„Mein Leben, so scheint mir, ist lächerlich formlos. Ich weiß, was zu einer guten Erzählung gehört, und das Leben hat nicht viel davon zu bieten – Struktur und Harmonie, Form, Vollständigkeit, Ausgewogenheit“, heißt es in Die Hauptsachen. Und doch bietet Martin Amis in dieser Autobiografie eine fesselnde Schilderung seines Lebens. Er liefert sie in Episoden, die keiner Chronologie folgen und am Ende doch ein großes Ganzes ergeben. Verbunden sind sie durch immer wiederkehrende Themen wie Liebe, Familie, Freundschaft und natürlich Literatur, aber auch Zähnen kommt eine große Bedeutung zu.
Schonungslos ehrlich erzählt Martin Amis von sich und den Menschen und Orten, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben. Man erfährt von Martins eigener, anfangs häufig erfolglosen Suche nach „Frauen und Liebe“, vom Hang des Vaters zum Ehebruch, von der fast kindlichen Unschuld der traditionsbewussten Großeltern, von den kulinarischen Eigenheiten der Mutter. Aber immer sind diese Geschichten mit so viel Humor und noch mehr Liebe geschrieben, dass die Figuren sympathisch bleiben. Und doch gibt es auch eine andere Seite, die nicht mit Humor zu bewältigen ist. Da ist die Geschichte der Kusine, die über 20 Jahre lang als spurlos verschwunden galt, bis man schließlich herausfand, dass sie einem Serienmörder zum Opfer gefallen war. Und es geht um die letzte Lebensphase des Vaters Kingsley Amis, in der die Familie hilflos zusehen muss, wie ihn seine Krankheit körperlich und geistig immer stärker einschränkt.
Martin Amis ist ein Sprachkünstler. Wie in seinen Romanen setzt er auch in Experience (so der Originaltitel) Worte gezielt ein, so dass sie das satirische Moment einer Situation auf den Punkt bringen. Präzise beobachtet er sprachliche Eigenheiten und Akzente seiner Mitmenschen und weiß sie eindrucksvoll in geschriebene Worte zu fassen. Amis‘ Sprache ist reflektiert. So kommt in seinem Leben dem Wörterbuch eine entscheidende Rolle zu: Es ist immer in Reichweite und aufgrund des häufigen Einsatzes schon ganz abgenutzt. Zudem werden in Experience gelegentlich sogar Wörterbucheinträge zitiert. Und dennoch klingt der durchdachte ironische Tonfall Martin Amis‘ unbeschwert.
In der Übersetzung von Werner Schmitz fällt vor allem eines auf: der Umgang mit Übersetzungen. In der Autobiografie eines Schriftstellers, dessen Vater zu den wichtigsten literarischen Figuren im England seiner Zeit gehörte, spielt Literatur natürlich eine zentrale Rolle. Bei den vielen Gelegenheiten, zu denen andere Werke herangezogen werden, behandelt Schmitz die entsprechenden Zitate, die in den meisten Fällen ebenfalls aus englischsprachigen Originalen stammen, auf diverse Arten. Die gängige Variante ist, aus einer veröffentlichten Übersetzung zu zitieren und den entsprechenden Übersetzer anzugeben. Das geht natürlich nur, wenn das betreffende Werk auch auf Deutsch erschienen ist, und daher ist es verständlich, wenn z. B. Zitate aus Kingsley Amis‘ Stanley and the Women vom Übersetzer selbst ins Deutsche gebracht werden. Schmitz entscheidet sich allerdings auch bei einigen Titeln, die auf Deutsch erschienen sind, gegen diese Möglichkeit, ohne dass ein System erkennbar würde, warum bei manchen Büchern nachweislich aus den deutschen Ausgaben zitiert wird, bei anderen aber nicht. Besonders interessant ist dies im Umgang mit Lyrik. Dabei gehen die Varianten von einem ausschließlich im Original zitierten altenglischen Gedicht bis hin zu Versen von Cecil Day Lewis, die nur auf Deutsch und ohne weitere Angaben im Text erscheinen. Zwischen diesen Extremen nutzt Schmitz alle weiteren Möglichkeiten aus: Ein Zitat von John Donne erscheint auf Englisch im Fließtext und in einer Versübersetzung inklusive Name des Übersetzers in einer Fußnote; Gedichte von Kingsley werden im Text im Original zitiert, aber in Fußnoten in Prosaübersetzungen bzw. „sinngemäß auf Deutsch“ wiedergegeben; Milton wiederum wird auf Deutsch im Text zitiert, und bei ihm ist Johann Jacob Bodmer als Übersetzer angegeben. Dem deutschen Leser mag einiges entgehen, insbesondere weil die angesprochenen Werke – unabhängig davon, in welcher Sprache aus ihnen zitiert wird – in der Regel nur mit den englischen Titeln benannt werden. Denn wer Die Hauptsachen auf Deutsch liest, wird sich auch an die Bücher, auf die Bezug genommen wird, eher mit dem deutschen Titel erinnern, und er würde sie auch leichter finden, wenn er sie noch nicht gelesen hat. Zwar ist dies bei Finnegans Wake (bekannteste Übersetzung von H. Wollschläger) noch kein Problem, und auch Martins The Rachel Papers lässt sich noch als Das Rachel-Tagebuch (Deutsch von J. Kalka) identifizieren, aber dass ein Titel wie Kingleys Russian Hide and Seek auf Deutsch zu Das Auge des Basilisken (übersetzt von W. Brumm) wird, ist schon deutlich schwieriger zu erraten. Wenn dann noch auf eine bestimmte Stelle in Martin Amis‘ Money (Deutsch: Gierig, übersetzt von E. Schönfeld) verwiesen wird, die Seitenangaben aber nur für britische und amerikanische Ausgaben erfolgen, wird es erst recht problematisch.
Die Hauptsachen ist ein Buch, das sich zu lesen lohnt. Denn über die vielen schönen, witzigen und auch traurigen Anekdoten vermittelt Martin Amis auch einen Eindruck von der englischen Literaturszene, die er mit einem satirischen Unterton aus dem Blickwinkel des Insiders schildert (denn er ist nicht nur selbst Autor und Sohn eines Schriftstellers, sondern hat auch lange Zeit Rezensionen verfasst). Und ganz nebenbei verrät Amis in kurzen Einschüben, was im Kopf eines Schriftstellers vor sich geht, wenn er Romane schreibt.
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Martin Amis: Die Hauptsachen, aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. München: Hanser 2005, 456 Seiten
Martin Amis: Experience. New York: Hyperion 2000, 406 Seiten
Martin Amis wurde 1949 in Oxford geboren. Nach seinem dortigen Studium begann er, für verschiedene Zeitungen zu schreiben. 1973 erschien sein erster Roman The Rachel Papers (Das Rachel-Tagebuch), für den er den Somerset Maugham Award bekam. Es folgten mehrere Sammlungen von Kurzgeschichten und weitere Romane, darunter London Fields (Neunzehnhundertneunundneunzig), Heavy Water (Schweres Wasser) und Time’s Arrow (Pfeil der Zeit).
Werner Schmitz übersetzt aus dem Englischen und hat unter anderem Werke von Paul Auster, Philip Roth, Ernest Hemingway, Henry Miller, Don DeLillo, William Carlos Williams, John le Carré und Michael Ignatieff ins Deutsche übertragen. Neben der Belletristik übersetzt er auch Biografien und Texte zur Literaturgeschichte, Astronomie und Musik.