Als die Bolschewisten im Jahr 1919 die letzten versprengten Einheiten der Weißen Armee auf die entlegene Krim vertrieben, übernahmen sie damit de facto die politische Macht im vormals zaristischen Russland. Wie die meisten liberalen Parteigenossen musste auch Wladimir Dmitrijewitsch Nabokow in der Folge seine eigene Familie davon überzeugen, für immer von ihrer geliebten russischen Heimat Abschied zu nehmen und im fernen europäischen Ausland Zuflucht zu suchen. Sein Sohn Vladimir, der sich bereits in jungen Jahren mit zahlreichen lyrischen Gedichtbänden einen Namen als ernstzunehmender Schriftsteller gemacht hatte, bemühte sich im deutschen und später auch französischen Exil, seine persönlichen Erinnerungen an die scheinbar verlorene russische Kultur und Tradition in literarischen Erzählungen am Leben zu erhalten, obwohl oder gerade weil er sich beharrlich weigerte, noch einmal sowjetischen Boden zu betreten.
Gut zwanzig Jahre danach, als die Nationalsozialisten die politische Macht im Deutschen Reich an sich rissen und kurz darauf auch andere europäische Länder unterwarfen, sah er sich, wie einst sein Vater, dazu gezwungen, mit seiner jüdischen Ehefrau und seinem neugeborenen Sohn dem europäischen Kontinent den Rücken zu kehren. Kaum hatte er jedoch seinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt, konnte er schließlich nicht umhin, nun auch auf seine ungebundene, reiche und unendlich gefügige russische Sprache zu verzichten, um sie, wie er es später formulierte, „gegen eine Art zweitklassiges Englisch einzutauschen“[1]. Da er allerdings schon von Kindesbeinen an gelernt hatte, Englisch zu sprechen und zu schreiben, fiel es ihm nicht sonderlich schwer, bald als amerikanischer Schriftsteller Anerkennung zu finden und im Laufe der Zeit die ursprünglich in russischer Sprache verfassten Prosawerke seiner frühen künstlerischen Schaffensphase in erfolgreicher Zusammenarbeit mit seinem gelehrigen Sohn ins Englische zu übersetzen. Der Großteil seines umfangreichen lyrischen Werks jedoch, vor allem aus den frühen Jahren seines künstlerischen Schaffens, blieb der englischen Leserschaft auch Jahrzehnte nach seinem Ableben noch weitgehend verschlossen. Erst am 2. Juli 2012, fast auf den Tag genau 35 Jahre nach dem Tod des einflussreichen russisch-amerikanischen Schriftstellers, erschien nun erstmals eine bibliophile Ausgabe seiner gesammelten Gedichte in englischer Sprache.
Kurz vor der literarischen Veröffentlichung waren daher die Erwartungen, vor allem unter den langjährigen Verehrern des dichterischen Genies, den sogenannten „Nabokovianern“, verständlicherweise recht groß. Umso überraschender mag es da erscheinen, dass für die verantwortungsvolle Aufgabe des federführenden Herausgebers Thomas Karshan erkoren wurde, welcher bislang kaum als bedeutender Kritiker von Nabokovs literarischen Werken in Erscheinung getreten ist und zurzeit fernab von den wissenschaftlichen Zentren der Nabokov-Forschung einen Lehrstuhl an der angesehenen britischen Universität von East Anglia innehat.
Um offenbar den hohen Ansprüchen der Leser gerecht zu werden und vor allem den großen Bedenken der Kritiker entgegenzutreten, beruft sich Karshan in seiner schlichten Einleitung nicht ohne einen gewissen Stolz darauf, mit dieser bislang einzigartigen Gedichtsammlung die wichtigsten lyrischen Werke des modernen Dichters, von den leichtfüßigen russischen Verszeilen der frühen Schaffensphase bis zu den sprachgewaltigen englischen Meisterwerken der späteren Lebensjahre, zu vereinen und dabei zum ersten Mal Nabokovs ältestes überliefertes Gedicht „Mузыка“ (Muzyka) aus dem Jahr 1914 zu veröffentlichen. Im Unterschied zu unzähligen anderen Anthologien, die in den letzten Jahrzehnten auf dem wachsenden russischen Markt erschienen sind, wie zum Beispiel Maria Malikovas umfangreiche Gedichtsammlung Cтихотворения (Stikhotvoreniya) aus dem Jahr 2002, sind jedoch zahlreiche lyrische Werke schlichtweg ausgelassen und somit das umfangreiche literarische Œuvre des emsigen Schriftstellers kaum ausgeschöpft worden. Karshan begründet seine überaus dürftige Auswahl damit, dass bislang nicht alle genannten lyrischen Werke eindeutig Nabokov hätten zugeordnet werden können. Dabei muss er selbst zugeben, im Gegensatz zu seinen erfahrenen und anerkannten Vorgängern, nicht zu allen historischen Quellen den nötigen Zugang erhalten zu haben.
