Seit einigen Jahren ist der Brasilianer Paulo Coelho in Deutschland bekannt wie kein anderer Autor seines Landes. Seine Bücher werden, sobald sie in Brasilien erscheinen, ins Deutsche übersetzt und stehen regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Doch was macht den besonderen Reiz von Coelhos Romanen aus? Kleine, schlichte Geschichten sind es zumeist, die vom größten Abenteuer handeln, das ein Mensch in seinem Leben zu bestehen hat: der Reise zu sich selbst.
Auch in Coelhos Roman Elf Minuten geht es um eine solche Reise: Erzählt wird die Lebens- und Liebesgeschichte der jungen Brasilianerin Maria. Mit elf Jahren verliebt sie sich zum ersten Mal, doch als ihr Angebeteter sie anspricht und um einen Bleistift bittet, ist sie so erschrocken, dass sie wegläuft. Auch später hat sie kaum mehr Glück: Liebeskummer, der Neid der Freundinnen und die falsche Art zu küssen bringen jede Beziehung zum Scheitern. Eines Tages reist Maria nach Rio de Janeiro und lernt dort einen Schweizer kennen, der sie nach Europa mitnimmt. Maria arbeitet erst als Sambatänzerin, dann als Prostituierte im „Copacabana“, dem teuersten Nachtclub von Genf. Lange Zeit glaubt sie, ihre Gefühle und ihren Körper gleichermaßen unter Kontrolle zu haben und mit den Männern spielen zu können wie mit Figuren auf einem Schachbrett – und zunächst gelingt es ihr tatsächlich, nur ihren Körper, nicht aber die Seele berühren zu lassen. Doch dann trifft sie auf den Maler Ralf Hart, der in ihr nicht die Prostituierte sieht, sondern eine Frau, deren Herz er gewinnen möchte. Und Maria entdeckt, dass auch sie fähig ist zu lieben …
So viel zur Story, die, auch wenn sie dem Nachwort zufolge auf wahren Begebenheiten beruht, ebenso altbekannt wie kitschig anmutet. Herausragend und bemerkenswert ist allenfalls die Art und Weise, wie Maria zu der Entscheidung gelangt, diese Arbeit für ein Jahr anzunehmen: ohne Zwang, aus freiem Willen, mit dem Plan, von dem verdienten Geld in Brasilien eine Farm zu kaufen.
Elf Minuten ist ein Buch über die Liebe: über Gefühle und Sex, Körper und Geist, Geben und Hingeben, Wunsch und Wirklichkeit; ein Buch, das zugleich tröstet und Angst macht, Fragen aufwirft und andere beantwortet. Es ist ein Buch wie Coelho schon manch eines geschrieben hat, doch Elf Minuten fehlt der Zauber und die Ausstrahlung, die beispielsweise Der Alchimist besitzt – ein Unterschied, der dem nur allzu irdischen Thema von Elf Minuten geschuldet ist. Die größte Schwäche der deutschen Fassung liegt demnach leider im Originaltext selbst, was sich an einem erzählerischen Mittel des Originals allzu deutlich zeigt: Marias Tagebuchaufzeichnungen, die neben dem Bericht des Erzählers einen zusätzlichen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin vermitteln sollen, passen allzu oft inhaltlich wie stilistisch nicht zu der Figur, die der Roman entwirft. Es ist kaum glaubhaft, dass eine Fünfzehnjährige schreibt: „A vida é muito rápida; faz a gente ir do céu ao inferno em questão de segundos“ (in der deutschen Fassung: „Das Leben rast mit uns dahin, und innerhalb von Sekunden gelangen wir vom Himmel in die Hölle“). Das Problem ist hier nicht die gestelzte Wortwahl – die erklärt Coelho mit Marias Erwartung, dass eines Tages jemand ihre Aufzeichnungen lesen wird –, sondern der Topos des Tempus fugit, der Jugendlichen in aller Regel noch fern liegt. Später, als Maria älter ist, nimmt diese Diskrepanz zwischen Figur und Gedanken ab; dafür nähert sich dann der Inhalt der Tagebucheinträge dem, was im übrigen Text ohnehin schon wortreich geschildert wird, so dass sie oft redundant wirken. Die Vermutung liegt nahe, dass die Tagebucheinträge als Sprachrohr für Coelhos Spiritualismus und seine Überlegungen zu Liebe, Leben und deren Sinn dienen sollen – mit der Figur der Maria haben sie leider weniger zu tun als der Glaubwürdigkeit gut täte.
An diesen Schwächen des Textes kann Maralde Meyer-Minnemann mit ihrer Übersetzung wenig ändern, doch abgesehen davon ist die deutsche Fassung gut getroffen. Die Romanheldin Maria entstammt einer Gesellschaft, einer Kultur, einer Sprache, die, in Deutschland noch immer fern und nahezu unbekannt, allenfalls den Reiz des Exotischen genießt; Meyer-Minnemann ist es indessen gelungen, Marias Gedanken so zu formulieren, dass in ihnen nicht die Brasilianerin und nicht die Prostituierte spricht, sondern die Frau, deren Empfindungen jede Frau auf der Welt irgendwie teilen und verstehen kann. Der deutsche Text erzählt in schnörkellosen Sätzen von Glück, Traurigkeit und großen Gefühlen, schafft mit wenigen Worten Stimmungen und nennt, wenn es sein muss, die Dinge beim Namen, ohne vulgär zu wirken.
