„Barnum“ wird der Erzähler in Lars Saabye Christensens Roman Der Halbbruder von seinen Eltern getauft, nach dem Zirkusdirektor P.T. Barnum, der für seine Kuriositätensammlung berühmt war. Und wie eine solche wird auch Barnums Familie im Oslo der Nachkriegszeit angesehen. Drei Generationen von alleinerziehenden Frauen, der vaterlose Fred, der kleinwüchsige Barnum und sein zwielichtiger Vater – alle werden sie von der Gesellschaft argwöhnisch, aber auch fasziniert beäugt. Zusammenhalt und Zuneigung finden sie fast ausschließlich beieinander.
Im Mittelpunkt dieser Familiensaga steht Barnums Halbbruder Fred, dessen Name zu Deutsch „Frieden“ bedeutet – pure Ironie, da Fred, der durch seine Geburt neun Monate nach Kriegsende zwar zur Generation der „Friedenskinder“ gehört, jedoch am Tag der Befreiung Norwegens von den Deutschen bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde. Für seinen kleinen Bruder Barnum, der aus einer späteren Ehe der Mutter hervorgeht, dreht sich das ganze Leben nur um den zornigen, schweigsamen Fred, den sein Hass auf die ihn ablehnende Welt zu zerfressen scheint. Erst als Fred schließlich verschwindet, gelingt es Barnum, sich ein eigenes Leben unabhängig von Fred aufzubauen, doch auch dann ist dessen Abwesenheit stets spürbar.
Christensen gelingt mit diesem Roman, an dem er über zwanzig Jahre lang schrieb, das liebevolle Porträt einer Familie von skurrilen Gestalten. Besonders faszinierend ist seine Fähigkeit, bei allen Katastrophen und Problemen, denen die Nilsens ausgesetzt sind, das Komische im Tragischen zu finden. Denn wie könnte man es anders bezeichnen, wenn beispielsweise die Urgroßmutter an dem Tag, an dem ihr geliebter König Haakon VII. stirbt, auf dem Weg zum Trauerzug von einem Auto überfahren wird – und hinterher jeder versichert, sie habe sich einen guten Tag zum Sterben ausgesucht, da nun das ganze Land um sie trauere?
Wie die Protagonisten zieht der ganze Roman viel Kraft aus dem Schweigen. Nicht nur Fred, seine Mutter und seine Großmutter verstummen nach schwierigen Ereignissen ihres Lebens einfach eine Zeit lang, auch der Text verschweigt die Antworten auf einige wichtige Fragen: Was bedeutet es, dass sowohl dem Vergewaltiger, von dem die Mutter der Brüder nur die Hände gesehen hat, als auch ihrem späteren Ehemann ein Finger fehlt? Und welche Rolle spielte Fred beim tödlichen Autounfall der Urgroßmutter?
Mit der Geschichte dieser einzigartigen Familie vermittelt Christensen zugleich ein Bild Norwegens nach dem Zweiten Weltkrieg und kommentiert ganz nebenbei das moderne Leben, wenn er seinen Erzähler über das heutige Telefonierverhalten sagen lässt: „…ja, samfunnet ble et stort soveværelse hvor alle snakket med alle, men mest seg selv og ingen hadde noe å si.“ (in der Übersetzung: „…ja, die Gesellschaft wurde zu einem einzigen großen Schlafzimmer, in dem alle mit allen redeten, aber in erster Linie mit sich selbst, und niemand hatte etwas zu sagen.“) Solche kritischen Urteile werden ganz beiläufig eingestreut, wie flüchtige Gedanken, die kurz an der Oberfläche auftauchen und sich dann wieder zurückziehen.
Christensens Erzählweise gleicht einer Taschenlampe in einem dunklen Zimmer: Immer wieder streift der Lichtkegel über kleine, scheinbar unbedeutende Dinge, die somit in den Mittelpunkt gerückt werden. Da ist zum Beispiel der Brief, den der Verlobte der Urgroßmutter in Grönland geschrieben hat und der so viel für die Familie bedeutet, dass beinahe jeden Abend daraus vorgelesen wird und Fred sich jahrelang auf die Suche nach dem Schriftstück begibt, als es verschwunden ist. Dann gibt es noch einen abgerissenen Knopf, der nach der Vergewaltigung am Tatort gefunden wurde und immer wieder auftaucht, ohne dass seine Bedeutung wirklich klar wird – lauter auf den ersten Blick wertlose Gegenstände, die jedoch in diesem Zusammenhang eine ungeheure Bedeutung bekommen.