Immerhin hatte er für die schwierige Übersetzung der frühen russischen Gedichte Dmitri Nabokov, den einzigen Sohn des Autors, gewinnen können, der im Frühjahr letzten Jahres überraschend verstarb und die umstrittene Veröffentlichung des englischen Buches nicht mehr miterlebte. Anders als Poems and Problems, eine abwechslungsreiche Sammlung englischer Gedichte und Schachkompositionen, die Vladimir Nabokov persönlich zusammengestellt und noch zu seinen Lebzeiten herausgebracht hatte, verzichtete Karshan anscheinend bewusst darauf, den einzelnen englischen Übersetzungen der lyrischen Werke ihre jeweilige russische Urfassung gegenüberzustellen, um vermutlich den durchschnittlichen Leser nicht zu überfordern oder gar zu verschrecken. Auf diese Weise läuft er allerdings nicht nur blindlings Gefahr, die einzigartigen sprachlichen Kenntnisse und literarischen Interessen von Nabokovs treuen Lesern zu unterschätzen, sondern erweckt auch unfreiwillig den Anschein, etwaige sprachliche Mängel oder inhaltliche Fehler der neuen Übersetzung verbergen zu wollen.
Zwar bringen es die meisten englischen Übersetzungen in der Tat nicht zustande, den eigenwilligen rhythmischen Aufbau der russischen Verse wiederzugeben, dafür fällt es ihnen aber nicht schwer, den entsprechenden sprachlichen Wortlaut und damit auch den allgemeinen bildlichen Sinngehalt der einzelnen lyrischen Zeilen zu vermitteln. In dieser Hinsicht erfüllte Dmitri Nabokov gewohnheitsgemäß die einzig wesentliche Bedingung, die sein Vater zeit seines Lebens an eine angemessene sprachliche Übertragung knüpfte, nämlich „die unbedingte Sinntreue der Übersetzung“[2].
Jahrzehntelang war Vladimir Nabokov nämlich davon überzeugt, den ästhetischen Maßstäben eines literarischen Werkes als Übersetzer vollends gerecht zu werden, wenn er sich lediglich damit zufrieden gäbe, den symbolischen Sinngehalt des sprachlichen Textes zu übertragen. Erst als er sich zu dem kühnen Unternehmen hatte hinreißen lassen, Евгений Онегин (Yevgeniy Onegin), das romantische Versepos des bedeutendsten russischen Dichters Alexander Puschkin, ins Englische zu übersetzen, musste er zwangsläufig zu der ernüchternden Erkenntnis kommen, dass er den unterschwelligen Sinn der einzelnen sprachlichen Ausdrücke und damit auch die gesamte tiefgründige Aussage des literarischen Werkes nicht würde vermitteln können, ohne dabei bisweilen den grundlegenden eigenwilligen Aufbau der lyrischen Verse zu vernachlässigen. Zwar musste er sich selbst eingestehen, dass seine „mühsame wörtliche Wiedergabe eines der Meisterwerke russischer Dichtung aufgrund rigoroser Wortgetreuheit [sic!] nicht unbedingt ein gutes englisches Gedicht abgibt“, er konnte aber auch guten Gewissens behaupten, „dass es eine wirkliche Übersetzung ist, wenn auch steif und ungereimt, und daß das gute Gedicht des Nachdichters nichts weiter ist als ein buntes Gemisch aus Irrtum und Improvisation, mit denen das bessere Gedicht, dem es in der Anthologie gegenübersteht, verhunzt wird.“[3]
Um dem wissbegierigen englischen Leser die einzigartige lyrische Gestalt der poetischen Versdichtung dennoch nahezubringen, fügte er seiner eigenen literarischen Übersetzung ausführliche kritische Anmerkungen und Kommentare bei. Dementsprechend wünschte er sich „Übersetzungen mit reichlich Fußnoten, Fußnoten, die auf der einen oder anderen Seite wie Wolkenkratzer in die Höhe ragen, sodass sie nur den Glanz einer einzigen Textzeile zwischen dem Kommentar und der Ewigkeit lassen.“[4] In Collected Poems sind allerdings die Erläuterungen zu den englischen Übersetzungen seiner lyrischen Texte in den Anhang der Gedichtsammlung verbannt worden und entgegen den unmissverständlichen Anweisungen des Verfassers so spärlich ausgefallen, dass sie kaum mehr als allgemeine bibliographische Angaben enthalten und über die ästhetische Gestaltung der einzelnen poetischen Werke und die Entstehung ihrer jeweiligen literarischen Übersetzung kaum Auskunft zu geben vermögen.
