Kaum ein Buch hat sich weltweit so sehr als Longseller bewährt wie Le Petit Prince von Antoine de Saint-Exupéry, das bereits in 270 Sprachen und Dialekte übersetzt wurde. Nachdem im Jahr 2014, also wie üblich siebzig Jahre nach dem Tod des Autors, die Veröffentlichungs- und Übersetzungsrechte gemeinfrei geworden sind, erschienen im laufenden Jahr allein sieben deutsche Neuübersetzungen in Buchform – Longseller machen sich wohl immer gut im Verlagsprogramm. Will man nun zu Weihnachten einen Kleinen Prinzen verschenken, steht man vor der Qual der Wahl. Und die Zeit ist knapp. ReLü hilft!
Die grundlegende Frage, die Leser und Kritiker stets aufs Neue beschäftigt, ist die nach dem idealen Zielpublikum des Kleinen Prinzen. Begreift man den Protagonisten als Identifikationsfigur, mithin als ein Kind, das die Erwachsenenwelt kritisch beäugt und dabei lernt, sich darin zu orientieren, dann liest man es als amüsant-erhellendes Kinderbuch. Doch hat das Buch auch viele weitere Dimensionen: Schon die von den Erwachsenen als Hut identifizierte Zeichnung, mit der der Erzähler hingegen eine Boa darzustellen versucht, die einen Elefanten verschluckt hat, konfrontiert uns mit Fragen zur Wahrnehmung und Abbildbarkeit von Welt. Zudem stehen die verschiedenen Planetenbewohner, die der kleine Prinz nach und nach besucht und staunend beobachtet, auch für eine von etablierten Vorannahmen beherrschte Welt, in der die Menschen ihr Fehlverhalten mit Rechtfertigungsnarrativen verteidigen. So wäre der Protagonist auch als das personifizierte Staunen zu begreifen, das unsere Vorstellungen von Normalität in Frage stellt. Die sieben Neuübersetzungen verfolgen diesbezüglich unterschiedliche Strategien:
Wer in Kindheitserinnerungen schwelgen und unbedingt den altbewährten Klang des Kleinen Prinzen beim Lesen im Ohr haben möchte, der greife einfach weiterhin zur Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb, die seit 1950 unsere Lektüre im deutschsprachigen Raum geprägt hat. Von ihnen stammen ja auch berühmte Zitate wie „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“. Diese Übersetzung gibt es in verschiedenen Ausgaben beim Karl Rauch Verlag, auch in einer zweisprachigen Variante, die für Französisch Lernende interessant sein mag.
Zum Vorlesen für Kinder und als Erstlesebuch empfiehlt sich die Neuübersetzung von Susan Niessen im Loewe Verlag: fester, solider Einband, kindgerecht illustriert und günstig für 5 € zu haben. Der Text hat kürzere Sinnabschnitte als das Original und durch den Flattersatz ist er auch für junge Leser gut selbstständig lesbar. Die Übersetzerin Susan Niessen ist selbst eine bekannte Kinderbuchautorin und hat sich mit Figuren wie Fips Fidibus einen Namen gemacht. Ihre Übersetzung ist solide und idiomatisch ansprechend, dabei erhält der Text ganz deutlich die Stimme der Kinderbuchautorin („So habe ich im Laufe meines Lebens ziemlich viele ziemlich wichtige Leute getroffen“). Für die leichte Verständlichkeit wird jedoch auch eine Reduktion der Komplexität in Kauf genommen, wenn zum Beispiel bei Ankunft des kleinen Prinzen auf der Erde von einhundertelf Königen die Rede ist, die im Original in Klammern nachgestellten schwarzen Könige jedoch unerwähnt bleiben.
