Einem Menschen einen Namen zu geben, heißt, sich ein Bild von ihm zu machen. Er kann diesem Bild fortan entsprechen, er kann ihm aber auch nicht gerecht werden. Die Dinge zu benennen, ihnen einen wissenschaftlichen Namen zu geben, heißt, sich einen Begriff von ihnen zu machen, heißt zu versuchen zu verstehen. So lautet im Groben einer der Erfahrungssätze aus La théorie des nuages (2005), dem Roman, mit dem der Franzose Stéphane Audeguy in Frankreich zum Kritikerliebling wurde, in Deutschland allerdings auf wenig Gegenliebe stieß. Als „Abenteuer-Wissenschaftsroman“ erschien er 2006 bei SchirmerGraf in der Übersetzung Elsbeth Rankes unter dem Titel Der Herr der Wolken – ein Titel, der ein trügerisches Bild entwirft. Denn indem der Verlag einen Titelhelden ernennt, verschiebt er den Akzent von der Reflexions- auf die Handlungsebene, weckt jedoch Erwartungen, die das Buch nicht hält, nicht halten will.
Es ist die Geschichte eines Abenteuers – im übertragenen Sinn. Audeguy skizziert eine Etappe der Menschheitsgeschichte: vom Mythos zum Logos, dargestellt am Bild der Wolke. Von der Wolke als Zeichen göttlicher Launenhaftigkeit zur Wolke als Projektionsfläche großer Geister zu ihrer analytischen Beschreibung als Cirrus, Stratus, Cumulus und Nimbus. Luke Howard, Goethe, Carmichael heißen die Helden der Erzählung. Naturforscher, Universalgelehrte, Landschaftsmaler fassen den Nimbus eines Naturphänomens in Formeln, Poesie und Farbe. Die Wolke als Leitmotiv, der Nimbus als Leitgedanke.
Zugleich ist es die Geschichte einer Ohnmacht. Während die Forscher sich einen immer exakteren Begriff ihres Objekts machen, sich ihren Aktionsrahmen mithilfe der Terminologie erweitern, ist der Aktionsradius der Hauptfigur begrenzt. Der pensionierte Modezar Akira Kumo, altersschwach und lebensmüde an den Rollstuhl gefesselt, hat sich in seine Privatbibliothek zurückgezogen. Hinter der verglasten Fensterfront ziehen die Wolken an seinem Blick vorüber, auf den Regalen hinter seinem Rücken reihen sich die Ergebnisse ihrer jahrhundertelangen Erforschung: das Gesamtwerk der Meteorologie in Wort und Bild. Die Erfahrungs- und Forschungsberichte der Wissenschaft sind das Futter seines eigenen Stoffs: Die Atomwolke über Hiroshima riss ihn als Junge aus seinen geordneten Verhältnissen und ließ ihn als Waise zurück. Als Erwachsener versucht er der dem Kind unbegreiflichen Sphäre der Wolken Herr zu werden – durch ihre wissenschaftliche Erschließung. Hier trifft sich die Logik des Wissenschaftlers mit der des Geschichtenerzählers: beide, Literatur und Wissenschaft, dienen dazu, sich die Welt zu erklären. Doch den Hegemonieanspruch, den Akira Kumo seinen Helden einräumt, unterläuft der Text, denn das Pathos des weltdeutenden Erzählens wird stets von sanfter Ironie gebrochen. So ist der Stoff des Erzählens das Erzählen selbst, der Nimbus großer Männer nur sein Anlass. Es ist das Abenteuer Wissen, das den Erzählfluss vorwärts treibt. Die Lust am Entdecken, Erforschen, Fabulieren. Die Lust am Gewahrwerden. Die unermüdliche Suche nach der Sprache, die Dinge beim Namen zu nennen. Und wieder: der nie versiegende Erzählfluss – mal energisch vorwärts drängend, mal erquicklich plätschernd, mal monumental in epischer Breite, mal mühsam sich durch Ödland schlängelnd – ein Fluss, in dem sich manchmal Formen bilden und zu Geschichten formieren. Die Wolken dagegen sind nur Teil eines ewigen Kreislaufs, bilden immer wieder neu immer gleiche Formen, die sich vorübergehend zu Formationen bilden und verpuffen – wie zu hohe Gedankengebäude.
Zwischen den Nuancen von geistigen Höhenflügen und geerdetem Erzählen changiert der Text, hält aber spielend die Balance. Für diese vielgerühmte „Eleganz“ des Französischen erhielt der Roman 2005 den ersten Prix du Style des literarischen „Labels“ Plume et Plomb, dessen Jury Autoren wie Philippe Delerm oder Frédéric Beigbeder angehören. Das Deutsche überzieht den Text jedoch gelegentlich mit zu viel Patina. Wo der französische Satz den Eindruck erweckt, durch die minutiöse Verkettung beliebig vieler Satzglieder den Gedanken sukzessive vorwärts zu treiben, wirkt der deutsche Schachtelsatz mit seiner Verbendstellung schnell behäbig. Elsbeth Ranke überträgt die Eleganz der Syntax daher auf das Vokabular, was leicht pretiös wirkt. Die deutsche Erzählstimme kommt daher mitunter sehr getragen daher, ihr Pathos erstickt an manchen Stellen die feine Ironie. Im Deutschen sprechen eben nicht immer die jeunes savants enthousiastes, junge Forscher, deren Begierigkeit in den Worten mitfiebert. Ihr wissenschaftlicher Impetus kippt so leicht in die eifernde Verteidigung ihrer Definitionsgewalt.
Sich einen Begriff von etwas machen, heißt, einer Sache Herr zu werden. Der Herr der Wolken setzt seine Begriffe wie Grenzmarken eines Reviers, La théorie des nuages lotet den Umfang der Begriffe nur aus und lässt den Leser selbst sein Terrain entdecken.
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Stéphane Audeguy: Der Herr der Wolken, aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke, München: SchirmerGraf 2006, 309 Seiten, €19,80
Stéphane Audeguy: La théorie des nuages, Paris: Gallimard 2005, 290 Seiten
Stéphane Audeguy, 1964 in Tours geboren, gehört zur Generation der jungen Autoren im französischen Verlagshaus Gallimard und ist Literaturwissenschaftler. Er studierte in Paris und Charlottesville/Virginia und unterrichtet heute an einem Gymnasium in der Nähe von Paris Kunst- und Kinogeschichte. La théorie des nuages (2005), sein erster Roman, wurde mit dem Prix du Style 2005 und dem Prix Ciné Roman 2006 ausgezeichnet. Mit seinem zweiten Roman Fils unique (2006), der die Geschichte des großen Bruders Jean-Jacques Rousseaus erzählt, landete er in Frankreich einen weiteren „coup de coeur“.
Elsbeth Ranke übersetzte unter anderem Jean Rouauds Schreiben heißt, jedes Wort zum Klingen bringen (2004), Pierre Péjus Die kleine Kartäuserin (2005) und Werke der chinesisch-französischen Schriftstellerin Shan Sa. 2004 erhielt sie den André-Gide-Preis, der seit 1997 junge Übersetzer im deutsch-französischen Literaturtransfer fördert. Elsbeth Ranke lebt in Gouvieux bei Paris.