Obwohl Coelhos Original zumeist in ungekünstelter Alltagssprache daherkommt, stand die Übersetzerin wohl durchaus vor manchen Schwierigkeiten; dazu gehören etwa kulturspezifische Elemente wie Figuren aus der brasilianischen Mythenwelt. Die „Liebes- und Meeresgöttin Iemanjá“ dürfte dem deutschen Leser kaum geläufig sein, aber durch den erklärenden Zusatz weiß er, wie er sich diese kapriziöse Dame vorzustellen hat. Auch Märchenfiguren wie „Mula-sem-cabeça“, das „Maultier ohne Kopf“, oder „Lobisomem“, den „Werwolf“, erklärt Meyer-Minnemann knapp und unaufdringlich durch ihre Übersetzungen der Namen.
Ein weiteres Übersetzungsproblem stellen die Anredeformen dar, denn „Du“ und „Sie“ werden im Portugiesischen und Deutschen nicht immer deckungsgleich verwendet. So siezt beispielsweise die fünfzehnjährige Maria ihre Mutter, was in Brasilien gerade in ländlichen Gegenden durchaus die Regel, in Deutschland aber absolut unüblich ist. Das „Sie“ würde in der Übersetzung Distanz schaffen und den Leser so unter Umständen zu falschen Interpretationen führen – weshalb sich Meyer-Minnemann an dieser Stelle für das „Du“ entschieden hat. Ebenso ist es völlig vertretbar, dass Maria – je nach Alter, Situation und Vertrautheit – manche ihrer Freier duzt und andere siezt. Doch in ihrem ersten Gespräch mit dem Maler Ralf Hart, das nicht im Nachtclub, sondern in einem Café stattfindet, duzen beide sich in der deutschen Fassung vom ersten Wort an; im Original hingegen redet Ralf sie mit „você“ an, der ungefähren Entsprechung des deutschen „Du“, während Maria zu ihm „Senhor Hart“ sagt und damit ihrerseits eine deutliche Distanz zu ihm ausdrückt, die in der Übersetzung fehlt: Dort wirken sie durch das Duzen von Beginn an recht vertraut, auch wenn sonst zwischen ihnen alles andere als herzliches Einvernehmen herrscht.
Leider fehlen in der Übersetzung zuweilen kurze Sätze oder Satzteile, so etwa der interessante Hinweis, dass die Stadt, in der Maria lebt, zwei Namen hat: Für ihre frankophonen Bewohner heißt sie Genève, bei Marias brasilianischen Kolleginnen Genebra. In der Übersetzung käme als dritter sogar noch der deutsche Name Genf hinzu, was dem Leser vor Augen führen würde, welche verschlungenen Pfade eine Geschichte manchmal geht, bevor er sie liest: Hier wird eine Handlung, die im französischsprachigen Raum spielt, aus dem Blickwinkel einer Fremden auf Portugiesisch erzählt und sodann ins Deutsche übersetzt.
Elf Minuten ist ein Buch, wie man es von Paulo Coelho kennt und das in der guten Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann seit seinem Erscheinen schon viele deutschsprachige Leser gelockt hat, Maria auf dem Weg zur Erfüllung ihrer Liebe und ihres Lebens zu begleiten. Vielleicht hat der eine oder andere dabei auch zu sich selbst gefunden … Und wem dies in Elf Minuten noch nicht gelingen mochte, dem bleibt immer noch die Hoffnung auf Coelhos nächste Bücher als Gelegenheiten zu Einkehr und Besinnung.
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Paulo Coelho: Elf Minuten, aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann, Zürich: Diogenes 2003, 284 Seiten, €8,90
Paulo Coelho: Onze minutos, Rio de Janeiro: Rocco 2003, 255 Seiten
Paulo Coelho, 1947 in Rio de Janeiro geboren, ist wahrscheinlich der bekannteste brasilianische Schriftsteller der Gegenwart und wurde bereits mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Er hat bislang rund ein Dutzend Romane verfasst, die sehr erfolgreich waren und in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt wurden; dazu gehören beispielsweise O alquimista (Der Alchimist, 1993), O demônio e a Senhorita Prym (Der Dämon und Fräulein Prym, 2001) und O Zahir (Der Zahir, 2005). Charakteristisch für Coelho ist seine spirituelle Weltanschauung, die auf persönlichen Erfahrungen beruht und sich in seinen Büchern niederschlägt.
Maralde Meyer-Minnemann, 1943 in Hamburg geboren, hat Romanistik studiert und ist Dolmetscherin und Übersetzerin für die Sprachen Spanisch und Portugiesisch. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sie fast alle im Schweizer Diogenes Verlag erschienenen Romane von Paulo Coelho ins Deutsche übertragen. Außerdem hat sie auch Werke von António Lobo Antunes, Manuel Vázquez Montalbán und Mario Vargas Llosa übersetzt. 1998 wurde sie mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet.