Paris, am 24. April 2006
Über Worte und Gedanken, über Sprachen, Übersetzen und die Flüsse in seinem Leben sprach der deutsch-französische Autor und Übersetzer Peter Handkes Georges-Arthur Goldschmidt mit ReLü.
ReLü: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken“, sagt Wilhelm von Humboldt. Was meinen Sie als bilingualer Autor dazu?
Georges-Arthur Goldschmidt: Humboldt sagt auch, dass jede Sprache als solche von jeder anderen völlig verschieden ist. Nun habe ich zum Glück zwei Seelen in meiner Brust und weiß überhaupt nicht, wie das funktioniert. Es funktioniert perfekt, in zwei Sprachen zu denken – aber wie, das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass die Sprache das bildende Organ der Gedanken ist. Der Vermittlung der Gedanken, ja, aber nicht der Gedanken. Die Gedanken haben mit der Sprache überhaupt nichts zu tun. Nur fassen sie Fuß in der Sprache. Man kann nicht ohne Sprache denken, und die Sprache steht einem immer wieder im Wege. Die Sprache ist nicht das bildende Organ des Gedanken, oder eher: des Gedanken schon, aber nicht des Denkens.
Und was ist der Unterschied?
Ja, wenn ich das wüsste, dann wäre die Welt zu Ende. Die Philosophie hinkt diesem Problem schon immer hinterher. Das „Denken ist intim verwachsen mit der vertikalen Feststellung des ICH BIN“, das hat ein gewisser Descartes schon lange vor mir so gesehen. Die Gedanken sind der deformierte Abschall des Denkens. Die Gedanken sind kein Denken.
In Le poing dans la bouche sprechen Sie sehr häufig von einer Wirklichkeit „hors des mots“ (außerhalb der Worte) oder von „ce pour quoi il n’y avait pas de mots appropriés“ (dem, wofür es keine passenden Worte gibt). Welche Kraft hat die Sprache für Sie, wenn nicht diejenige, alles Mögliche – also alles, was möglich ist – auszudrücken?
Gerade das! Sprache gibt es nur, weil sie nicht die Gedanken ausdrücken kann. Das geht auch gar nicht. Wenn das klappen würde, wäre alles gelöst. Dann gäbe es nur eine Sprache auf der Welt und die Sprache wäre derart mit den Objekten verwurzelt, verwachsen, würde sich derartig in die Objekte einfügen, dass es nur noch die Objekte geben würde. Man brauchte keine Sprache mehr, man wäre selber zum Objekt geworden. Dass die Sprache nicht funktioniert, rettet sie. Wenn es total klappen würde, wäre das das Ende der Welt. Darum gibt es Tausende von Sprachen, in den Pariser Vorstädten entstehen ständig neue. Das ist das Großartige. Die Leerspanne zwischen Sinn und Objekt. Die Sprache ist das, was sie nicht kann. Wenn sie es können würde, wäre es völlig uninteressant.
Wie können Dinge ohne Worte existieren, und Gedanken?
Denen geht’s bestens. Die Worte haben nichts mit Dingen zu tun. Das Wort formuliert Gedanken, aber ist nicht der Gedanke. Der Gedanke hat mit Sprache nichts zu tun. Aber er existiert nur durch sie. Keine Sprache ohne Gedanken, aber Gedanken ohne Sprache. Nur weiß man nichts davon.
Friedrich Schleiermacher bezeichnet verschiedene Sprachen als verschiedene „Denkweisen“ und Ludwig Wittgenstein sagt, die Sprache sei eine „Lebensform“. Inwiefern können Sie sich mit einer dieser Aussagen identifizieren?
Mit keiner von beiden, weil das alles Versuche sind, hinter eine Wirklichkeit zu kommen, die sich gerade nicht in Worte fassen lässt. Das ist genau wie beim Übersetzen. Das Schönste beim Übersetzen ist, wenn man über der Leerzeile, also über der Leere der Zwiesprache zappelt und nicht durchkommt. Das weiß einzig der Übersetzer. Dann ist die Sprache so real und so körperlich genau! Und es ist nichts zu machen. Das ist der Gipfel der Sprachlichkeit! Und je eher man ein Wort findet, desto deutlicher ist die Ausgangssprache in einem drin. Das Wort, das man nicht übersetzen kann, wird zu jeder Sekunde präziser.
Es wird erst zum eigenen Wort, finden Sie nicht auch? Geht es Ihnen manchmal so, dass Sie tagelang über ein Wort nachgrübeln, und irgendwann…?
Nein, dafür bin ich zu faul. Das kann ich gar nicht. Aber gerade das ist Sprachlichkeit! Wenn man nicht durchkommt. Sprache ist zwischen Denkweise und Lebensform, so würde ich das sagen.
