Das jüngste auf Deutsch erschienene Werk des peruanischen Nobelpreisträgers für Literatur Mario Vargas Llosa, Travesuras de la niña mala, auf Deutsch Das böse Mädchen, ist eine der letzten Übersetzungen der im Jahr 2008 verstorbenen Elke Wehr. Vargas Llosa präsentiert in seinem Roman eigentlich gleich sieben Romane: Die Kulisse wandert vom konservativen Lima der 50er Jahre über das intellektuelle Paris der 60er, das „swinging London“ der 70er und das boomende Tokio bis zum multikulturellen Madrid der 80er. Der autobiographische Charakter des Romans, den der Verfasser in einigen Interviews selbst hervorhob, wird durch die häufigen pessimistischen Nebenbemerkungen zu Perus politischer und sozialer Entwicklung – mitsamt Guerrillakämpfen, Militärputschen, Inflation und Terrorismus – verstärkt. Die sieben Kapitel lassen sich unabhängig voneinander lesen; doch strukturiert und zu einem Ganzen erhoben werden sie von der Lebensgeschichte des Ich-Erzählers Ricardo Somocurcio und dessen Liebe zum „bösen Mädchen“, das immer wieder unerwartet in sein Leben tritt, um dann plötzlich genauso unerwartet wieder zu verschwinden. Sie spielt ihm üble, „böse“ Streiche, die ihn am Boden zerstört zurücklassen.
Mit dem Stichwort „Streich“ („travesura“) lässt sich auch die Besprechung von Elke Wehrs Übersetzung beginnen. Denn bereits die Übertragung des Titels wirft einige Fragen auf: Aus Travesuras de la niña mala wird Das böse Mädchen – somit fallen die „Streiche“ weg. Dem Leser wird damit nicht nur die vernichtende Wirkung der Streiche des bösen Mädchens auf den Ich-Erzähler vorenthalten, sondern auch und vor allem der episodische Charakter dieses Romans, denn die Streiche entsprechen den Kapiteln des Romans. Das Oszillieren zwischen Gefahr und Spiel, das den Roman bestimmt, wird dadurch ebenfalls aufgelöst. Diese meines Erachtens fehlerhafte Entscheidung ist gewiss nicht der Übersetzerin zuzuschreiben – im Verlagsbetrieb haben in der Regel marktstrategische Erwägungen gegenüber ästhetischen und übersetzerischen Kriterien Vorrang[1]. Dass dadurch wichtige Facetten des Textes verloren gehen, ist genauso unvermeidbar wie bedauerlich.
Die Handlung gewinnt streckenweise melodramatische Züge, so etwa als der Protagonist in Peru zufällig den Vater des bösen Mädchens kennenlernt. Hier erfährt er von ihrer Herkunft aus einfachen, von sozialer Diskriminierung geprägten Verhältnissen und von ihrer traumatischen Flucht aus der Armut, einer Flucht nach vorn. So äußert der Ich-Erzähler Verständnis für die im spanischen Titel genannten Streiche des bösen Mädchens:
„[…] de huir para siempre de esa trampa, cárcel y maldición que era para ella el Perú, y partir lejos, y ser rica —sobre todo eso: rica, riquísima—, aunque para ello tuviera que hacer las peores travesuras, correr los riesgos más temibles, cualquier cosa, hasta convertirse en una mujercita fría, desamorada, calculadora, cruel. (S. 323 f.)“
„[…] für immer aus Peru zu fliehen, das für sie immer eine Falle, ein Gefängnis und ein Fluch war, weit fort zu gehen und reich zu werden – das vor allem: reich, steinreich –, auch wenn sie dafür die bösesten Streiche aushecken, die schlimmsten Risiken eingehen, was auch immer tun mußte, sogar sich in eine kalte, lieblose, berechnende, grausame Frau verwandeln.“ (S. 341)
An dieser Stelle wird deutlich, wie es Elke Wehr gelungen ist, den Vargas Llosa eigenen Sprachfluss und den bedächtigen Rhythmus der Erzählung beizubehalten. Allerdings gehen in ihrer Übersetzung einige Peruanismen verloren, die diesem Text seinen besonderen Charakter verleihen und die zentrale Begriffe für die innere Logik der Handlung transportieren. So etwa „huachafería“ und das daraus abgeleitete Adjektiv „huachafo“ (Kitsch, kitschig) oder „pichiruchi“ (armer Teufel), die viele Male im Buch vorkommen[2]. Diese Wörter – Vargas Llosa hat sich hier des „limensischen“ Spanisch seiner Jugend bedient, wie er bei der Buchpräsentation betonte – sind dem aus dem nicht-andinen Raum stammenden Leser des Originals, der großen Mehrheit der spanisch-sprechenden Gemeinschaft also, zunächst unverständlich. Mit der häufigen Wiederholung und der Einbindung des Kontexts kann der Leser des Originals für sich die Bedeutung dieser Peruanismen rekonstruieren. Diese Möglichkeit bleibt dem deutschen Leser jedoch verwehrt, ihm werden die peruanischen Züge zweier entwurzelter Figuren, die sich nirgendwo auf der Welt und insbesondere in Peru nicht zu Hause fühlen können, vorenthalten. Anhand eines längeren Abschnitts aus einem Gespräch zwischen dem bösen Mädchen und dem Ich-Erzähler wird dieser Verlust deutlich:
—Tú debes ser la última persona en el mundo que todavía dice esas cosas a las mujeres —sonreía, divertida, mirándome como a un bicho raro—. ¡Qué huachaferías me dices, Ricardito!
