Entfliehen kann man diesem Ereignis nicht. Es trifft jeden von uns. Den einen früher, den anderen später. Wer es nicht schon hinter sich hat, dem steht es noch bevor. Wir wissen, dass es unausweichlich ist, dennoch erscheint es uns fern und unvorstellbar. Es ist oft absehbar – und kommt doch immer unerwartet. Der Tod der Eltern ist eine Bruchstelle in unserem Leben. Mit dem letzten noch lebenden Elternteil tragen wir auch unsere Kindheit zu Grabe. Das eigene Leben ‚stockt‘ einen Moment. In den meisten Fällen gibt es zudem noch eine ganz praktische Aufgabe zu bewältigen: Das Haus oder die Wohnung der Eltern muss aufgelöst werden.
Die Psychoanalytikerin Lydia Flem hat ein Buch über dieses sehr persönliche und zugleich universelle Thema geschrieben. Spätestens bei der Lektüre erfährt der Leser: Seine Eltern zu beerben ist nicht leicht. Und dies nicht nur, weil jeder Gegenstand im Haus an die Abwesenheit der Eltern erinnert.
Von einem Tag auf den anderen wird die Erzählerin die rechtmäßige Eigentümerin all jener Gegenstände, die ihre Eltern ihr zu Lebzeiten nur widerwillig in ihre angeblich zwei linken Hände gaben. Sie wünscht sich, sie hätte diese Dinge von ihren Eltern als Zeichen ihres Vertrauens geschenkt bekommen, als diese noch lebten, anstatt sie nun zu erben. Denn das Verhältnis zwischen Lydia und ihren Eltern war nicht immer einfach – zuviel Unausgesprochenes stand zwischen der einzigen Tochter und den Eltern, die den Großteil ihrer Familie in den Gaskammern von Auschwitz verloren.
Es fällt ihr schwer, in den persönlichen Papieren der Eltern herumzuwühlen, Handtaschen zu durchstöbern, ihre Post zu öffnen und zu lesen – die elementaren Regeln der Höflichkeit jenen gegenüber zu missachten, die sie ihr einst beibrachten. Ihre Eltern gehörten zur Kriegsgeneration, die nichts wegwerfen konnte und entsprechend alles aufhob. Lydia nimmt ihnen übel, dass sie nicht zu Lebzeiten festgelegt haben, was mit ihrem Eigentum geschehen soll. Denn für jeden einzelnen dieser unzähligen Gegenstände muss nun eine Wahl getroffen werden: behalten, verschenken, verkaufen oder wegwerfen? Lydia Flem fallen diese Entscheidungen schwer. Zur Seite steht ihr dabei niemand: sie war Einzelkind, jetzt ist sie „Einzelwaise“. Ihre widersprüchlichen Gefühle kann sie keinem Bruder und keiner Schwester anvertrauen, sondern nur dem Papier.
Was tun mit der Serviettensammlung der Mutter, die diese über Jahrzehnte hinweg sorgfältig angelegt, erweitert und gehütet hatte? Wie kann man das Haus der Eltern auflösen, ohne ihre – und dabei auch die eigene – Vergangenheit auszulöschen? Andererseits: Muss man aus Treue wirklich all diese „winzigen Lebensfragmente“ aufheben? Und aus dem eigenen Haus bzw. der eigenen Wohnung ein „Museum ihrer Vergangenheit“ machen? Lydia Flem kommt schließlich zu der Überzeugung, dass auch Gegenstände verwaisen können – aber nicht sollten. Die Lösung liegt im Verschenken: Sie sucht ihnen Adoptiveltern, neue Freunde, die fortan ihre alleinigen, „schrecklich eifersüchtigen Besitzer“ sind und sich um sie kümmern.
Die Autorin kann nicht aus ihrer Haut als Psychoanalytikerin und tischt uns vor allem auf den ersten Seiten einige psychoanalytische Überlegungen auf. Doch schnell geht sie zu einem erfrischend unsentimentalen, nie wehleidigen, oft humorvollen persönlichen Bericht über. Dabei liest sich der Text im französischen Original (Comment j’ai vidé la maison de mes parents) ebenso gut wie in der deutschen Übertragung von Sigrid Vagt.
Die Berlinerin Sigrid Vagt erhielt unlängst den Paul-Celan-Preis für ihre Übersetzung des italienischen Romans Das Massaker der Illusionen von Giacomo Leopardi und legt auch mit Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte eine sehr gelungene Übersetzung vor. Sie trifft den Ton des Originals und meistert auch schwierige Stellen sehr elegant. Als die Autorin z.B. im Französischen Überlegungen zum Verb „vider“ in seinen verschiedenen Bedeutungen anstellt („Vider, verbe transitif. Action de rendre vide un contenant, un lieu, d’enlever d’un lieu, de chasser, d’expulser. Son contraire : emplir, remplir.“) ergänzt die Übersetzerin diese Auflistung im Deutschen durch einige weitere Begriffe desselben Wortfelds: „Leeren, transitives Verb. Ausleeren, entleeren, leer machen; ein Behältnis durch Herausnehmen, Entfernen des Inhalts leeren: ausgießen, ausschütten, austrinken, ausschöpfen; einen Ort räumen: ausräumen, verjagen, vertreiben. Gegenteil: füllen, auffüllen.“ Dadurch schafft sie es, fast alle Wiederaufnahmen des französischen „vider“ zu retten: Aus „vider son coeur“ wird „sein Herz ausschütten“, aus „vider la question“ „alle Bedenken ausräumen“. Viele Stellen wirken fast wie glückliche Fügungen: „nos créateurs, nos prémiers témoins“ werden in der deutschen Ausgabe zu „unsere Erzeuger und ersten Zeugen“, die Formulierung „vif ou vil“ zu „heftig oder häßlich“. Ebenso beim Satz „Vider – le verbe me gêne. Je voudrais dire: ,ranger‘: „Leer räumen, – der Ausdruck gefällt mir nicht. Lieber wäre mir ,aufräumen‘.“ So stimmig, dass man glatt vergessen könnte, welche Arbeit hinter solch harmonischen Wortfügungen steht und wie kreativ die Arbeit des Übersetzers oft sein muss. In diesem Falle gilt: Wo Lydia Flem die passenden Worte findet, um den erwachsenen Waisenkindern bei ihrer unabwendbaren Aufgabe zu helfen, findet Sigrid Vagt die passende Übersetzung. Das Ergebnis ist lesenswert – nicht nur für unmittelbar Betroffene.
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Lydia Flem: Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte, aus dem Französischen übersetzt von Sigrid Vagt. München: Schirmer Graf 2004, 119 Seiten
Lydia Flem: Comment j’ai vidé la maison de mes parents. Paris: Editions du Seuil 2004. 152 Seiten
Lydia Flem, Jahrgang 1952, lebt in Brüssel und Paris. Die Psychoanalytikerin ist u.a. Autorin mehrerer Werke über Freud. Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte ist ihr sechstes Buch. Ebenfalls auf deutsch erschienen sind Der Mann Freud und Casanova oder die Einübung ins Glück. In Frankreich erschien im März 2005 ihr jüngstes Buch Panique.
Sigrid Vagt übersetzt aus dem Französischen und Italienischen. Zu den von ihr übersetzen Autoren zählen unter anderem Toussaint, Duras, Cocteau, Tomasi di Lampedusa, Malerba, Manganelli. Für die Übersetzung von Giacomo Leopardis Massaker der Illusionen erhielt sie im Jahre 2003 den Paul-Celan-Preis. Neben Literatur hat sie auch Filme übersetzt, z.B. von Chabrol, Rohmer, Moretti, Pasolini.