Beckett wurde häufig vorgeworfen, seine von ihm selbst übersetzten Stücke seien ‚andere‘ Stücke: eher eine réécriture als eine Übersetzung. Wie schätzen Sie Ihre Autobiographie (La traversée des fleuves/Über die Flüsse) in Hinblick darauf ein?
Réécriture? Bei mir überhaupt nicht. Ich wollte das so treu wie möglich übersetzen. Sonst hätte ich ein neues Buch schreiben sollen. Was ich jetzt auch gerade tue, es wird Die Befreiung heißen. Ich wollte die Autobiographie scharf, haargenau übersetzen. Nur um zu sehen, wie das funktioniert, von einer Sprache in die andere, und andererseits habe ich in meinen Übersetzungen nie ein Wort interpretiert. Jeden Text von mir von Handke können Sie ins Deutsche rückübersetzen, das funktioniert genau. Weil das Übersetzen ist! Wenn es dann manchmal ein bisschen hapert, macht das auch nichts, denn so ist man sicher: Das ist so nah am Text wie möglich in der anderen Sprache. Entweder es ist eine Nacherzählung, oder es ist eine Übersetzung. Zum Beispiel Le Neveu de Rameau: Bis 1927 gab es das Buch nur in der Rückübersetzung von Goethe, und als man das Manuskript gefunden hatte, war es perfekt, haargenau. Immerhin war er ja ein gewisser Wolfgang Goethe, der hätte sich das Umschreiben erlauben können. Aber das hat er nicht gemacht, mit der größten Bescheidenheit. Durch das Übersetzen lernt man Bescheidenheit. Dann sind Sie Handwerker, und Sie dürfen nicht einspringen. Jede Form der Interpretation ist fast ein Verbrechen am Text.
Wie gehen Sie beim Übersetzen vor? Wie übersetzen Sie?
Das weiß ich nicht. Strategie des Schreibens? Hören Sie auf, ich weiß gar nicht, was ich tue.
Ihre selbstübersetzte Autobiographie La traversée des fleuves hat in der deutschen Ausgabe den vieldeutigen Titel Über die Flüsse: Der bestimmte Artikel evoziert den Eindruck einer Allgemeingültigkeit (welche Flüsse?), die Flüsse lassen in Kenntnis Ihres weiteren Werkes unwillkürlich an den Sprachfluss denken, und nicht zuletzt schwingt auch das deutsche Wort überflüssig mit. Weshalb haben Sie sich für diesen Titel entschieden?
Wie der Titel zustande kam? Ich war mit einem Freund von Seuil zusammen Mittag essen, und der hat mir gesagt: „Dein Buch ist großartig.“ Zu der Autobiographie wurde ich gedrängt, die wollte ich gar nicht schreiben, mein Verleger hat mich dazu gedrängt, so dass ich mich mit ihm beinahe verkracht habe. „Es wird so viel Scheiße geschrieben“, habe ich ihm gesagt, ich wollte das gar nicht. Ein anderer hat es dann bei dem Verleger gelesen und fand es wunderbar. Ich musste aber einen anderen Titel finden, bis dahin hieß es ‚Une vie recommencée‘. „Du musst doch über die Flüsse reden, du kommst doch von der Elbe“, hat er zu mir gesagt. La traversée des fleuves! So ist mir das gekommen. Aber wie wollen Sie das übersetzen? ‚Die Flussüberquerung‘? Das ist zu technisch. Zu steril. Über die Flüsse ist die einzige, schlechte Lösung. Oder ich hätte einen völlig anderen Titel wählen müssen.
Inwiefern waren Sie denn an der Übersetzung von Quand Freud voit la mer beteiligt? Und wie ist insbesondere der deutsche Titel der Studie Als Freud das Meer sah zustande gekommen?
Ich muss ehrlich sagen: Die Hälfte ist von mir. Und in Quand Freud attend le verbe habe ich noch mehr selbst geschrieben. Der Titel: Der ist im Französischen so vage. Die Alternative ‚Wenn Freud das Meer sieht‘ geht im Deutschen gar nicht. Wenn Freud das Meer sieht, zieht er seine Badehose an. Ich wollte eigentlich ‚Freud und das Meer‘ oder so etwas, und da war ich auch wieder zu faul, mir etwas anderes durch den Kopf gehen zu lassen.
Könnten Sie sagen, welche Sprache Sie als langue littéraire bevorzugen und warum?
Keine. Wenn mir ein Bild kommt, und ich bin gerade beim Schreiben, sage ich mir ‚Scheiße, das ist mir in Französisch gekommen‘, es hätte mir auch in Deutsch kommen können. Es kommen mir jeweils in jeder Sprache andere Waldsäume. Der Wald ist der gleiche Wald, aber die Seite ist nicht dieselbe. Ich will nicht humboldtieren, aber die eine Sprache bedingt in mir das Entstehen gewisser Bilder, was die andere nicht tut. In der anderen Sprache entstehen sie anders. Wenn mir der Text in der einen Sprache kommt, dann weiß ich ihn nicht in der anderen. Wenn ich Deutsch schreibe und ich Bilder habe, dann sind sie schon übersetzt. Ich kann nicht wieder anfangen, nur noch genau übersetzen. Es gibt ein Bild, das mir während meiner Jugend eine Obsession war: Le porteur des mauvaises nouvelles. Das Bild ist mir in einer deutschen Erzählung gekommen, niemals in einer französischen. Wahrscheinlich, weil die Verdrängung im Deutschen geringer ist als im Französischen.
Wo ist ihr „Heimatgefühl“ in einer Sprache am stärksten?
Mein Heimatgefühl ist natürlich im Deutschen. Das geht so weit, dass ich erst jetzt, mit 78 Jahren, ein paar Worte Deutsch über mein Geburtsdorf schreiben konnte. Der Bruch ist so tief, dass ich nicht zur deutschen Formulierung kommen will. Deshalb habe ich meine Autobiographie auf Französisch geschrieben, um sie dann selbst zu übersetzen. Das war auch einer der Gründe. Ein Eselstritt, den ich der Sprache verabreiche, die mich verstoßen hat. Ich schreibe nicht mehr in ihr, und trotzdem tue ich es doch wieder. Aber da ist irgendwo ein Bruch in mir, ganz tief. Ich will über meine Kindheit nicht Deutsch schreiben und meine Urlandschaft sitzt dennoch ständig in mir. Die Heimat ist natürlich Deutsch. Immer weniger und immer mehr zugleich.
Aus Als Freud das Meer sah geht hervor, dass die deutsche und die französische Sprache einander Ihrer Meinung nach mehr oder weniger diametral gegenüber gesetzt sind („Das Französische zieht, wo das Deutsche schiebt. […] Die Sprachen sehen mit anderen Augen.“): Wie können Sie in diesem Spannungsfeld leben und denken? Wie denken Sie?
Wie ich denke? Das weiß ich nicht. Aber ich finde es herrlich, in zwei Sprachen zu denken. Wissen Sie, ich rede mit Ihnen Deutsch. Ich habe nur eine Sprache. Wenn ich mit diesem Herrn dort reden würde, würde ich sofort Französisch reden. Aber man hat nicht zwei Sprachen zugleich im Kopf. Nur wenn man diese dämliche Tätigkeit des Übersetzens unternimmt, das Widernatürlichste, was es überhaupt geben kann. Aber ich habe immer nur eine Sprache, und manchmal, wenn ich etwas nicht finde, schimmert vage das andere durch, aber kaum. Ich rede mit Ihnen und bin völlig und absolut in der deutschen Sprache, und stehe ich auf, kommt der Kellner, bin ich völlig und absolut im Französischen. Aber ich glaube, wie gesagt: Zum Glück wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Ich finde das wunderbar. Dazu kommt: Ich verdanke der französischen Sprache mein Leben, und dass ich überhaupt hier bin.
Wo wir davon sprechen: Insbesondere in Le poing dans la bouche differenzieren Sie sehr stark zwischen „l’allemand nazi et l’allemand de vos parents, de votre enfance“ (das Nazi-Deutsch bzw. das Deutsch Ihrer Eltern, Ihrer Kindheit). Wie stehen Sie heute dazu? Hat die deutsche Sprache Sie – um mit Freud zu sprechen – traumatisiert?
Nicht die Sprache hat mich traumatisiert. Die Nazis haben mich traumatisiert. Und sie haben auch die deutsche Sprache zerstört. Sie wird behäbig und snob, hat einen dicken Bauch bekommen. Kein Mensch traut sich mehr, so zu sprechen, wie der Schnabel ihm gewachsen ist, wie Luther, wie die Leute aus dem 19. Jahrhundert. Nur Handke schreibt noch so.
Das Interview führte Caroline Grunwald in deutscher Sprache.
—
Goldschmidt, G.-A.: Als Freud das Meer sah. Zürich: Ammann, 1999
Goldschmidt, G.-A.: Quand Freud voit la mer. Paris: Buchet/Castel, 1995
Goldschmidt, G.-A.: Über die Flüsse. Zürich: Ammann, 2001
Goldschmidt, G.-A.: La traversée des fleuves. Paris: Seuil, 2001
Goldschmidt, G.-A.: Le poing dans la bouche. Un parcours. Verdier, 2004