Auch die Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger im Arche Verlag wendet sich deutlich dem kindlichen Zielpublikum zu, eher jedoch als edle Geschenkvariante. Es ist ein großformatiges, auch haptisch ansprechendes Buch im hochwertigen nachtblauen Leinenumschlag, versehen mit golden glänzenden Sternen. Schon optisch wird die Nähe zum Märchenbuch mit einem Hauch von Tausendundeiner Nacht geschaffen. Enzensberger, der inzwischen 85-jährige weltbekannte Autor, hat sich bereits durch andere Übersetzungen einen Namen gemacht, nicht zuletzt durch seine legendäre Version des Misanthrope von Molière, deren aktualisierende Flapsigkeit nicht jedem behagt. Der Tonfall dieser Übersetzung, mit der Enzensberger dem Kleinen Prinzen das „Kindergärtnerinnenhafte“ nehmen möchte, ist märchenhaft kindgerecht. Sowohl im altertümelnden Ausdruck (die Boa verschluckt hier ihre Beute „auf einen Sitz“) als auch in der betonten Kindersprache: die Erwachsenen sollen „endlich kapieren“, der Motor geht „kaputt“ und soll wieder „zusammengeflickt“ werden, der kleine Prinz nennt das Flugzeug ein „Dings“. Diese Definition als Kinderbuch spiegelt sich auch in dem editorischen Eingriff, die Widmung vom Anfang ans Ende des Buchs zu verschieben, wird doch hier im Original gleich zu Beginn die Frage thematisiert, ob sich das Buch an Kinder oder Erwachsene richtet.
Die Übersetzung von Marion Herbert für den Anaconda Verlag ist gekennzeichnet von einer besonderen Klarheit des Ausdrucks und einer akribischen Übernahme von Stilmerkmalen, wie z. B. Wiederholungsstrukturen, die sie offenbar als ästhetisches Moment des Werks erfasst. So wiederholt sie sogar die Bezeichnung „petit garçon“ als „kleiner Junge“, die einen intratextuellen Bezug zwischen Léon Werth, dem das Buch gewidmet ist, und dem Erzähler in Kapitel XXV herstellt. Der Text erhält eine besondere ästhetische Qualität, da bei aller Einfachheit der Syntax die Sätze sehr angenehm rhythmisiert sind, einen beinahe lyrischen Klang erwecken. Die Lesart, den kleinen Prinzen als personifiziertes Staunen zu interpretieren, bietet sich bei dieser Version in besonderer Weise an, da das Wort „Staunen“ als Substantiv oder Verb hier zu einem Leitmotiv des Buches wird. Diese Ausgabe befindet sich auf der Schwelle zwischen Kinder- und Erwachsenenbuch – ganz im Sinne der Strategie des Verlags, der das Buch auf seiner Homepage für eine „Leserschaft jeden Alters“ anpreist – davon mögen beim Vorlesen Erwachsene wie Kinder profitieren.
Hannelore Eisenhofers Übersetzung wird im Nikol Verlag als wertiges Geschenkbuch präsentiert: Der weinrote Leinenrücken kontrastiert mit einem Umschlag in samtener Haptik, es ist die einzige Neuübersetzung mit Lesebändchen. Wer ein schönes Buch zum günstigen Preis verschenken möchte, liegt hier richtig. Wer jedoch das Buch tatsächlich lesen möchte, wähle besser eines der anderen. Zwar wird die Übersetzerin und Ostasienspezialistin als Garant für die Qualität ihrer Arbeit mit ihrem Doktortitel im Buch erwähnt, jedoch ist diese Fassung stilistisch durch störende Registerwechsel, Schwächen in Idiomatik und Syntax, teils missverständliche inhaltliche oder grammatikalische Bezüge, unbedachte Wiederholungen und falsche Zeichensetzung charakterisiert. In vielen Formulierungen liegt diese Version der Fassung von Grete und Josef Leitgeb auffällig nahe. Dann doch lieber die vom Karl Rauch Verlag angepriesene sogenannte „Originalübersetzung“ lesen.
