Buchcover Kein Rädchen im Getriebe
Hannes Becker zur Theaterübersetzung und Theaterübertitelung

Eine besondere Form des literarischen Übersetzens ist das Theaterübersetzen. Das Tätigkeitsfeld der Theaterübersetzer*innen umfasst – das ist die Besonderheit – neben hochspezialisierten Einzeldienstleistungen auch viel direkte Mitwirkung in der Theaterarbeit: Theaterübersetzer*innen arbeiten auf Festivals, im Stadttheater und in freien Gruppen mit Kolleg*innen aus allen Theaterberufen. Vor allem im Bereich der Theaterübertitelung sind Übersetzer*innen ganz direkt in die Abläufe am Theater involviert: Als Übertitler*innen vermitteln sie zwischen den Performer*innen und ihrem Publikum, stellen den Zuschauer*innen notwendige Informationen bereit, leisten mit ihren Übertiteln aber auch eigene künstlerische Beiträge zu einer Theaterproduktion.

Erst einmal sieht es aber so aus, als wären die Übertitler*innen vor allem „Rädchen im großen Getriebe Theater“, die hier – wie die Übertitlerin und Übersetzungswissenschaftlerin Yvonne Griesel den gängigen Eindruck beschreibt, „ganz tief drin“, aber auch „ganz weit unten“ – ihre Übertitel „fährt“, wie es genannt wird, das heißt: mithilfe einer Spezialsoftware oder auch einfach PowerPoint die vorbereiteten Übertitel live auf den dafür im Bühnenbild vorgesehenen Ort einspielt.


© Voxi Bärenklau

Doch hier erschöpft sich die Maschinen-Metapher auch schon wieder. Denn in der Praxis des Übertitelns sind es vor allem sehr viele Menschen, die Unvorhersehbares tun und die sehr Verschiedenes wollen, und ist viel Technik im Einsatz, die auch nicht immer funktioniert.


© Göran Gnaudschun

In diesem komplizierten Zusammenspiel befinden sich die Übertitler*innen genau am Übergang von Video, Licht und Ton, zwischen den technischen und den künstlerischen Mitarbeiter*innen einer Produktion, mit Dramaturgie, Regie und Regieassistenz als Hauptansprechpartnerinnen, und Schauspieler*in, Inspizient*in, Bühnenbildner*in, Autor*in, Bühnenmeister*in, Musiker*in u. v. m. als weiteren Beteiligten. Eine besonders notwendige, aber auch besonders heikle Aufgabe der Übertitler*innen ist dabei die ohnehin für den Übersetzungsberuf so typische Vermittlungsarbeit zwischen widersprüchlichen Standpunkten und Perspektiven.

Das zeigt sich schon an der Frage, wie sichtbar Übertitel in einer Aufführung werden dürfen: Die Regisseurin will, dass sie nicht zu stark zu sehen sind, die Bühnenbildnerin will sie nicht in ihrem Bühnenbild haben, der Dramaturg will, dass aber doch genug vom Text zu sehen ist, die literarische Übersetzerin des für die Übertitel verwendeten Theaterstücks ist unzufrieden, weil sie ihren Text in den verkürzten Übertiteln nicht mehr wiedererkennt. Und auch das Publikum muss laufend neu gewonnen werden: In den ersten fünf Minuten gilt es, den literarischen Stil des Textes anklingen zu lassen, das Hörerlebnis zu unterstreichen und doch  die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen nicht zu lange festzuhalten und den Blick wieder freizugeben auf das gerade erst beginnende Geschehen auf der Bühne. Ein Tippfehler, riesengroß zu sehen; ein zu starker Unterschied zwischen dem, was zu hören und dem, was zu lesen ist, und das Vertrauen ist verspielt. Oder ein Teil des Publikums beginnt zu lachen, noch bevor der Schauspieler eine Pointe gebracht hat: Sie stand schon im Übertitel.

Solche Beispiele haben mehr als nur anekdotischen Wert. Sie illustrieren die Spannung zwischen dem Unfertigen und Fertigen einer Theaterarbeit. Uli Menke, Übersetzer aus dem Französischen und „Übertitler der ersten Stunde“, der seit Ende der 1990er Jahre Produktionen der Berliner Schaubühne übertitelt, beschreibt den typischen Prozess des Übertitelns: Eine Inszenierung ist „fertig“ und soll anderswo auf einem internationalen Festival vor Zuschauer*innen gezeigt werden. Der*die Übertitler*in wird beauftragt, Übertitel zu erstellen. Zu diesem Zweck erhält er*sie die Videoaufzeichnung der Inszenierung und die Übersetzung des Stücktextes – den häufig nicht der*die Übertitler*in selbst übersetzt hat. In wieder anderen Fällen fehlt eine „literarische“ Übersetzung ganz, und stattdessen arbeitet ein*e Übersetzer*in mit einem an Ablauf und Wortlaut der Inszenierung orientierten Aufführungsskript oder erhält Übertitel in einer anderen Sprache zu Bearbeitung.

Auf der Grundlage dieses sehr heterogenen Ausgangsmaterials wird zunächst eine sogenannte Matrix erstellt, eine am Rhythmus der tatsächlichen Abläufe einer Aufführung orientierte Aufteilung der darin vorkommenden Texte – die dann innerhalb dieser Aufteilung übersetzt werden. Die Aufteilung folgt dem Kriterium der schnellen Lesbarkeit: Dem Publikum soll es möglich sein, gleichzeitig das komplette Bühnengeschehen zu verfolgen, die Übertitel zu lesen und dann noch die Verbindung zwischen beiden herzustellen. Im Ergebnis besteht die Matrix einer Übertitelung zum Beispiel aus den 922 einzelnen Folien einer Power-Point-Präsentation, wie im Fall der Übertitel für die Produktion Dragón des chilenischen Autors und Regisseurs Guillermo Calderón (in diesem Fall übersetzt und übertitelt von Franziska Muche), die 2021 auf dem Festival Theater der Welt in Düsseldorf zu sehen war. In eine solche Matrix werden dann die einzelnen Übertitel eingetragen, in der Regel in Form von Zweizeilern à 37 Zeichen, die jeweils 3-5 Sekunden zu sehen sein werden, wie bei Untertiteln im Film.

