Lang musste man auf John Irvings neuen Roman warten, doch es hat sich gelohnt. Denn obwohl die Themen nicht neu sind – wieder geht es um abwesende Eltern, Erinnerung, Betrug, Ringen, Sex in all seinen Formen und ältere Frauen – so ist die Geschichte, die er erzählt, dennoch neu.
Auf über tausend Seiten verfolgt man die Lebensgeschichte des Schauspielers Jack Burns. Dieser wird von seiner Mutter Alice, einer Tätowiererin, großgezogen. Sie überwindet die Trennung von Jacks Vater nicht und macht sich mit ihrem Sohn auf die Suche nach ihm. Die Reise führt sie an die Nordsee und die Ostsee, William Burns immer dicht auf den Fersen, doch schließlich kehren sie und Jack alleine nach Kanada zurück – über den Vater wird von nun an nicht mehr gesprochen. Mutter und Sohn entfremden sich voneinander, früh wird er auf ein Internat in die Staaten geschickt und entscheidet sich, auch nach seiner Schulzeit in den USA zu leben. Erst nach dem Tod seiner Mutter unternimmt Jack noch einmal die Reise durch die nordeuropäischen Hafenstädte und muss erkennen, dass seine Kindheitserinnerungen nicht ganz mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmen, dass „Erinnerung“ ein manipulierbares Gut ist. Wieder bricht er die Reise ab, ohne seinen Vater gefunden zu haben. Doch obwohl er daraufhin versucht, die Vergangenheit ruhen zu lassen, begibt er sich nach einigen Jahren noch einmal auf Spurensuche – zunächst mit Hilfe seiner Therapeutin, der er seinen Lebensweg erzählt, und schließlich mit einer weiteren Reise nach Europa – und kommt diesmal der Frage nach seiner eigenen Identität ein wenig näher.
Mit seinem elften Roman stellt John Irving wieder einmal sein Talent als Geschichtenerzähler unter Beweis. Und er versteht sein Handwerk: Ohne Eile breitet er vor dem Leser eine bunte Welt voll skurriler Charaktere aus, Tragik und Komik liegen dicht beieinander, Wortspiele und Bilder werden gekonnt eingesetzt. Vor allem die beiden ersten Teile zeigen sein Einfühlungsvermögen, wenn er aus der Sicht des Kindes die Ereignisse wiedergibt.
Der Verlag Diogenes hat mit Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl zwei der profiliertesten Übersetzer für die Aufgabe gewählt, Irvings „Opus maximum“ (The New York Times) ins Deutsche zu übertragen. Man denke nur an van Gunsterens wunderbare Übersetzung von Alles ist erleuchtet von Jonathan Safran Foer oder an Stingls Übersetzung von Mason und Dixon von Thomas Pynchon. Außerdem haben beide bereits andere Werke des Autors übersetzt (Stingl z. B. Die vierte Hand und Eine Mittelgewichtsehe, van Gunsteren Rettungsversuch für Piggy Sneed). Doch irgendwie will die rechte Leselust bei Bis ich dich finde nicht aufkommen. Die ersten hundert Seiten sind sogar regelrecht mühselig zu lesen – gerade der Teil, der den Leser des Originals besonders in seinen Bann zieht. Was ist hier passiert?
Schon der erste Absatz ist langatmiger als nötig. Aus einem simplen „He wasn’t acting then“ wurde zum Beispiel „Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.“ Sicher muss im Deutschen oft mit Nebensätzen gearbeitet werden, wo das Englische die Sache kurz und knapp auf den Punkt bringt. Doch in der Übersetzung von van Gunsteren und Stingl findet sich immer wieder diese Eigenart, gerade dann ausschweifend zu werden, wenn es im Deutschen gar nicht notwendig ist.
Gravierende Fehler sind den beiden Übersetzern natürlich nicht unterlaufen. Aber so manches Mal fehlt es ein wenig an Originalität und Pep. Beispielsweise zeigt sich Alice ihrem Sohn nie nackt. Sie begründet das mit seiner Geburt per Kaiserschnitt. Der kleine Jack missversteht „c-section“ als Geburt in der Abteilung C eines Krankenhauses – die Scheu vor der Nacktheit erschließt sich ihm hier zunächst nicht. Das Bild konnte so natürlich nicht übernommen werden. Jack stellt sich den „Kaiserschnitt“ in der Übersetzung so vor, dass bei schwierigen Geburten ein tatsächlicher Kaiser vorbeikommt und den Bauch aufschneidet – die Verbindung zur Narbe und damit zur Scham ist da nicht besonders weit.
