Longtemps, je me suis couché avec Marcel Proust – genauer gesagt zehn Jahre. So viel Zeit nahm meine Neuübersetzung des proustschen Romanzyklus‘ Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in Anspruch. Das wirft die Frage auf: Was hat der denn da gemacht die ganze Zeit?
Der Grund für das Schneckentempo liegt einmal in dem Anmerkungsapparat, den ich für erforderlich hielt. Proust setzt einen französischen Bildungshorizont voraus, der heute wohl auch in Frankreich nicht mehr so selbstverständlich ist und einem deutschen Leser im Allgemeinen ziemlich fern liegt. Zudem enthält der Text viele Anspielungen, die von Anfang an überhaupt nur für Zeitgenossen Prousts verständlich waren, wie etwa auf Spitznamen von Künstlern oder auf Theaterstücke, die aus gutem Grund niemals eine Wiederaufnahme erfahren haben. All das will recherchiert sein, wobei natürlich die schon vorliegenden Kommentare in den heutigen französischen Ausgaben und in verschiedenen Übersetzungen, so der deutschen von Rechel-Mertens/Keller und insbesondere der von Beretta-Anguissola kommentierten italienischen Ausgabe eine große Hilfe waren. Doch die Forschung geht weiter, der alte Pegel von 10.000 Titeln zu Proust ist sicherlich längst überschritten, und eine Neuausgabe der Suche muss natürlich auf dem neuesten Stand sein. Darum sind auch nicht nur die einzelnen Bände mit Anmerkungen ausgestattet, sondern die ganze Neuausgabe wird noch mit einem Registerband abgeschlossen, der den Text weiter erschließt und Aspekte erörtert, die den ganzen Roman betreffen und deshalb in den Einzelbänden schlecht aufgehoben gewesen wären, wie zum Beispiel Entstehungs-, Publikations-, Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte.
Die meiste Zeit jenseits der eigentlichen Übersetzungstätigkeit nahm allerdings nicht so sehr das Studium der Sekundärliteratur in Anspruch, sondern vielmehr die sekundäre Lektüre, die der Text einem Bearbeiter abverlangt. Mehr Vergnügen als Arbeit, aber eben zeitraubend, war zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Malerei, zu der einen Proust ja wiederholt anregt. Er erwähnt zwar Turner, Whistler und diverse Impressionisten nur so en passant, aber da man nicht wissen kann, ob nicht mehr dahinter steckt, muss man dem nachgehen und erntet so eine Fülle von Inspirationen, die einem sicherlich ohne diesen konkreten Anlass niemals gekommen wären. Fast hätte ich endlich die Studie über Vermeer geschrieben, die Swann sein Leben lang vor sich her geschoben hat! Mehr Arbeit als Vergnügen, Vergnügen aber auch, war dagegen die Lektüre des Journal der Brüder Goncourt, das ich für den ‚Pastiche Goncourt‘ in der Wiedergefundenen Zeit lesen musste, um ein Gefühl für deren besonderen Stil zu bekommen, den Proust da ja persifliert. Und so richtig in der Dichterwerkstatt habe ich mich gefühlt, als ich mich für die ‚Cris de Paris‘ in der Gefangenen mit alten französischen und deutschen Händlerrufen befassen musste, um Äquivalente finden zu können; da auf der deutschen Seite in der Hinsicht nicht viel los ist, kam es darauf an, die französischen Händlerrufe so zu übertragen, dass sie auch als deutsche Händlerrufe durchgehen können, obwohl die historischen Belege deutlich weniger Witz aufweisen. Im Wesentlichen habe ich dabei deutsche Händlerrufe, bei denen es um denselben Gegenstand ging, im Sinne der französischen Vorlage „fortgedichtet“.
