Weit verzweigt wie die Mafia selbst sind die Handlungsstränge, die Schauplätze und das Netzwerk der Figuren in Ottavio Cappellanis erfrischend frechem und verblüffendem Debütroman Wer ist Lou Sciortino?. Die Geschichte beginnt in New York, wo Don Lou Sciortino seinen gleichnamigen Neffen mit Werten und Geschäftsgebaren der Mafia vertraut macht: „Entweder wir verdienen oder die anderen; entweder wir bringen sie um oder sie uns.“ Der junge Lou findet im Filmgeschäft neue Wege, schmutzige Gelder zu waschen, stört dabei aber die Kreise eines anderen mächtigen Clans. Als in Lous Büro eine Bombe hochgeht, schickt der treu sorgende Großvater den Neffen lieber nach Sizilien in seine Heimatstadt Catania. Hier werden die Geschäfte noch mit Oliven und Marzipan gemacht. Die Familien haben ihre Einflussbereiche abgesteckt, das Verhältnis zur Polizei ist einvernehmlich geregelt, es herrschen Ruhe und Ordnung. Bis eines Tages in dem Viertel von Catania, in dem Lous Onkel Don Scali die Schutzgelder kassiert, ein Kommissar ermordet wird. An diesem Punkt könnte die Kriminalgeschichte beginnen. Cappellani aber hat – anders als im Klappentext der italienischen und der deutschen Ausgabe angekündigt – keinen Krimi geschrieben, sondern eine beißende Persiflage auf die Mafia.
Wechselnde Schauplätze und ein Gewimmel von Figuren in über dreißig Episoden – wie schafft es der Autor, all das zu verbinden? Zugegeben, die logischen Verknüpfungen sind ziemlich verworren und werden von der Rahmenhandlung im Prolog und Epilog, wo die Entwicklung des jungen Lou Sciortino geschildert wird, nur äußerlich zusammengehalten. Die abstrusen Geschichten, in filmisch hart geschnittenen Kapiteln erzählt, leben nicht von ihrer Glaubwürdigkeit, sondern von der skurrilen Selbstdarstellung der Figuren. In einer Art pulp fiction der Mafia wird die bekannte Filmlegende vom allmächtigen Paten genüsslich demontiert. Im kleinbürgerlichen Ambiente von Lous Verwandtschaft erscheinen die Männerrituale, das gegenseitige Misstrauen und die pervertierten Ehrbegriffe als lächerliche Relikte vergangener Zeit, und gleichzeitig entsteht ein blutiges Kaleidoskop von Mördern und Opfern. Die dichtesten Passagen – alltägliche Szenen in den alten Stadtvierteln, den Bars und auf den Plätzen Catanias – vermitteln dem Leser eine Vorstellung von der Mafia als festem Bestandteil des sizilianischen Lebens, geschildert von einem Autor, der seine Stadt kennt und liebt. Cappellani verdichtet seine Erfahrungen in komplexen Bildern wie dem folgenden.
In Don Mimmos winzigem Laden lebt ein Fliegenschwarm zwischen Putzmitteln, Parfüms, DDT und Insektenvernichtungsmitteln. Die Biester sind in dieser Umgebung widerstandsfähig geboren und quasi unsterblich geworden. „Sie hängen alle dort, nebeneinander, übereinander – dreißig Zentimeter lebender, beweglicher Fliegenbrei. Sobald Zio Mimmo aufsteht, um nachzusehen, zerstreuen sie sich augenblicklich, so als hätten sie nie existiert. Geht dagegen ein Kunde vorbei, bleiben sie an Ort und Stelle, unbeweglich mit dem Dämmerlicht verschmolzen.“
Der Autor fällt keine politisch-moralischen Urteile. Sein Roman funktioniert nicht nach dem Gut/Böse-Schema gängiger Kriminalromane. Sein Anliegen besteht auch nicht darin, den Leser über die Strukturen des organisierten Verbrechens aufzuklären. Stattdessen stellt er die Mafia mit witzigen Dialogen bloß, ohne sie zu verharmlosen: „Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten, Don Mimmo?“ Don Mimmo lächelt: „Welche guten alten Zeiten, Don Lou?“
Der Roman spielt in den verschiedensten Milieus und Schichten, von der Filmschickeria bis zur Zuhälterei, und entsprechend vielfältig sind die sprachlichen Register, die Cappellani zieht. Italienisch, Sizilianisch und ‚Italglish‘ vermischen sich zu einem ganz speziellen Jargon.
Der Autor hat seinem Roman ein zehnseitiges Glossar sizilianischer Ausdrücke und Redewendungen angehängt, um in ganz Italien verständlich zu sein. Die Übersetzerin macht nicht den ohnehin vergeblichen Versuch, für den sizilianischen Wortschatz deutsche Äquivalente zu finden, sondern übersetzt die vom Autor angebotenen Entsprechungen der Standardsprache. Gängige und häufig benutzte sizilianische Ausdrücke, Anredeformen, Namen, Gerichte und Flüche – wie picciotto, Vossignoria, minchia – werden beibehalten, kursiv gesetzt und leserfreundlich in ein Glossar aufgenommen. Dadurch wird der Textfluss insgesamt erhalten und dem Leser zusätzlich die Möglichkeit geboten, spezielle Sizilianismen nachzuschlagen. Sie lässt den Lesern auch die Freude, ‚Italglish‘ in den bisinissi, im babbeccù und im Naise tu iear iu selbst wiederzuerkennen, statt sie in ‚Denglish‘ zu übertragen. Zu Recht bedankt sich Ottavio Cappellani im Nachwort bei Constanze Neumann, weil er „keine bessere, aufmerksamere und lustigere Übersetzerin hätte finden können.“
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Ottavio Cappellani: Wer ist Lou Sciortino?, aus dem Italienischen übersetzt von Constanze Neumann. München: Pendo 2005, 222 Seiten
Ottavio Cappellani: Chi è Lou Sciortino? Vicenza: Neri Pozza Editore 2004, 220 Seiten
Ottavio Cappellani, geb. 1969 in Catania, entstammt einer alten sizilianischen Familie mit Grundbesitz in der Nähe von Syrakus. Er studierte Philosophie und arbeitet als freier Journalist. Wer ist Lou Sciortino? ist sein erster Roman.
Constanze Neumann fand auf Sizilien ihre zweite Heimat. Sie schrieb einen außergewöhnlich kenntnisreichen Reiseführer über die Insel und übersetzt aus dem Sizilianischen und aus dem Neapolitanischen. Typisch für ihre Übersetzungen ist, dass sie regionale Eigenheiten als Einsprengsel stehen lässt und in einem Glossar anfügt.