Die ersten in russischer Sprache geschriebenen literarischen Werke veröffentlichte Vladimir Nabokov noch unter seinem rätselhaften Pseudonym Sirin. Wie der gleichnamige Vogel des russischen Volksglaubens erschuf auch er zauberhafte lyrische Texte, welche nun, wie es scheint, nach und nach ihre Sprache wiederfinden. Ungeachtet einiger unübersehbarer editorischer Fehlleistungen bleibt zu hoffen, dass sich durch die erste englische Übersetzung seiner lyrischen Werke „the whisper of that long-lost song“[5] – das bloße Flüstern seiner längst vergessenen Lieder, wie Nabokov es in seinem Gedicht „The Russian Song“ ausdrückte – schon bald zu einem unüberhörbaren, wohlklingenden Gesang entfaltet.
Vladimir Nabokov: Collected Poems. Aus dem Russischen neuübersetzt ins Englische von Dmitri Nabokov. Herausgegeben und mit einer neuen Einleitung versehen von Thomas Karshan. London: Penguin Classics 2012.
Vladimir Nabokov, geb. 1899 in St. Petersburg, entstammte einer einflussreichen und wohlhabenden Aristokratenfamilie. Nach der Oktoberrevolution floh er mit seiner Familie zunächst nach Cambridge, wo er russische und französische Literatur studierte, und später nach Berlin. 1937 flüchtete er nach Frankreich und 1940 in die USA, wo er von 1948 bis 1959 an der Cornell University lehrte. Neben seiner Leidenschaft für die Schmetterlingsforschung und seiner Tätigkeit als Literaturprofessor machte er sich durch seine zahlreichen literarischen Werke in russischer und englischer Sprache einen großen Namen. Von 1961 bis zu seinem Tod am 2. Juli 1977 lebte er an der Seite seiner Frau zurückgezogen in einer Suite des Palace Hotel im schweizerischen Montreux.
Dmitri Nabokov, einziger Sohn von Vladimir Nabokov, geb. 1934 in Berlin, versuchte sich unter anderem als Opernsänger und Rennfahrer mit teils wechselndem Erfolg. Zeit seines Lebens übersetzte er die anspruchsvollen Werke des berühmten Schriftstellers vom Russischen ins Englische. Bis zu seinem Tod am 22. Februar 2012 verwaltete er treuhänderisch das literarische Erbe seines gestrengen Vaters.
Kai Rickert, geb. 1978 in Beckum (Westf.), studierte Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und schreibt zurzeit an seiner Dissertation zum Thema Der Mythos der Liebe und seine Parodie in den Romanen Vladimir Nabokovs.
[1] Brian Boyd: Vladimir Nabokov – Die amerikanischen Jahre – 1940-1977. Deutsch von Hans Wolf und Ursula Locke-Groß. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag 2005. S. 68.
[2] Vladimir Nabokov: Eigensinnige Ansichten. Aus dem Englischen, Russischen, Französischen und Italienischen von Dieter E. Zimmer, Sabine Hartmann, Christel Gersch, Kurt Neff, Gabriele Forberg-Schneider, Katrin Finkemeier und Norbert Randow. In: Vladimir Nabokov,:Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter E. Zimmer. Band XXI. 1. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2004. S. 91-92.
[3] Vladimir Nabokov: Eigensinnige Ansichten. S. 434.
[4] Vladimir Nabokov: Eigensinnige Ansichten. S. 479.
[5] Vladimir Nabokov: Collected Poems. Aus dem Russischen neuübersetzt ins Englische von Dmitri Nabokov. Herausgegeben und mit einer neuen Einleitung versehen von Thomas Karshan. London: Penguin Classics 2012. S. 163.