—Lo peor no es que las diga. Lo peor es que las siento. Sí, son verdad. Tú me conviertes en un personaje de telenovela. Nunca se las he dicho a nadie más que a ti.
—No debe vernos así nadie, jamás— dijo de pronto, cambiando de tono, ahora muy seria—. Lo último que quisiera es una pataleta de celos del pesado de mi marido. Y, ahora, tengo que irme, Ricardito.
—¿Tendré que esperar otros cuatro años para verte de nuevo?
—El viernes —precisó de inmediato, con una risita pícara, pasándome otra vez la mano por el pelo. Y, luego de una pausa efectista—: Aquí mismo. Tomaré un cuarto a tu nombre. No te preocupes, pichiruchi, lo pagaré yo. Tráete algún maletín, para disimular. (S. 124, Herv. H.C.)
„Du bist bestimmt der letzte Mensch auf der Welt, der den Frauen noch solche Sachen sagt.“ Sie lächelte amüsiert und betrachtete mich wie einen komischen Kauz. „Was für ein kitschiges Zeug, Ricardito!”
„Das schlimmste ist nicht, daß ich sie sage. Das schlimmste ist, daß ich sie fühle. Ja, sie sind wahr. Wegen dir rede ich wie die Figur einer Fernsehserie. Ich habe sie zu niemandem gesagt, außer zu dir.“
„Man darf uns nie so sehen“, sagte sie plötzlich in verändertem Ton, sehr ernst. „Das letzte, was ich mir wünschen würde, wäre ein Eifersuchtsanfall meines nervenden Ehemannes. Und jetzt muß ich gehen, Ricardito.“
„Muß ich noch einmal vier Jahre warten, um dich wiederzusehen?“
„Am Freitag“, bestimmte sie sofort, mit einem kurzen verschmitzten Lachen, während sie mir erneut mit der Hand durchs Haar fuhr. Und nach einer wirkungsvollen Pause: „Hier. Ich werde ein Zimmer auf deinen Namen reservieren. Keine Sorge, du armer Teufel, ich werde es bezahlen. Komm mit einem kleinen Koffer, um den Schein zu wahren.“ (S. 128, Herv. H.C.)
Die Textstelle zeigt aber auch, dass Elke Wehr die meisterhaften Dialogkonstruktionen Vargas Llosas mit der gebotenen Sensibilität übertragen hat.
Ein weiterer sehr interessanter Aspekt dieses Romans liegt im Beruf des Protagonisten: Er übt den „Phantomberuf“ (S. 152) des Dolmetschers aus – seinen Traum, in Paris zu leben, kann er sich als Übersetzer und Simultandolmetscher für die Unesco erfüllen. So werden im Roman nicht zuletzt die beruflichen Schwierigkeiten und die finanziellen Risiken eines freiberuflichen Übersetzers thematisiert. Am spannendsten sind jedoch die Reflexionen über das Übersetzen an sich, die vor allem in Gesprächen des Protagonisten mit seinem Freund Salomón Toledano stattfinden, dessen Name die mittelalterliche Übersetzerschule in Toledo evoziert. Der Dragoman Toledano ist eine seltsame Figur, die zwölf Sprachen beherrscht. Seine ephemere Existenz als Wortjongleur und Vermittler fremder Sprachen bringt er eloquent auf den Punkt:
„Wenn wir uns plötzlich dem Tod nahe fühlen und uns fragen: Was für eine Spur wird von unserem Aufenthalt in diesem Hundezwinger bleiben?, dann wäre die ehrliche Antwort: keine, wir haben nichts getan, außer, für andere zu sprechen. Was sonst bedeutet es, Millionen von Wörtern übersetzt zu haben und uns nicht an ein einziges davon zu erinnern, weil keines es verdiente, erinnert zu werden?“ (S. 157 f.)