In Wirklichkeit aber variiert die Länge der Übertitel einer Theateraufführung stark – je nach Sprechtempo – oder auch Singtempo: Denn in der Oper, wo wegen der häufig fremdsprachigen Texte Übertitel schon lange gezeigt werden, dauert der Vortrag einer Textzeile meist wesentlich länger als im sogenannten Sprechtheater. So können die Übertitel mehr Text enthalten und länger gezeigt werden. Im Sprechtheater geben Inszenierungen mit großem Bewegungsanteil oder Monologe den Übertitler*innen mehr Zeit. Schwieriger wird es bei den typischen Saalschlachten mit durcheinandersprechendem Ensemble, etwa bei Aufführungen von beliebten Stücken wie Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? oder Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels. Um bei solchen Aufführungen mit hohem Sprechanteil das Publikum mitzunehmen, müssen Übertitel etwa auf eine einzelne Sprecherin fokussieren oder können lediglich kurze Synopsen wiedergeben.

Entwickelt wurde die technische Möglichkeit der Übertitelung seit den 1980er Jahren in Finnland und Kanada für einen sich internationalisierenden Spielbetrieb und eine mehrsprachige Zuschauer*innenschaft.


© Yvonne Griesel

Das Übertiteln ist außerdem Merkmal einer veränderten Aufführungspraxis: von einem Theater, in dem das Theaterstück bereits als Vorwegnahme der tatsächlichen Aufführung verstanden wird, insofern diese das Stück „umzusetzen“ hat, hin zu einer Situation, in welcher sich erst alle Aspekte einer Aufführung gemeinsam, Regie, Bühnenbild, Schauspiel, Musik, zu dem für die Übertitelung maßgeblichen „Ausgangstext“, wie Yvonne Griesel es nennt, „addieren“ . Diesen ästhetischen Gesamtzusammenhang einer Inszenierung, der, extrem wandelbar, von Abend zu Abend variieren kann, gilt es in der Übertitelung mit größtmöglicher Offenheit und Genauigkeit nachzuvollziehen. „Letztlich muss ich schauen, wie ich möglichst gut mit der Inszenierung mitatme“, sagt Franziska Muche, und Yvonne Griesel berichtet von Aufführungen, bei denen sie auf der Bühne mittanzen musste und so als Dolmetscherin ganz körperlich mit den Performer*innen mitgegangen ist. Sprechblasen, untertitelte Videos, Regieanweisungen, denen widersprochen wird: All das sind Beispiele für zeitgemäßes Übertiteln bei dem die Übertitel nicht als Dienstleistung für das Publikum, sondern als Bestandteil des künstlerischen Gesamtkonzepts behandelt werden.

Der ästhetisch reizvolle Vorgang des Übertitelns verdient aber auch als politischer Vorgang Beachtung. Die Präsenz der Übertitel in einer Inszenierung bezeugt, ja betont die Mehrsprachigkeit und Diversität der Gesellschaft, in der und für die Theater gemacht wird. Durch die mit dem Übertiteln einhergehende Theatralisierung des Übersetzungsvorgangs werden die ästhetische Vielfalt einer Inszenierung und die sprachliche Diversität der Gesellschaft sichtbar aufeinander bezogen.

Angesichts der großen Verantwortung, die gerade Übersetzer*innen für den Erfolg der künstlerischen Arbeit und das soziale Miteinander am Theater tragen, muss das Bild von der Übertitler*in als kleinem Rädchen im Getriebe relativiert werden. Übersetzer*innen haben – ungeachtet der prekären Bedingungen, unter denen die meisten von ihnen arbeiten – auch eine große Macht: Macht, darüber zu entscheiden, was verstanden wird und was nicht. Macht, hinzuzufügen und fortzulassen. Macht, auszuwählen und zu verändern. Mit Theaterübersetzer*innen zu arbeiten, bedeutet deswegen auch, etwas über den verantwortungsvollen Umgang mit Sprache zu lernen, und die direkte Bedeutung der Übersetzungsarbeit für ein gemeinschaftliches und faires Miteinander zu erkennen.


© Yvonne Griesel

 

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Hannes Becker (* 1982 in Frankfurt am Main) ist Autor, Übersetzer und Kulturwissenschaftler. Übersetzungen von Theaterstücken und Lyrik, u. a. von Caryl Churchill, Matthew Lopez und Rosmarie Waldrop. Promovierte über Präventionsfantasien am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin sowie am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitglied im Forum für Theater und Übersetzung Drama Panorama (drama-panorama.com) sowie im theaterautor*innen-netzwerk des ensemble-netzwerks (ensemble-netzwerk.de/theaterautnw).

 

Die Zitate in diesem Text entstammen mündlichen Gesprächsbeiträgen auf den Veranstaltungen und Diskussionen im Themenschwerpunkt Literarische Übersetzung vs. Theaterübertitelung beim Festival Theater der Welt am 21. und 22. Juni 2021 in Düsseldorf. Einen ausführlicheren Bericht zu diesen Veranstaltungen finden Sie auf dem Blog von Drama Panorama – Forum für Übersetzung und Theater e. V.

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