Der Umschlag des Buches lässt kaum Platz für Zweifel – im Inneren werden sich Lettern in locker-leichten Stoff hüllen und seidig dahinfließen. Kaum Überraschungen, kein hoher Anspruch, das übliche glattgeschliffene Einerlei. Die perfekte Spätsommerlektüre eben. Vielleicht ist genau diese Erwartungshaltung das Geheimnis des Buches.
Es ist 1913. Wir befinden uns in einem beschaulichen Fischerdorf namens Westport Point an der Küste von Massachusetts. Hier sind Straßen noch aus Lehm, Lampen mit Petroleum gefüllt; Rumschmuggler, Austernknacker und andere eigentümliche Charaktere fühlen sich hier heimisch. Die raue Küstenlandschaft beherbergt ein ganzes Völkchen von kauzigen, eigenbrötlerischen Figuren. In den Sommermonaten überfluten wohlhabende Saisongäste den Küstenstreifen und bauen ihre hölzernen Sonnenhäuschen und schönen Cottages auf die Hügel. Die Dorfbewohner schauen sich das Spektakel alljährlich staunend an und wirken neben den Gästen beinahe archaisch und eingestaubt.
Aus diesem Bild heraus formt die Autorin, die selbst in Westport Point aufgewachsen ist und heute auch wieder dort lebt, langsam und mit wachem Auge für feinste Nuancen die mal mehr, mal weniger poetische Geschichte dreier Frauen. Wortgewaltig, im Original wie auch in der Übersetzung, werden zarte Fäden zu einem immer plastischeren, beinahe greifbaren Handlungsstrang gesponnen.
Wir lernen Elizabeth kennen – eine seltsame alte Dame, die vom Alter gezeichnet ist, seit die Naturgewalten ihr den Mann, einen Polarforscher, nahmen. Sie ist exzentrisch und gräbt sich jeden Winter in ihrer Bibliothek ein, um ihren Erinnerungen an die Zeiten in Irland nachzuhängen. Mit den Jahren, die verstreichen, wird sie zunehmend verwirrter. Wenn die Sommermonate nahen, besucht Eve sie in ihrem großen Haus am Meer. Eve ist Elizabeths Enkelin. Sie vegetiert in einer unglücklichen Ehe vor sich hin und ist traumatisiert vom frühen Freitod ihrer Mutter. Eve taumelt haltlos durchs Leben, weil sie weiß, „dass ihr Leben das Gewicht von Laub hat“. Sie gibt sich der Kunst hin, um zu verarbeiten. Um diese beiden, besonders aber um Elizabeth, kümmert sich nun Maggie – Elizabeths Bedienstete, die in einem Rübenkeller haust und im Dorf nur als „die Fremde“ gilt. Sie ist von dunkelhäutiger Schönheit und eine wortkarge Beobachterin.
Man ahnt im Verlauf der detailversessen erzählten Geschichte, dass etwas Großes kommen muss, als Eve mehreren Männern mit ihrer ernsten Schönheit die Köpfe verdreht und Maggie sich mit einem der Rumschmuggler einlässt. Ohne den gewaltigen Sturm, auf den alles hinarbeitet, wäre das ganze Buch nicht mehr als ein nettes Geschichtchen. Zumindest aber eines, das von Vokabelreichtum durchdrungen ist. Der Übersetzerin gelingt es überwiegend, Clifton Tripps Sprache ‚einzufangen‘. Sie nährt den bildhungrigen Leser, wie auch Clifton Tripp selbst, was im Deutschen dann aber stellenweise ungleich kitschiger als das Original anmutet: „She will leave […] before grief in the angle of light” wird zu „Sie wird fahren […], ehe Traurigkeit sich ins schräg fallende Licht stiehlt.“ Jeder Satz wird zum Kunstwerk emporgehoben und fordert damit zugleich Anspruch auf höchste Aufmerksamkeit. Fischer schöpft aus dem Vollen des deutschen Wortschatzes und bringt wahre Wort-Schätze‘ ans Licht. Sie umspült den Leser mit Begriffen aus Tripps feinsten Naturbeschreibungen, die aus einem anderen Leben zu sein scheinen. Man sieht sich Flora und Fauna gegenüber, deren wundersame Existenz sich lange heimlich verborgen hielt. Sie tragen dazu bei, dass dieses Buch alles andere als glattgeschliffene, abgegriffene Worthülsen und Sinnbilder bietet.
Somit braust er also nun zu guter Letzt davon, der literarische Einheitsbrei, und zerfließt unter der Feder dieser beiden, ja doch, Autorinnen.
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Dawn Clifton Tripp: Mondgischt, aus dem Englischen übersetzt von Andrea Fischer. Hamburg: mare 2004, 320 Seiten
Dawn Clifton Tripp: Moontide. New York: Random House 2003. 280 Seiten
Dawn Clifton Tripp wurde 1969 in Westport Point geboren. Sie studierte an der Universität Harvard und schloss ihr Studium mit einem B.A. in Literatur ab. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Massachusetts.
Obwohl Reisen nicht zu ihrer liebsten Beschäftigung gehört, legt sie in ihrem Erstlingswerk Mondgischt großen Wert auf Naturbeschreibungen – auch von Orten, die sie nie besucht hat.
Andrea Fischer studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Ihre Tätigkeit als freiberufliche Übersetzerin schloss nahtlos an den Erwerb ihres Diploms 1996 an. Sie übersetzt unter anderem Bücher von Dennis Lehane, Stephen King, Peter Robinson und Michael Chabon.