Buchcover „Eine Geschichte der Unaufrichtigkeiten“
Andrea Schmittmann sprach mit Dieter E. Zimmer
über Unzuverlässigkeit als Übersetzungsproblem in Vladimir Nabokovs Lolita

Ein Tabuthema literarisch zu verarbeiten, und es dabei dennoch zu problematisieren, ist eine große Herausforderung. Vladimir Nabokov hat sie mit Lolita (1955) auf sich genommen und das Thema Kindesmissbrauch aus der Sicht eines Pädophilen geschildert. Erschreckend oft wird sein Roman auch heute noch, nach jahrzehntelanger Forschung und Diskussion, als „verbotene Liebesgeschichte“ dargestellt, und der Name Lolita ist zum Synonym der kindlichen Verführerin geworden.

Die Ursache dieser Fehlschlüsse wird bei genauerer Betrachtung der Erzählsituation deutlich: Humbert Humbert ist, wie so mancher Ich-Erzähler, nicht unvoreingenommen. Seine Wahrnehmung, Interpretation und letztlich seine Darstellung der Ereignisse fallen immer wieder zu seinen Gunsten aus. Dieses alltägliche und im Grunde verzeihliche psychologische Phänomen wird hier jedoch zur moralischen Falle für den Leser, der kaum umhin kann, Mitgefühl für Humbert zu entwickeln und, geblendet von seiner kunstvollen Rhetorik, die Zeichen seiner Täuschung übersieht.

Humbert Humberts und damit auch Nabokovs Täuschung aufzudecken, erfordert eine sehr aufmerksame Lektüre, ein „zwischen den Zeilen lesen“. Dies ist umso wichtiger für denjenigen, der Humberts Worte in eine andere Sprache bringt: den Übersetzer.

Andrea Schmittmann: Herr Zimmer, als Herausgeber der deutschen Nabokov-Gesamtausgabe veröffentlichten Sie 1989 Ihre Überarbeitung der ersten Lolita-Übersetzung von 1959, die als Übertragung von Helen Hessel bzw.  als „Gemeinschaftsprojekt“ mit Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Gregor von Rezzori und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt gewissermaßen unantastbar war.

Dieter E. Zimmer: Wie ich in dem betreffenden Kapitel meines Buchs Wirbelsturm Lolita angedeutet habe, war ich bei der Bearbeitung der Erstübersetzung von 1959 stark beschränkt. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte war diese im Rowohlt Verlag ein sakrosankter Text, in den ich eigentlich überhaupt nicht eingreifen durfte. Damals war auch noch nicht bekannt, dass Véra und Vladimir Nabokov mit ihm keineswegs zufrieden waren; vielmehr schlossen alle im Verlag aus der langjährigen Freundschaft zwischen H.M. Ledig-Rowohlt und den Nabokovs, dass der Autor mit der deutschen Übersetzung vollauf einverstanden gewesen sein müsste. Und wenn ich trotzdem vorsichtig eingriff, tat ich es halb klandestin – den damaligen Verlagsleiter, der die Gesamtausgabe initiiert hatte, habe ich schon informiert, und er hat weder zugestimmt noch es mir verboten. Jedenfalls durfte ich das nicht groß verkünden. Am Schluss der Ausgabe von 1989 deutete ich auf fünf Seiten diplomatisch und apologetisch an, dass und warum eine gewisse Bearbeitung nötig gewesen war, und gab einige behutsame Beispiele für das, was Nabokov unzart „howlers“, grobe Schnitzer, genannt hätte. Bei der Neuauflage ein paar Jahre später forderte mich der zuständige Lektor auf, diese Seiten zu entfernen, die er für das Eingeständnis eines Sakrilegs hielt. Erst fast zwanzig Jahre später, in Wirbelsturm Lolita, habe ich mich dann noch einmal zu dem Thema geäußert. Die Geschichte der deutschen Lolita-Übersetzung ist leider auch eine Geschichte der Unaufrichtigkeiten.

Wie auch die Geschichte Humberts – worin liegt die besondere Verantwortung des Übersetzers bei einem unzuverlässigen Erzähler?

Die „erzählerische Unaufrichtigkeit“ des Romans ist keine spezielle Frage – oder Aufforderung – an den Übersetzer. Er weiß darüber nicht mehr als jeder andere Leser. Nach meiner Auffassung bestünde seine Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass der Erzähler in der Übersetzung nicht mehr und nicht weniger aufrichtig wirkt als im Original. Die Schwierigkeit besteht für ihn wie für jeden anderen Leser darin, dass es keinerlei objektives Maß für Humberts Aufrichtigkeit gibt. Wir haben nur seine Worte – und unsere eigene Lebenserfahrung –, um abschätzen zu können, wie glaubhaft sein Bericht insgesamt und in seinen Einzelheiten klingt. Dazu kommt, dass das, was in dem uns bekannten „wirklichen Leben“ unglaubhaft wirken mag, in der fiktiven Realität des Romans, in Nabokovs erfundener Welt, durchaus glaubhaft sein könnte. In den erfundenen USA des Jahres 1947 hätte ein Mann, der ein Jahr lang mit einem unpassend jungen Mädchen von Motel zu Motel reist, vielleicht „wirklich“ keinen Verdacht erregt.

Zur Interpretation haben wir nur seine Worte – aber auch jene, die er vermeidet. Wie Sie in Wirbelsturm Lolita anmerken, fällt das Wort „Pädophilie“ im gesamten Roman kein einziges Mal. Zeigt sich auch hierin Humberts Unaufrichtigkeit?

Ich meine heute, Humbert zu Unrecht vorgeworfen zu haben, dass er das Wort „Pädophilie“ nicht verwendet. Er sucht ja sogar nach treffenden Fachwörtern und prägt selber zwei, „Päderose“ und „Nympholepsie“, die für sich gesehen nichts Beschönigendes haben. Sie können sich das wahrscheinlich gar nicht vorstellen, aber 1946 bis circa 1954, zur Zeit der Handlung, gab es das Wort „Pädophilie“ praktisch nicht. Das heißt, in sexualwissenschaftlichen Nachschlagewerken war es sicherlich zu finden, aber im Alltagsgespräch wurde es nicht verwendet, und in Fachtexten kam es praktisch nur als „sexuelle Zuneigung von erwachsenen Männern zu Knaben“ vor, sodass Humbert es in seinem Fall für unzutreffend gehalten hätte. Welche Karriere das Wort ein halbes Jahrhundert später machen sollte, konnte er wirklich nicht ahnen.

Obwohl man als Übersetzer zunächst „nur“ Leser ist, kommt man doch dennoch an den Punkt, an dem man sich ein sehr genaues Bild machen muss von dem, dessen Rede man übersetzt. Genau das bleibt uns aber verwehrt.

Natürlich lernt man als Übersetzer ein Buch recht genau kennen, und man ist sich durchaus bewusst, dass Humbert hier und da oder von Anfang bis Ende lügen könnte. Dass er Lolita verklärt. Dass er Menschen, die ihm im Weg sind, systematisch feindselig verzeichnet, vor allem Charlotte Haze. Dass seine Reise durch die USA eigentlich gar nicht stattgefunden haben kann. Oder, nach der Zeitlücken-Theorie, die bis heute ihre Anhänger zu haben scheint, dass er nach Lolitas Verschwinden irgendwo sitzt, nur nicht im Gefängnis – das sowieso unwahrscheinlich genug ist – und sich ausdenkt, wie alles hätte weitergehen können. Oder dass seine gesamte Lolita-Geschichte von A bis Z erfunden ist – was sie ja tatsächlich auch ist, nur dass auch er selbst erfunden ist. Der ganze Roman, das macht ihn zu der Herausforderung, die er bis heute geblieben ist, wirkt wie ein Palimpsest, durch dessen erzählte Oberfläche hindurch eine ganz andere Wirklichkeit schimmert, bloß dass der Leser diese nie offen zu Gesicht bekommt und sie darum ständig erraten muss.

Es wird oft diskutiert, inwieweit der Übersetzer auch eine moralische Verantwortung dem Leser gegenüber trägt. Denn diesem den Blick auf die „andere Wirklichkeit“ zu verstellen – wissentlich oder unwissentlich – hieße im schlimmsten Fall, ihm die Entscheidung über Humberts Aufrichtigkeit abzunehmen.

Um Ihnen ein Beispiel für das übersetzerische Problem der Unaufrichtigkeit zu geben: Humbert schreibt, er sei mehrmals in einem „sanatorium“ gewesen. Laut Wörterbuch ist das eigentlich eine Heilstätte für chronisch Kranke, besonders Lungenkranke. In den USA war „sanatorium“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber gleichzeitig ein geläufiger Euphemismus für „psychiatrische Klinik“ oder „Irrenhaus“, wie man damals gesagt hätte. Das deutsche „Sanatorium“ hat diese Zweideutigkeit nicht. Der Übersetzer muss sich also entscheiden. Nimmt er „Sanatorium“, verharmlost er möglicherweise Humberts Zustand. Nimmt er „Irrenhaus“ oder dergleichen, diagnostiziert er rundheraus eine Psychose. In der Übersetzung von Hessel/Carlsson heißt es „Sanatorium“. In meiner ersten Bearbeitung von 1989 steht ebenfalls noch „Sanatorium“; erst 1995 habe ich daraus dann eine vieldeutige „Klinik“ gemacht.
Wenn der Übersetzer solche Mehrdeutigkeiten nicht mehrdeutig wiedergäbe, wenn er Partei ergriffe und Humberts mutmaßliche Unaufrichtigkeiten nach eigenem Gutdünken sprachlich krasser machte oder abmilderte, hätte er meiner Ansicht nach seine Aufgabe verfehlt.