Auch der Reclam Verlag hat sich für eine Neuübersetzung des Klassikers entschieden und damit Ulrich Bossier beauftragt. Bereits die bis auf den Umschlag in Schwarzweiß gehaltenen Illustrationen und die insgesamt schlichte Aufmachung als kleinformatiges Taschenbuch im typischen Zitronengelb ordnen diese Ausgabe als Lektüre für (junge) Erwachsene ein. Ulrich Bossier ist ein sehr akribischer Übersetzer, der Wiederholungsstrukturen wie auch parallele Syntax aus dem Ausgangstext sehr genau übernimmt, ohne der Wörtlichkeit zu verfallen, und so auch den literarischen Qualitäten des französischen Originals gerecht wird. Wir liegen hier weiterhin bei einer Gratwanderung zwischen Kinder- und Erwachsenenbuch. Stellenweise liest es sich hier markiert umgangssprachlich (der Erzähler hat „haufenweise Gelegenheit, haufenweise ernsthafte Leute kennenzulernen“), andererseits hat Bossier eine Vorliebe für Wortkomposita wie „Astronomiekongress“, „Wissenszuwachs“, „Blütenblätterkranz“ oder „Wildvogelschwarm“.
Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm wollte seine Übersetzung für Kinder erstellen, deshalb war es ihm wichtig, „eine klare Sprache zu finden“, und darum ist hier wohl auch die Rede von „Großen Leuten“ statt von „Erwachsenen“. Felicitas von Lovenberg hebt in ihrer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für diese Übersetzung die „ruhige Sachlichkeit“ hervor und bezeichnet sie als „Fassung für Eltern“. Dafür spricht auch die Präsentation des Buchs in der Reihe „Fischer TaschenBibliothek“ im kleinformatigen Hardcoverdesign des deutlich literarisch ausgerichteten Traditionsverlags Fischer. In der Übersetzung von Peter Stamm liest sich der Kleine Prinz tatsächlich als literarisch anspruchsvolles Werk, das einem daher auch philosophisch gehaltvoll erscheint. Die Erzählerstimme scheut keine Fremdheit, wenn sie etwa von der Boa (statt der Riesenschlange) und von Baobabs (statt von Affenbrotbäumen) spricht. Nur ganz selten finden wir hier Formulierungen im Perfekt, Peter Stamm scheut den Konjunktiv auch in den Dialogen nicht. Für ein Buch, das sich an Erwachsene richtet, spricht auch der Umstand, dass in der Widmung direkt das Nazi-Regime angesprochen wird: Explizit wird hier in Form einer erläuternden Übersetzung darauf hingewiesen, dass Léon Werth sich im „von den Nazis besetzten Frankreich“ befinde, während sowohl das Original als auch die anderen Übersetzungen in dieser Andeutung vage bleiben.
Peter Sloterdijk, einer der prägenden Autoren des Suhrkamp Verlags und bekannter deutschsprachiger Intellektueller, übersetzte ebenfalls für den seit 1963 zu Suhrkamp gehörenden Insel Verlag den Kleinen Prinzen neu. Das Buch präsentiert sich im typischen Design der Reihe „Insel-Bücherei“ mit einem gewissen altmodischen Touch durch das an Schulhefte erinnernde Titeletikett. Die eigentliche Überraschung liegt jedoch darin, dass statt die Zeichnungen des Autors zu nutzen, die mit dem Text ja eine Einheit bilden, der österreichische Comiczeichner und Graphic Novel-Autor Nicolas Mahler engagiert wurde, um das Buch in Anlehnung an das Original neu zu illustrieren. Mahler gilt als Meister der zeichnerischen Reduktion, Erkennungsmerkmal seiner Zeichnungen sind langnasige Figuren. Statt figürlich arbeitet Mahler eher abstrakt, so wird die Figur des Königs auf eine Krone, die Figur des Trinkers auf vier volle und eine leere Flasche reduziert. Problematisch wird dieser editorische Eingriff dann, wenn der Glaubwürdigkeitsbezug zwischen Text und Bild verloren geht. So nennt der Erzähler selbst die Zeichnung von den Affenbrotbäumen, die einen Asteroiden sprengen, besonders gelungen, bei Mahler wirkt diese Darstellung jedoch eher kindlich-ungeschickt. So wird die Frage nach Wahrnehmung und Abbildung hier reduziert auf eine Frage des zeichnerischen Talents des Erzählers. Schon diese abstrahierende Darstellung markiert das Buch als eindeutig für Erwachsene bestimmt, da hier wohl kaum eine Identifikationsfigur für Kinder geschaffen wird. Dies geht einher mit der Strategie des Übersetzers, der gleich zu Beginn die Widmung durch eine gelehrte Fußnote ergänzt, um den Bezug zum von deutschen Truppen besetzten Frankreich herzustellen. Die Übersetzung Sloterdijks oszilliert zwischen Umgangssprache („mir dämmerte es plötzlich“) und literarisch hohem Register: Er lässt sogar den kleinen Prinzen sehr gewählt im Konjunktiv sprechen, so dass auch hier eine kindliche Identifikation schwer fallen dürfte, ebenso wenn der kleine Prinz den König mit „Sire“ anspricht oder die Leser gesiezt werden. Zu dieser Strategie passen auch Wortneuschöpfungen wie z. B.: „Ich bin einer von den Ernstzunehmenden“ oder „Erneut spürte ich den Hauch des Nie-wieder-Gutzumachenden“. Im Nachwort finden wir dies dann als stilistische Eigenart des Autors wieder, wenn er vom „Noch-nicht-lieben-Können“ spricht. Einzig Sloterdijk tritt als Übersetzer auch in einem selbst verfassten Nachwort, unter dem Titel „Der letzte Bildungsroman“, in Erscheinung. Hier stellt Sloterdijk einen Bezug zu Nietzsches erzieherischen Visionen her und wendet sich auch ganz explizit gegen die Lektüre als Kinderbuch, indem er es „die Abbreviatur eines Bildungsromans“ nennt. Zu dieser Lesart passt es auch, wenn er als Einziger den Grund für die Reise von Asteroid zu Asteroid, der im Original lautet „pour y chercher une occupation“, übersetzt mit „um sich nach einem Beruf umzusehen“.
Was sich hier als Leseempfehlung präsentiert, zeigt zugleich, dass jeder Übersetzer dem Text immer eine eigene Stimme verleiht. Bekannte Autoren mögen sichtbarer sein, da sie auch gleich auf dem Titel genannt oder im Buch mit ihrem Werdegang vorgestellt werden. Wahrnehmbar ist aber jede Übersetzerin und jeder Übersetzer mit der jeweils eigenen Stimme, basierend auf einer individuellen Interpretation des Textes, und daher mit einer, wenn auch womöglich nur intuitiv verfolgten, Übersetzungsstrategie. Will man sich bei einem Text, der so stark in unserem kollektiven Gedächtnis verankert ist, besonders bemerkbar machen, so ist dies hier durch das Variieren der altbekannten Zitate möglich. Genau das macht Hans Magnus Enzensberger, wenn er schreibt: „Man begreift gar nichts, wenn das Herz nicht dabei ist. Das, worauf es ankommt, ist mit bloßem Auge nicht zu sehen.“
Frohe Weihnachtseinkäufe wünscht
Vera Elisabeth Gerling
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Saint-Exupéry, Antoine de: Der Kleine Prinz, übersetzt von:
Grete und Josef Leitgeb (Deutsch/Französisch), Düsseldorf: Rauch 2015, 9,90 € [= Text der Ausgabe von 1950]
Susan Niessen, Bindlach: Loewe 2015, 5 €
Hans Magnus Enzensberger, Zürich: Arche 2015, 14,99 € [vorab bereits: München: dtv, 2015, 5,95 €]
Marion Herbert, Köln: Anaconda 2015, 4,95 €
Hannelore Eisenhofer, Hamburg: Nikol 2015, 6 €
Ulrich Bossier, Stuttgart: Reclam 2015, 3,80 €
Peter Stamm, Frankfurt am Main: Fischer 2015, 8 €
Peter Sloterdijk, Berlin: Insel 2015, 16 €