Was mich gleich auf den nächsten Punkt bringt: Die vielen Stellen, an denen es mit dem Festhalten am Originaltext nicht mehr getan ist: Cottards Witzeleien sind keine, wenn man sie Wort für Wort übersetzt, der Kontext lässt einem beim Nacherfinden nicht viel Spielraum, und die Nacherfindung muss ja auch der Charakteristik entsprechen, die im französischen Text eben gerade durch diese Wortspiele der Person verliehen wird. Wenn etwa Cottard einen Witz mit „blague“ = „Witz“ macht, muss man selbst halt auch …: „Sagen Sie mir mal einen Witz mit ‚Witz‘?“ Oder nehmen wir den Rumänien-stämmigen Direktor des Grand Hotel in Balbec, der in Sodom und Gomorrha schon seit dreißig Jahren immer haarscharf am richtigen Wort vorbeisegelt – der muss dann eben auch im Deutschen Fehler machen, die bei einem Zweitsprachler auftreten können und sich auch glaubwürdig über längere Zeit halten können. Nehmen Sie etwa seine hartnäckige Aufnahme einer Bestellung von „sole“ (Seezunge, mit kurzem O) als „saule“ (Weide, mit langem O), was ich dann als „Scholle“ bzw. „Schelle“ wiedergegeben habe. Und was soll man schließlich mit dem Hotelpagen anfangen, der mit der doppelten Verneinung des Französischen seine Schwierigkeiten hat? Hier bot sich zwar schnell der umgekehrte Weg an: im Deutschen hat die doppelte Verneinung ja einen ähnlich schlechten Ruf wie die einfache im Französischen: „J’ai pas pour bien longtemps“ – „Ich bleib nicht lange nich“; das erforderte dann allerdings gewisse Anpassungen des Kommentars des Erzählers zu dieser sprachlichen Unart. Natürlich habe ich bei solchen Gelegenheiten dann auch nachgesehen, wie die anderen deutschen, englischen oder italienischen Übersetzungen damit umgehen und gelegentlich auch wertvolle Anregungen daraus bezogen, aber die Standardsituation bestand doch eher in viel Kopfkratzen.
Viel zusätzlichem Kopfkratzen, sollte ich sagen, denn die eigentliche Übersetzungsarbeit gibt dazu ja auch reichlich Anlass. Meistens wird besonders der Satzbau als die große Herausforderung bei Proust angesehen, aber das war für mich nicht das Problem. Als Linguist mit Schwerpunkt Syntax und Semantik war ich einigermaßen daran gewöhnt, mit komplexeren grammatischen Strukturen zu jonglieren – wenn ich auch in einigen Fällen zu grobem Werkzeug habe greifen müssen: Für den ziemlich verschachtelten, aber tadellosen Satz etwa von ‚Blaubarts Zimmern‘ in Band I habe ich mir erst einmal die syntaktische Struktur aufgezeichnet, um dann daran entlang die Übersetzung entwickeln zu können. Der Satz demonstriert übrigens noch ein weiteres Übersetzungsproblem: Es tritt darin dreimal das Wort „creuser“ (ausgraben, ausschaufeln, ausheben) auf, mit dem Marcels Schlafzimmer unter der Hand als Grabkammern charakterisiert werden; man muss es also alle drei Male gleich übersetzen, auch wenn der Zusammenhang im Deutschen eine Variation der Wörter nahelegen würde. Für den ‚Martinville-Aufsatz‘ im ersten Band, den Proust in Mädchenblüte als „Prosagedicht“ bezeichnet, bin ich ähnlich mit der prosodischen Struktur verfahren; oder mit der phonologischen Struktur der Sonaten-Passage ebenfalls in Band I, in der die Partien, die sich auf das Piano beziehen, durch ein Übergewicht an Plosiven gekennzeichnet sind, während in den Violin-Passagen Frikative überwiegen. Die onomatopoetische Absicht des Autors ist evident, aber für die Übersetzung bleibt nichts anderes übrig, als Konzessionen zu machen: man kann diese kleine Spezialität ignorieren in der Erwartung, dass der Leser es sowieso nicht merken wird, oder man muss sich gelegentlich (in der gleichen Erwartung) ein wenig von der Vorlage entfernen, um geeignete Wörter benutzen zu können.
Besagter Satz lautet im Französischen:
Mais j’avais revu tantôt l’une , tantôt l’autre, des chambres que j’avais habitées dans ma vie, et je finissais par me les rappeler toutes dans les longues rêveries qui suivaient mon réveil; chambres d’hiver où quand on est couché, on se blottit la tête dans un nid qu’on se tresse avec les choses les plus disparates: un coin de l’oreiller, le haut des couvertures , un bout de châle , le bord du lit , et un numéro des Débats roses, qu’ on finit par cimenter ensemble selon la technique des oiseaux en s’y appuyant indéfiniment; où , par un temps glacial le plaisir qu’on goûte est de se sentir séparé du dehors (comme l’hirondelle de mer qui a son nid au fond d’un souterrain dans la chaleur de la terre), et où, le feu étant entretenu toute la nuit dans la cheminée, on dort dans un grand manteau d’air chaud et fumeux, traversé des lueurs des tisons qui se rallument, sorte d’impalpable alcôve, de chaude caverne creusée au sein de la chambre même, zone ardente et mobile en ses contours thermiques, aérée de souffles qui nous rafraîchissent la figure et viennent des angles, des parties voisines de la fenêtre ou éloignées du foyer et qui se sont refroidies; – chambres d’été où l’on aime être uni à la nuit tiède, où le clair de lune appuyé aux volets entr’ouverts, jette jusqu’ au pied du lit son échelle enchantée, où on dort presque en plein air, comme la mésange balancée par la brise à la pointe d’un rayon –; parfois la chambre Louis XVI, si gaie que même le premier soir je n’y avais pas été trop malheureux et où les colonnettes qui soutenaient légèrement le plafond s’écartaient avec tant de grâce pour montrer et réserver la place du lit; parfois au contraire celle, petite et si élevée de plafond, creusée en forme de pyramide dans la hauteur de deux étages et partiellement revêtue d’acajou, où dès la première seconde j’avais été intoxiqué moralement par l’odeur inconnue du vétiver, convaincu de l’hostilité des rideaux violets et de l’insolente indifférence de la pendule qui jacassait tout haut comme si je n’eusse pas été là; – où une étrange et impitoyable glace à pieds quadrangulaires, barrant obliquement un des angles de la pièce, se creusait à vif dans la douce plénitude de mon champ visuel accoutumé un emplacement qui n’y était pas prévu; – où ma pensée, s’efforçant pendant des heures de se disloquer, de s’étirer en hauteur pour prendre exactement la forme de la chambre et arriver à remplir jusqu’en haut son gigantesque entonnoir, avait souffert bien de dures nuits, tandis que j’étais étendu dans mon lit, les yeux levés, l’oreille anxieuse, la narine rétive, le coeur battant: jusqu’à ce que l’habitude eût changé la couleur des rideaux, fait taire la pendule, enseigné la pitié à la glace oblique et cruelle, dissimulé, sinon chassé complètement , l’odeur du vétiver et notablement diminué la hauteur apparente du plafond.
Und im Deutschen klingt der Satz nun:
Aber bald hatte ich das eine, bald das andere der Zimmer wiedergesehen, die ich im Laufe meines Lebens bewohnt hatte, und das führte dazu, dass ich sie mir alle während der langen Gedankenspiele, die meinem Erwachen folgten, vergegenwärtigte; – winterliche Zimmer, in denen man, sobald man sich hingelegt hat, den Kopf in einem Nest birgt, das man sich aus den verschiedensten Dingen zusammengeklaubt hat: einem Zipfel des Kopfkissens, dem Rand der Bettdecke, dem Ende eines Schals, der Bettkante, und einer Ausgabe der Débats roses, die man schließlich nach Art der Vögel zusammenfügt, indem man sich unablässig gegen sie drückt; in denen man in Frostzeiten ein Vergnügen darin findet, sich von der Außenwelt abgeschnitten zu fühlen (wie die Seeschwalbe, die ihr Nest am Boden einer Senke in der Erdwärme anlegt), und in denen man, da das Kaminfeuer die ganze Nacht hindurch brennt, in einer weiten Umhüllung aus warmer und rauchiger Luft schläft, die das Flackern der feuerfangenden Scheite durchzuckt, in einer Art von nicht greifbarem Alkoven, einer warmen Höhle, ausgehoben aus dem Schoße des Zimmers, einer glühenden Zone unsteter Temperaturen, durchweht von Luftzügen, die uns das Antlitz erfrischen und aus den Ecken kommen, aus Stellen in der Nähe der Fenster oder aus solchen, die vom Feuer entfernt sind und schon erkaltet; – sommerliche Zimmer, in denen man mit der lauen Nacht verschmelzen möchte, in denen das Mondlicht, auf den halbgeöffneten Läden ruhend, an das Fußende des Bettes seine Zauberleiter wirft, in denen man so gut wie unter freiem Himmel schläft wie eine Meise, die auf der Spitze eines Halmes von der Brise gewiegt wird; – manchmal auch das Louis- Seize-Zimmer, so heiter, dass ich dort sogar am ersten Abend nicht allzu unglücklich gewesen war, und in dem die kleinen Säulen, die graziös die Decke trugen, mit so viel Anmut auseinanderwichen, um den Platz des Bettes zu bezeichnen und freizugeben; manchmal dagegen auch jenes kleine Zimmer mit zu hoher Decke, in Form einer Pyramide ausgehoben über zwei Stockwerke hinweg und teilweise mit Mahagoni verkleidet, in dem ich vom ersten Augenblick an von dem unbekannten Geruch des Vetiver seelisch vergiftet wurde, überzeugt wurde von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der anmaßenden Gleichgültigkeit der Pendeluhr, die lauthals vor sich hin plapperte als sei ich gar nicht vorhanden; – in dem ein sonderbarer und gnadenloser rechteckiger Standspiegel, schräg in eine der Ecken des Zimmers gelehnt, sich unverfroren aus dem kostbaren Ganzen meines gewohnten Gesichtsfeldes ein nicht vorgesehenes Quartier aushob; – in dem mein Denken, nachdem es sich stundenlang bemüht hatte, sich zu verrenken, sich zu strecken, um die genaue Gestalt dieses Zimmers anzunehmen und schließlich seinen ungeheuren Trichter bis zu ganzer Höhe auszufüllen, eine Reihe zäher Nächte durchlitten hatte, während ich auf meinem Bett ausgestreckt dalag, die Augen emporgewandt, die Ohren verängstigt, die Nase widerwillig, das Herz klopfend: bis dann schließlich die Gewohnheit die Farbe der Vorhänge verändert, die Uhr zum Schweigen gebracht, den schrägen und grausamen Spiegel Mitleid gelehrt, den Geruch des Vetiver wenn auch nicht gänzlich vertrieben, so doch gemildert, und vor allem die offenkundige Höhe der Decke verringert haben würde.
Ach ja, die Wörter – ein weites Feld! Dass Proust ein großes Interesse an Etymologien und der den Wörtern zugrundeliegenden Metaphorik hatte, ist nicht nur bekannt: er sagt es sogar ausdrücklich im Text. Da laufen dann die Wörterbücher heiß, manches habe ich bis ins Indoeuropäische zurückverfolgt, um dann ähnlichen Entwicklungssträngen ins Deutsche nachgehen zu können. Meistens war das freilich für die Katz, aber es beruhigt doch zu wissen, dass man sein Bestes getan hat. Als ganz simples Beispiel die „évocations“ schon gleich zu Beginn von Auf dem Weg zu Swann. Jeder hört das Rufen, lat. „vocare“, in dem Wort – aber kann man „Ausrufungen“ schreiben? Das Wörterbuch Sachs-Villatte schlägt neben den untauglichen „Beschwörungen“ u. a. noch „das Wachrufen von Erinnerungen“ vor – Heureka! Aber auf den zweiten Blick sieht man, dass das in die falsche Richtung geht: Es ist ja nicht Marcel, der die Erinnerungen wachruft, vielmehr halten die Erinnerungen Marcel wach. Und so bin ich dann schließlich doch murrend Hanno Helblings privatem Ratschlag gefolgt und habe „Erinnerungsbilder“ geschrieben – in denen nun freilich nichts ruft.
Aber ich denke, dass der Leser an dieser kleinen Skizze schon erkennen kann, dass mir die ganze Sache einen Riesenspaß gemacht hat – sehr viel mehr, als ich erwartet hatte, als ich mich darangesetzt habe. Der Anlass war eigentlich ziemlich banal: Mir war auf einer Reise durch Vietnam die Lektüre ausgegangen, und so war ich heilfroh, als ich bei einem Trödler auf die alte Pléiade-Ausgabe gestoßen bin. Die Suche nach der verlorenen Zeit war zwar schon seit meinen Tagen bei der Bundeswehr meine ‚Bibel für Agnostiker‘ (ich hoffe, der Leser erkennt den Zusammenhang zwischen Wehrdienst, Umfang und Titel), aber ich hatte bis dahin nur die deutschen und die englischen Übersetzungen gelesen. Nun war also offenbar die Zeit reif, sich auch an den französischen Text zu wagen, und da habe ich dann zu meiner Überraschung eine völlig neue Stimme gehört, einen Proust, den ich so noch gar nicht kannte: nüchtern, präzise, und – jetzt verrate ich ein Geheimnis, das sich zumindest in Deutschland noch nicht genügend herumgesprochen zu haben scheint – humorvoll. Diese freundlich-amüsierte Distanz, aus der heraus Proust die Conditio humana beschreibt und analysiert, ist mir da erst so richtig aufgefallen. Kurzum: als ich wieder zu Hause war, dachte ich: „Musst doch mal probieren, ob du das rüberbringst“. Und so bin ich meist früh morgens mit einem dubiosen Halbsatz oder einem vermissten Wort im Kopf aufgewacht, habe mich an den Computer gesetzt, um die Sache zu überprüfen, und wenn ich dann gegen zwei die Kinder aus der Schule nach Hause kommen sah, bin ich umgestiegen auf Sekundärliteratur und sekundäre Lektüre, bis mich der Drang zur Erforschung der Umgangssprache in meine Eckkneipe gerufen hat. Aus dem ersten Pröbchen Combray wurde so unversehens Auf dem Weg zu Swann, und wenn man erst einmal so tief eingestiegen ist, wie soll man dann noch aussteigen? Sich von Proust wieder loszureißen, erfordert den ganzen Mann.
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Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1987-1989.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Bisher erschienen: Band I: Auf dem Weg zu Swann, Ditzingen: Reclam Bibliothek 2013, 693 Seiten.
Marcel Proust kam am 10. Juli 1871 als erster Sohn des Arztes Adrien Proust und dessen Gattin Jeanne, geb. Weil, in Auteuil bei Paris zur Welt. Er besuchte das renommierte Lycée Condorcet, an dem er viele Sprösslinge bedeutender Familien kennenlernte, was ihm früh einen Zugang zu Künstler- und Adelskreisen eröffnete. Schon als Heranwachsender litt Proust an Asthmaanfällen, die ihn zunehmend in seinem gesellschaftlichen Leben beschränkten, aus dem er sich ab 1906 weitgehend zurückzog. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er vorwiegend schreibend im Bett. Kurz nach der Fertigstellung des Manuskripts zu seinem Hauptwerk À la recherche tu temps perdu verstarb er am 18.11.1922 in seiner Wohnung in Paris.
Nachdem 1912 eine Reihe von Verlegern – unter anderem Gallimard – Prousts Manuskripts des ersten Bandes von À la recherche du temps perdu abgelehnt hatten, ließ er diesen im Folgejahr weitgehend auf eigene Kosten bei Grasset drucken. Der Roman fand ein überwältigend positives Echo, und Proust wechselte 1916 zu Gallimard, bei dem die übrigen Bände erschienen, insbesondere 1918 der zweite Band, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, für den er 1919 den hoch angesehenen Prix Goncourt erhielt. 1920, 1921 und 1922 erschienen dann die Bände Le Côté de Guermantes und Sodome et Gomorrhe.
Nach Prousts Tod nahmen sich André Gide und Prousts jüngerer Bruder Robert der nachgelassenen Manuskripte an und bereiteten sie zur Publikation vor; die drei letzten Bände erschienen schließlich in den Jahren 1923-1927. Bei der Drucklegung wurden allerdings eine Reihe Fehler begangen und auch Auslassungen vorgenommen, weshalb Gallimard 1954 eine dreibändige kritische Neuedition unter der Herausgeberschaft von Pierre Clarac und André Ferré unternahm. In Folge des so neugeweckten Interesses und auch nach dem Tod von Prousts Nichte Suzette Mante-Proust tauchte jedoch eine solche Menge neuen Materials auf, dass abermals eine Überarbeitung vor allem der letzten Bände erforderlich wurde. Diese übernahm Jean-Yves Tadié für die vierbändige, umfangreich kommentierte Ausgabe bei Gallimard 1987–89.
Erste Textauszüge von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in deutscher Übersetzung finden sich in Ernst Robert Curtius’ Französischer Geist im neuen Europa von 1925. Die erste Gesamtübersetzung wurde ab 1926 beim Verlag Die Schmiede von Rudolf Schottlaender in Angriff genommen, dessen erster Band, Der Weg zu Swann (in zwei Teilbänden), jedoch von Curtius so gründlich verrissen wurde, dass der Verlag die Fortführung des Projekts an Walter Benjamin und Franz Hessel übertrug. Deren Band II, Im Schatten der jungen Mädchen, erschien 1927. Nachdem der Verlag Die Schmiede 1929 den Betrieb einstellen musste, übernahm der Piper-Verlag München das Proust-Projekt; hier erschien 1930 in der Benjamin/Hessel-Übersetzung (in zwei Teilbänden) der dritte Band, Die Herzogin von Guermantes. Der heraufziehende Faschismus setzte dem Projekt ein Ende.
1953 beauftragte der Suhrkamp Verlag die Literaturwissenschaftlerin Eva Rechel-Mertens mit einer Neuübersetzung, die 1957 abgeschlossen wurde. Die Neufassung des französischen Textes durch Tadié in den 1980er Jahren machte eine Überarbeitung dieser deutschen Übersetzung erforderlich, die Luzius Keller und Sybilla Laemmel 1994–2004 unternahmen. Michael Kleeberg übersetzte 2002 die erste Hälfte (Combray) des ersten Bandes und 2004 die zweite Hälfte (Eine Liebe Swanns) für den Verlag Liebeskind. Bernd-Jürgen Fischers Neuübersetzung der Suche, deren erster Band Auf dem Weg zu Swann im September 2013 bei Reclam erschien, ist die erste Übersetzung aus einer Hand auf Grundlage der endgültigen Textfassung.
Bernd-Jürgen Fischer war nach dem Studium von Mathematik und Linguistik elf Jahre am Germanistischen Fachbereich der Freien Universität Berlin in Forschung und Lehre beschäftigt. Als freier Autor befasste er sich anschließend eingehend mit Thomas Mann und veröffentlichte ein Handbuch zu dessen Josephsromanen. 2002 hat er das zweisprachige Proust-Lesebuch Trois places, trois femmes, trois metiers herausgegeben. In den letzten zehn Jahren arbeitete Bernd-Jürgen Fischer an seiner Neuübersetzung von Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.