Durch die Bekanntschaft mit Mario Muchnik – der reale Verleger Mario Muchnik, ein langjähriger Freund von Vargas Llosa, ist für die literarische Qualität, aber auch für die mangelnde Wirtschaftlichkeit seiner Unternehmungen bekannt – wird der Ich-Erzähler Somocurcio im Roman vom Dolmetscher zum literarischen Übersetzer. Die Beschreibung seiner Arbeit an der Übertragung von Tschechows Erzählungen ist eine Liebeserklärung an die Literaturübersetzung. Die grundlegenden Unterschiede zwischen Dolmetschen und Literaturübersetzung werden umso deutlicher, wenn Toledano, der sich als Dolmetscher erstaunlich wenig für Kultur und Literatur interessiert, seiner Geringschätzung für den literarischen Übersetzer freien Lauf lässt:
„Ein literarischer Übersetzer will Schriftsteller sein, das heißt, er ist fast immer ein verhinderter Schreiberling. Jemand, der sich nie damit abfinden würde, in seiner Arbeit zu verschwinden, wie wir guten Dolmetscher es tun. Verzichte nicht auf deinen Status als inexistenter Vasall, mein Lieber, es sei denn, du willst als Clochard enden.“ (S. 162)
Toledanos Mahnung ist fast prophetisch für Somocurcio, der sich zum Ende des Romans in Madrid mit Übersetzungen von Doris Lessing, Paul Auster oder Michel Tournier über Wasser zu halten versucht. Nachdem seit Beginn der Handlung fast 40 Jahre vergangen sind, wird er von der Lust am Erzählen gepackt. So berichtet der Schluss des Romans von der Nähe, ja, dem fließenden Übergang zwischen dem literarischen Übersetzer und dem Schriftsteller.
Insgesamt ist Travesuras de la niña mala, und auch Das böse Mädchen, ein sehr lesenswerter Roman über die Streiche der Liebe, über den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge. Vor allem aber bietet der Roman eine anregende Reflexion über die Literatur überhaupt, den Roman im Speziellen und vor allem über Literaturübersetzung. Vargas Llosas langjährige Übersetzerin Elke Wehr vermochte dem deutschen Leser in einer ihrer letzten Arbeiten eine dem virtuosen Stil des Nobelpreisträgers angemessene Übersetzung zu liefern. Dessen nächster Roman, El sueño del celta / Der Traum des Kelten, wird nach Verlagsangaben im September 2011 in der Übersetzung von Angelica Ammar erscheinen.
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Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen, übersetzt von Elke Wehr, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch 2007, 396 Seiten, 9,90 €
Mario Vargas Llosa: Travesuras de la niña mala, Madrid: Alfaguara 2006, 376 Seiten, 18,50 €.
Mario Vargas Llosa, 1936 in Arequipa (Peru) geboren, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen spanischsprachigen Autoren. Seine Romane Die Stadt und die Hunde, Gespräch in der „Kathedrale“, Das grüne Haus oder Das Fest des Ziegenbocks machten ihn weltweit bekannt. 1994 erhielt er den Premio Cervantes, den wichtigsten Literaturpreis im spanischsprachigen Raum, 1996 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2010 den Nobelpreis für Literatur. Er wohnt in Paris, London und Madrid.
Elke Wehr (1946-2008) übersetzte große spanische und lateinamerikanische Autoren wie Octavio Paz, Mario Vargas Llosa, Alejo Carpentier, Alfredo Bryce Echenique, Manuel Rivas, Julio Cortázar oder Javier Marías, der sie für ihre aufmerksame Lektüre und sorgfältige Arbeit besonders schätzte. 2006 erhielt sie für ihre Übersetzungen den Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds.
Héctor Canal wurde 1980 im nordspanischen Oviedo geboren. Während seines Gemanistik-Studiums in Braunschweig übersetzte er Texte von Wackenroder und Tieck, Jakob Wassermann, E.T.A. Hoffmann, Kant und Marx ins Spanische. Zurzeit arbeitet er an einer Dissertation über Übersetzung und Philologie in der deutschen Romantik.
[1]Christiane Nord hat in mehreren Arbeiten die Problematik der Übersetzung von Titeln beleuchtet sowie die herrschenden verlegerischen Kriterien bzgl. der Titelgebung aufgezeigt. So ist gerade Vargas Llosas berühmte Conversación en la ‘Catedral’ – zunächst 1976 in der Übersetzung von Wolfgang A. Luchting bei Claasen als Die andere Seite des Lebens erschienen und später von Suhrkamp unter dem Titel Gespräch in der „Kathedrale“ wiederaufgelegt worden – ein Paradebeispiel für die Schwierigkeit der Übersetzung von Titeln.
[2]Das Wörterbuch der Real Academia Española führt das Lemma „pichirruchi“ (und nicht „pichiruchi“, wie in Vargas Llosas Text) mit der Bedeutung „persona insignificante / unbedeutende Person“.
Super Rezension!
Gruß
Elke und Dieter