Oder was ist „Verdrehtheit“ im Vergleich zu „weirdness“? Verdreht findet Astrid Lindgrens fünfjährige Lisabet ihre große Schwester Madita, weil die so verrückte Ideen hat, wie mit dem Regenschirm vom Schuppendach zu springen. Aber passt das Wort auch zu einem Typen, der in den Augen seiner Freundin pervers ist? Kann man entsetzt darüber sein, von anderen für „verdreht“ gehalten zu werden?
Einmal ist Jack „unnerved“, weil seine beste Freundin Emma seine Freundin Claudia auf ihre Seite zieht und diese einfach mitmacht. Er ist also, deutsch ausgedrückt, genervt, bzw. wird langsam wütend, gereizt oder ungeduldig. In der Übersetzung ist er jedoch „enerviert“ – ein Stilbruch, der ins Auge springt.
Die klangvollen, griffigen Künstlernamen der Tätowierer wurden teilweise eingedeutscht – eine nachvollziehbare Entscheidung, wenn man davon ausgeht, dass nicht jeder Leser über Englischkenntnisse verfügt. So heißt „Daughter Alice“ in der Übersetzung „Tochter Alice“, es gibt einen „Matrosen-Jerry“ („Sailor Jerry“) und einen „Herzensbrecher Lars“ („Ladies’ Man Madsen“). Warum die Tätowierstube von Jacks Mutter dann aber trotzdem „Daughter Alice“ heißt und eine andere „Sailors’ Friend Tatoo“, warum Flattop Tom, Doc Forest und das „House of Pain“ nicht ebenfalls eine deutsche Entsprechung bekommen, ist eine offene Frage. Es wird Lokalkolorit eingestreut, wo es den Lesefluss hemmt – der schottische Hotelportier bleibt ein „Doorman“ (als ob der Kilt, den er trägt, nicht gereicht hätte), und Tatoo Ole und Tatoo Pieter aus dem Original werden ihrer jeweiligen Landessprache entsprechend zu Tatovǿr Ole und Tatoeërer Pieter.
Auch wenn man den Übersetzern zu Gute hält, dass sie vermutlich unter Zeitdruck arbeiten mussten, da Bestsellerautoren doch möglichst zeitnah auch im Ausland veröffentlicht werden sollen, verwundert das Ergebnis doch. Denn das, was Irvings Stil ausmacht, seine Liebe zum Detail, seine Lust am Erzählen, ist nicht wirklich spürbar. Zu schwerfällig ist die Syntax, zu häufig findet ein Bruch im Sprachstil statt, streckenweise entsteht sogar der Eindruck, dass der Text literarischer als das Original werden sollte – all das lässt einen wirklich aufatmen, wenn die letzte der 1139 Seiten endlich geschafft ist.
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John Irving: Bis ich dich finde, aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl. Zürich: Diogenes 2006, 1139 Seiten
John Irving: Until I find you. New York: Random House 2005, 824 Seiten
John Irving wurde 1942 in Exeter, New Hampshire geboren. Er studierte Englische Literatur und war bis 1979 als Lehrer an Schule und Universität tätig. 1968 veröffentlichte er seinen ersten Roman, der Durchbruch gelang ihm jedoch erst mit seinem vierten Werk The World According to Garp. Für das Drehbuch zur Verfilmung seines Romans The Cider House Rules erhielt er 2000 den Oscar. Irving lebt heute in Toronto und Vermont.
Dirk van Gunsteren wurde 1953 in Düsseldorf geboren, studierte Amerikanistik und lebt in München. Er hat seit 1984 (hauptsächlich aus dem Englischen) mehr als 60 Bücher übersetzt, darunter Werke von Colum McCann, V. S. Naipaul, Philip Roth, Eric Ambler und T. C. Boyle.
Nikolaus Stingl, geboren 1952 in Baden-Baden, studierte Anglistik und Amerikanistik. Er übersetzt aus dem Englischen Autoren wie George Orwell, D. H. Lawrence, Henry James und Thomas Pynchon. 1995 erhielt Stingl den Ledig-Rowohlt-Preis, 2000 den Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart.