„Für Geld mit alten Belgierinnen zu schlafen ist keine Schande“ („Coucher avec des vieilles Belges n’est pas une honte“) lautet der erste Satz aus Benjamin Bertons Roman Wildlinge (Sauvageons), der in Frankreich bereits im Jahr 2000 veröffentlicht und mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet wurde.
Die Geschichte handelt von der Entwicklung und Freundschaft dreier fünfzehnjähriger Jungen aus einem französischem Dorf an der belgischen Grenze. Die drei Freunde treiben allerlei oftmals grausamen Unfug, der episodenhaft mit zahlreichen Einflechtungen von Schicksalen anderer Dorfbewohner das Porträt eines sozial schwachen Dorfes zeichnet, in dem die Arbeitslosigkeit durch Firmenschließungen immer weiter zunimmt und die soziale Kluft immer größer wird. Sich selbst überlassen treiben sie sich herum, jagen Katzen mit verbundenen Augen über die Umgehungsstraße oder zwingen einen kleinen Jungen zum Biertrinken, wenn sie nicht gerade Fußball spielen. Ansonsten interessieren sie sich noch für Mädchen, mehr noch aber für Sex.
Nüchtern und unverblümt ist die Sprache, die sich immer wieder durch ihre Frische und den Mut zu Unkonventionalität auszeichnet. Formulierungen wie „Seine Wortkargheit galt fortan als Machiavellismus” sind typisch für den Stil, den ein hohes sprachliches Niveau auszeichnet. Oft ist der Text jedoch auch deftig mit derben und saloppen Ausdrücken gespickt. Das Zusammenspiel dieser stilistischen Gegensätze sorgt für eine pikante Leseerfahrung.
Diese Vermischung stilistischer Gegensätze ist auch Hinrich Schmidt-Henkel in der deutschen Übersetzung gelungen, die jederzeit, auch bei den umgangssprachlichen Passagen, als eigenständiger deutscher Text überzeugt, etwa wenn die oftmals zweifelhaften sexuellen Abenteuer der drei als nackte Tatsachenbeschreibung in den Text einfließen: „Sein fünfzehnjähriger Stängel hätte auch senkrecht noch in ihren Schlitz gepasst.“ („Son sexe de quinze ans aurait tenu debout dans la fente de la femme.“). Während zum Beispiel der Ausdruck ‚sexe‘ im Französischen sehr geläufig ist, gibt es im Deutschen keinen vergleichbaren Begriff. Schmidt-Henkel hat hier eine saloppe Ausdrucksweise gewählt und damit den Ton des Originals gut getroffen. Allerdings hat sich der Kern der Aussage gewandelt, von der stolzen Prahlerei eines Fünfzehnjährigen über die Standhaftigkeit seiner Erektion zu einer abfälligen Bemerkung des Erzählers über die Größe jenes ‚fünfzehnjährigen Stängels‘.
Wörtliche Rede steht im französischen Original ungekennzeichnet im Text: Die abgehackten Satzfragmente, aus denen die Aussagen der Dorfbewohner oft bestehen, sind so aneinandergereiht, dass es gilt, sie beim Lesen selbst den einzelnen Sprechern zuzuordnen. Zwar ist die Kennzeichnung der wörtlichen Rede in der französischen Literatur weniger streng geregelt als im Deutschen, doch fällt das Fehlen jeglicher Kennzeichnung als Stilmittel auf. In der Übersetzung ist die wörtliche Rede ebenso eingebettet wie im Original, was eine wichtige Eigenart des Textes ausmacht, beschleunigt dies doch das Erzähltempo und verleiht dem Text an diesen Stellen mehr den Charakter einer Dokumentation als einer Erzählung. „Kommst du oft ins Captain? Jeden Samstag. In den Ferien manchmal auch Freitags. Was machst du? Latein.” („Tu viens souvent au captain? Tous les samedis. Des fois le vendredi aussi, pendant les vacances. Tu fais quoi? Latin.”) Dieser Dokumentationsstil ist oftmals mühsam und irritierend, vermittelt jedoch zugleich den Eindruck eines unzensierten Informationsflusses am Erzähler vorbei und lädt ein, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
An anderer Stelle, etwa wenn der Fußballtrainer darüber nachdenkt, wie die sozialen Gegebenheiten die Chancen beim Fußball beeinträchtigen, nimmt das Erzähltempo stark ab und bekommt einen subjektiv wertenden Charakter. Überwiegend bleibt die Erzählung jedoch wertungsfrei und stellt so vor die Entscheidung, die drei Hauptfiguren trotz aller Grausamkeiten zu mögen. Die Kaltschnäuzigkeit macht die Freunde schließlich liebenswert und Original wie Übersetzung gleichermaßen zu einem Erlebnis. Ein erfreulicher Nebeneffekt des Romans ist außerdem, dass er sogar in der Übersetzung noch als ‚Vokabeltrainer‘ für einige derbe deutsche Ausdrücke dienen kann.
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Benjamin Berton: Wildlinge, aus dem Französischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Köln: DuMont 2005, 220 Seiten
Benjamin Berton: Sauvageons. Paris: Gallimard 2003, 265 Seiten