Gerade bei diesen Details, die für den Roman so wichtig sind, unterlaufen der Übersetzerin Christel Hildebrandt oft Flüchtigkeitsfehler. Vor allem im ersten Drittel der deutschen Übersetzung stolpert der Leser immer wieder über Ungereimtheiten. So ist an einer Stelle von den „Briefen“ des Verlobten die Rede, obwohl sich die besondere Bedeutung des Schriftstückes doch daraus ergibt, dass es nur eines gibt. An anderer Stelle wird die Aussage „La oss ikke få flere å vente på her i huset“ („Lasst uns in diesem Hause nicht noch auf weitere Leute warten“), die aus dem Mund von Veras Mutter stammt, deren Leben einzig und allein vom Warten auf ihren verschollenen Geliebten geprägt ist, unerklärlicherweise übersetzt mit „Lasst nicht noch mehr darauf warten“. Dieser Satz ergibt nicht nur keinen Sinn, sondern verfälscht massiv das Bild des Lesers von Veras Mutter, die doch eigentlich nur ihrer Enkelin ihr eigenes Schicksal ersparen will. Weiterhin nennt die Übersetzerin Vera an einer Stelle „Eva“, kurz darauf wird das Mädchen bewusstlos auf ein Bett im Wohnzimmer statt im Schlafzimmer gelegt. Wichtige Informationen werden weggelassen, so zum Beispiel dass niemand weiß, was der in Oslo sagenumwobene „Dunkelmann“, der später zum Sinnbild sowohl für den Vater als auch für Fred wird, tagsüber macht, obwohl diese Ungewissheit genau das ist, was die beiden Männer mit der Legende verbindet. Im Laufe des Romans wird die Übersetzung aber immer souveräner, es wirkt so, als habe Christel Hildebrandt sich nun gedanklich mit dem Roman vertraut gemacht.
Eine besondere Herausforderung für die Übersetzerin ist die ständige Verwendung des Dänischen (und vereinzelt auch des Schwedischen) im Original. Christensen stammt aus einer dänischen Familie, hat aber sein ganzes Leben in Norwegen verbracht, und da die skandinavischen Sprachen einander sehr ähnlich sind, bereiten dänische und schwedische Passagen dem norwegischen Lesepublikum keinerlei Probleme. Christensen nutzt diesen Umstand für seinen Roman gekonnt aus, so lässt er beispielsweise Barnums Vater auf einer Autofahrt durch ganz Skandinavien in Schweden Schwedisch und in Dänemark Dänisch sprechen. Das führt dazu, dass Barnum, der noch ein Kind ist, glaubt, dass man beim Überqueren einer Landesgrenze automatisch eine andere Sprache spricht. Christel Hildebrandt übersetzt die dänischen und schwedischen Passagen ins Deutsche, fügt aber, wenn nötig, zum Beispiel ein unauffälliges „sagt er auf Schwedisch“ ein, um deutlich zu machen, welche Sprache gerade gesprochen wird.
Christensens Roman ist geographisch sehr stark an Fagerborg, einen Teil Oslos, gebunden. Barnums Wege durch die Stadt werden mit an Wegbeschreibungen erinnernder Genauigkeit verfolgt, so dass das Lesen des Romans einem Spaziergang durch Oslo gleicht. Die Übersetzerin behält grundsätzlich die norwegische Schreibweise der Ortsbezeichnungen bei – der Rathausplatz bleibt „Rådhusplass“, Straßen und Plätze heißen „Nobels gate“ und „Solli plass“. Dadurch wird der deutsche Text genauso stark in Norwegen verankert wie das Original in Oslo – auch wenn dafür in Kauf genommen wird, dass der Text für einen deutschen Leser anstrengend zu lesen ist. Unverständlich bleibt vor diesem Hintergrund jedoch, warum aus der recht bekannten norwegischen Stadt Bodø eine Insel mit dem Namen Bodøya wird.
Insgesamt lässt sich sagen, dass in Der Halbbruder ein sehr warmherziges Porträt einer Familie gezeichnet wird, deren Mitglieder trotz all ihrer sowohl komischen als auch tragischen Bemühungen immer Außenseiter der Gesellschaft bleiben. Vielleicht wachsen sie dem Leser, der ständig zwischen Mitleid und Belustigung schwankt, genau deshalb so sehr ans Herz. Auch die deutsche Übersetzung ist durchaus zu empfehlen – wenn man sich von den Ungenauigkeiten im ersten Teil nicht abschrecken lässt.
Lars Saabye Christensen: Der Halbbruder, übersetzt von Christel Hildebrandt, München: btb-Verlag 2005, 767 Seiten, 10 €
Lars Saabye Christensen: Halvbroren, Oslo: J.W.Cappelens Forlag 2001, 651 Seiten, 149 NOK
Lars Saabye Christensen wurde 1953 in Oslo geboren, wo er auch heute lebt. In Norwegen gilt er schon seit langem als einer der besten und bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller. In Deutschland ist hauptsächlich sein Roman Yesterday (Originaltitel: Beatles, 1984) bekannt, in dem er das Alltagsleben einiger jugendlicher Beatlesfans im Oslo der 60er Jahre schildert. Insgesamt sind bisher acht seiner Werke (sieben Romane, ein Band mit Erzählungen) ins Deutsche übersetzt.
Dr. Christel Hildebrandt wurde 1952 in Lauenburg/Elbe geboren und lebt heute in Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen, neben Lars Saabye Christensen unter anderem bekannte Autoren wie Håkan Nesser, Mikael Niemi (Populärmusik aus Vittula) und Marianne Fredriksson.
Elisabeth Schmalen studiert seit 2004 Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit den Sprachen Englisch und Spanisch. Vor ihrem Studium besuchte sie ein Jahr lang eine Schule in Südnorwegen. Das Wintersemester 2006/07 verbrachte sie in Madrid. Nebenbei organisiert sie den studienganginternen Literaturtreff und übersetzt Texte für verschiedene Filmproduktionsfirmen.