Was passiert, wenn man jemanden zu Tode liebt? Wenn ein einziger Tag alles verändert? Wenn „das Undenkbare denkbar und das Unmögliche möglich gemacht” wird?
Arundhati Roys preisgekrönter Roman Der Gott der kleinen Dinge geht diesen Fragen nach. Er beschreibt die Geschichte eines Landes und seiner unerbittlichen Gesellschaft und die einer in diesem Land tief verwurzelten Familie. Er erzählt von bedingungsloser und verbotener Liebe und von „love laws that lay down who should be loved. And how. And how much.” Er zeigt, wie grausam die großen Dinge sind – und wie wertvoll die kleinen.
Es ist die Geschichte der Zwillinge Estha und Rahel, die in einer gutbürgerlichen Familie in der indischen Provinz aufwachsen. Ihr Onkel Chacko hat in Oxford studiert und ist der angesehene Leiter der familieneigenen Konservenfabrik. Ihre Mutter Ammu hingegen hat sich von ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Mann getrennt und lebt deshalb in Schimpf und Schande. Im indischen Gesellschaftsdenken ist kein Platz für eine allein erziehende Mutter. Doch erst die verbotene Liebe zwischen Ammu und dem Unberührbaren Velutha macht aus der Geächteten eine Verstoßene und setzt der Kindheit der Zwillinge ein abruptes Ende. Der grausame Höhepunkt des Buches wird an einem einzigen Tag erreicht, einem Tag, der alles für immer verändert. Nicht nur Ammus Affäre wirft die Familie aus der Bahn, sondern auch ein Unfall, bei dem die englische Cousine der Zwillinge ums Leben kommt. Um die „Ordnung wiederherzustellen“ wird die Schuld daran ebenfalls Velutha gegeben. Man zwingt die Zwillinge, für die Velutha immer ein väterlicher Freund gewesen ist, gegen ihn auszusagen, während er von Polizisten zu Tode geprügelt wird. Ammu wird von ihrer Familie verstoßen, Estha an seinen Vater „zurückgegeben“ und Rahel bleibt im Haus der Großmutter.
„Der Gott der kleinen Dinge“ ist ein Gott, der den großen Dingen trotzt, einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder in Kasten einteilt und „Ordnung“ über Verstand und Gerechtigkeit stellt. Er setzt sich über die Schranken und Grausamkeiten von Kommunismus und Kapitalismus ebenso hinweg, wie über „die Gesetze der Liebe. Die festlegten, wer geliebt werden durfte. Und wie. Und wie sehr.“
Arundhati Roy erzählt die verworrene, dunkle Geschichte der indischen Familie lebendig und liebevoll. Manchmal mit rührend viel Gefühl, an anderen Stellen mit verstörender Grausamkeit. Ihre Sprache ist voller Magie, Bilder und Allegorien. Eine schwierige Aufgabe für die Übersetzerin, die aber von Anette Grube meisterhaft gelöst wurde. So wird „a delicate, purple tinge of envy“ zu „eine heikle purpurrote Spur Eifersucht“. Auch das wunderschöne Bild von „It was warm, the water. Greygreen. Like rippled silk. With fish in it. With the sky and trees in it“ bleibt in der deutschen Übersetzung durchaus erhalten: „Es war warm, das Wasser. Graugrün. Wie gekräuselte Seide. Mit Fischen darin. Mit dem Himmel und den Bäumen darin.“
Ebenfalls eine Herausforderung, nicht so sehr für den Übersetzer als vielmehr für den Leser, sind Roys zahlreiche und fast unmerkliche Wechsel in Erzählperspektive und Erzählzeit. Es gibt Passagen, in denen dem Leser erst nach einigen Sätzen klar wird, aus wessen Sicht und zu welcher Zeit nun erzählt wird. Dies stört jedoch an keiner Stelle den Überblick über das Geschehen, sondern steigert sogar das Lesevergnügen, denn der Leser wird auf diese Weise noch stärker in die Geschichte eingebunden.
Ebenso verhält es sich mit den zahlreichen indischen Ausdrücken, die im Text vorkommen. Sie verleihen dem Roman sein exotisches Flair und sind daher sehr wichtig, wenn sie auch wahrscheinlich nicht in ihrer Gesamtheit vom Leser verstanden werden. Auch hier könnten beim Übersetzen Schwierigkeiten entstehen. Verständlicherweise hat sich Anette Grube dafür entschieden, die indischen Ausdrücke und somit den besonderen Charme des Textes beizubehalten, vor allem in Dialogen, um das Gesprochene noch lebendiger und authentischer wirken zu lassen. So zum Beispiel auch die letzten Worte des Romans: „Sie drehte sich um und sagte es noch einmal: „Naaley.“ Morgen.“
Das Ergebnis ist die gelungene Übersetzung einer originell erzählten, tragischen Geschichte um die Dinge, die im Leben wirklich wichtig sind und doch viel zu oft verloren gehen.
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Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge, aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube, München: Karl Blessing Verlag 1999, 380 Seiten
Arundhati Roy: The God of Small Things, London: Flamingo 1997, 340 Seiten
Arundhati Roy, Jahrgang 1961, studierte Architektur in Delhi. „Der Gott der kleinen Dinge“ ist ihr erster Roman, der 1997 den Booker Prize erhielt. Als politische Aktivistin und Globalisierungsgegnerin ist sie mehrfach massiv mit der indischen Regierung in Konflikt geraten, wurde aber auch mehrmals für ihr soziales Engagement ausgezeichnet.
Anette Grube studierte Politik und Amerikanistik, bevor sie 1988 begann, als literarische Übersetzerin zu arbeiten. Heute lebt sie in Berlin und übersetzt englischsprachige Literatur ins Deutsche. Zu den Autoren gehören Arundhati Roy, Kate Atkinson, Vikram Seth und Doris Lessing.