lebendig werden zu lassen. Auch die Sprachenvielfalt der Figuren ist ein zentrales Thema des Romans und somit eine Herausforderung für die Übersetzerin, die sich nicht der originalsprachlichen Mittel, wie des argentinischen Spanisch de la Torres, bedienen kann. Dieser kaum zu kompensierende Verlust ist jedoch in dem Roman immer wieder präsent, da die verschiedenen Sprachen der Protagonisten auf einer Metaebene thematisiert werden („Raúls Französisch war für jemanden, der die Diplomatenschule besucht hatte, erbärmlich, und als wir uns kennenlernten, wechselten wir gleich ins Spanische, im übrigen fand ich, die ich den Akzent meiner baskischen Familie gewöhnt war, sein Argentinisch einfach nur süß und provinziell“). Auch für besondere Schwierigkeiten, wie die häufigen Sprachspiele, findet die Übersetzerin kreative Lösungen: „Wir dachten an Nie sein oder Amor a Roma. Beides sind Palindrome“ („Tenemos Somos o no somos o Amor a Roma. Los dos son palíndromos“). Die Beibehaltung des Spanischen gliedert sich wunderbar in den restlichen Text ein, der immer wieder kleinere fremdsprachliche Einschübe aufweist, und lässt so den Leser des deutschen Textes ein bisschen Fremdheit mitempfinden. Insgesamt ein sowohl im Original als auch in der Übersetzung sehr zu empfehlender Roman über die Liebe zur Literatur und die vergebliche Suche nach einer einzigen Wahrheit.
—
Elia Barceló: Das Rätsel der Masken, aus dem Spanischen übersetzt von Stefanie Gerhold, München: Piper 2006, 521 Seiten, €22,90
Elia Barceló: Disfraces terribles, Madrid: Lengua de Trapo 2004, 572 Seiten
Elia Barceló wurde 1957 in Alicante geboren und lebt seit 1981 in Innsbruck. Dort unterrichtet sie spanische Literatur, Landeskunde und creative writing. 1996 promovierte sie über den lateinamerikanischen Schriftsteller Julio Cortázar. Für ihre Romane wurde sie in Spanien bereits mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. In Deutschland sind von ihr erschienen: Das Geheimnis des Goldschmieds (2003) und Das Rätsel der Masken (2006), beide im Piper Verlag.
Stefanie Gerhold wurde 1967 in München geboren. Sie übersetzt Literatur aus dem Spanischen, darunter Gustavo Martín Garzo und Manuel Vázquez Montalbán sowie die Werkausgabe von Max Aub. 1999 erhielt sie den Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft in der Kategorie junge Übersetzer.