Vladimir Nabokov: Lolita. London: Penguin 2012, 480 Seiten

Vladimir Nabokov: Gesammelte Werke, Band 8: Lolita. Aus dem Amerikanischen von Helen Hessel unter Mitarbeit von Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt und Gregor von Rezzori, bearbeitet von Dieter E. Zimmer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1998, 702 Seiten

Vladimir Vladimirowitsch Nabokov wurde 1899 in St. Petersburg geboren. Infolge der Oktoberrevolution emigrierte die Familie nach England, wo Nabokov in Cambridge russische und französische Literatur studierte. Die nächsten achtzehn Jahre verbrachte er in Berlin und Paris, wo er Gedichte, Dramen und Erzählungen auf Russisch sowie Übersetzungen veröffentlichte. 1940 floh er mit seiner Frau Véra und seinem Sohn Dmitri in die USA, wo er unter anderem an der Cornell University lehrte und schließlich seine englischen Werke verfasste, darunter seinen bis heute umstrittenen Roman Lolita, mit dem er weltweit bekannt wurde. Nach langer Verlagssuche erschien Lolita zunächst bei einem französischen Verlag und blieb lange von der Diskussion begleitet, ob er ein pornografischer oder ein hoch moralischer Roman sei, der den Leser durch geschickte Rhetorik und apologetische Erzählstrategien auf die Seite des Pädophilen Humbert Humbert ziehe. Nabokov selbst begegnete diesem oft diskutierten Vorwurf der „moralischen Falle“ für den Leser (in einem nachträglich verfassten Nachwort) mit der Feststellung, Lolita habe keine Moral „im Schlepptau“, sondern sei ein durch und durch moralisches Buch: ein Buch, dem die Frage nach Moral immanent sei.
1961 siedelte Nabokov mit seiner Frau in die Schweiz über, wo er bis zu seinem Tod 1977 zurückgezogen im Palace Hotel in Montreux lebte.

Dr. h. c. Dieter Eduard Zimmer wurde 1934 in Berlin geboren und studierte Germanistik und Anglistik in Berlin, Genf und den USA. Von 1959 bis 1999 war er Redakteur der Wochenzeitung Die Zeit, zunächst für den Literaturteil, später als Wissenschaftsjournalist für die Bereiche Psychologie, Biologie, Anthropologie, Medizin und Linguistik. Zimmer hat unter anderem Werke von James Joyce, Nathanael West und Jorge Luis Borges ins Deutsche übertragen. Neben zahlreichen Auszeichnungen für sein journalistisches Werk erhielt er auch den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und den Übersetzerpreis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung. Seit 2000 ist er als freier Schriftsteller, Literaturkritiker, Übersetzer und Publizist in Berlin tätig.

Besondere Anerkennung wurde Dieter E. Zimmer als Herausgeber und teilweise auch Übersetzer der deutschen Werkausgabe von Vladimir Nabokovs Schriften zuteil, die im Rowohlt Verlag mit nunmehr 22 von 24 Bänden kurz vor ihrer Vollendung steht und damit die weltweit einzige ihrer Art ist. Den Roman Lolita hat er dafür mehrmals bearbeitet: 1989 erschien Zimmers erste Überarbeitung der deutschen Übersetzung, die er mit einem Nachwort und Anmerkungen versah. 1995 wurde diese für eine Lizenzausgabe des Münchner Winkler Verlags aktualisiert. Im Folgejahr erschien im Rahmen der Rowohlt-Gesamtausgabe eine systematische Neubearbeitung von Lolita. 2008 nahm Zimmer eine umfangreiche Erweiterung der Anmerkungen samt Anhang sowie eine leichte Bearbeitung der Übersetzung vor, dabei wurde das „Nymphchen“ Lolita zur „Nymphette“.
Genaueres zur Entstehungsgeschichte sowie eine umfangreiche Sammlung von Informationen zu Nabokov, seinem Werk und insbesondere Lolita sind auf Dieter E. Zimmers Website zu finden.

Andrea Schmittmann, geb. 1987, studierte Literaturübersetzen mit den Sprachen Englisch und Spanisch an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zurzeit betreut sie gemeinsam mit Vera E. Gerling die Veröffentlichung des vierten Bandes der Reihe Düsseldorf übersetzt und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin und Lektorin.