Buchcover Vielstimmige Textsplitter aus Zapotlán
Vera Elisabeth Gerling sprach mit Georg Oswald
über seine Übersetzung von Der Jahrmarkt von Juan José Arreola

Georg Oswald hat in eigener Initiative erstmals den Roman Der Jahrmarkt von Juan José Arreola (1918-2001) ins Deutsche übersetzt. Arreola gilt ebenso wie Juan Rulfo als Klassiker der zeitgenössischen mexikanischen Erzählung, seine Texte sind meist absurde und ironische Mikroerzählungen, die mit dem weit verbreiteten, exotisierenden Bild von einer magisch-realistischen Literatur Lateinamerikas nicht zu vereinbaren sind. Dies mag, neben der im deutschsprachigen Verlagswesen etablierten Scheu vor Kurzprosa, der Grund für die späte und spärliche Rezeption seiner Werke sein. Sein überschaubares Œeuvre umfasst z.B. die Titel: Varia invención (1949), Confabulario (1952), Bestiario (1959), Confabulario total (1962, in der Übersetzung von Kajo Niggestich 1980 bei Suhrkamp erschienen), La Feria (1963) oder auch Mujeres, animales y fantasías mecánicas (1972). Auf Deutsch liegen somit nun Confabularium und Der Jahrmarkt vor.

Der Jahrmarkt ist eine vielstimmige Textsammlung, deren Gattungszuordnung schwierig ist. In auf den ersten Blick unzusammenhängender Form folgen Fragmente aufeinander, die entweder einige Seiten oder auch nur zwei Zeilen umfassen und die Stimmen unterschiedlichster Figuren wiedergeben. So vermittelt das Werk auf komplexe Art einen differenzierten Einblick in das Alltagsleben, die Geschichte sowie die gesellschaftspolitische Situation der mexikanischen Region Jalisco.


ReLü: Georg Oswald, Sie haben während Ihrer Zeit in Mexiko begonnen, Werke mexikanischer Autoren ins Deutsche zu übersetzen. Wie ist Ihre Motivation für dieses Engagement entstanden?

Georg Oswald: Ich habe während der Jahre 1995 bis 1998 an der Universität Guadalajara unterrichtet. An dem Forschungsinstitut, dem ich zugeteilt war, gab es auch einen regen künstlerischen Austausch: neben einer Galerie und regelmäßigen Lesungen gab es in lockerer Folge auch ein Übersetzerseminar. Dabei wurden Texte präsentiert, deren spanische Übersetzung von den Teilnehmenden kommentiert wurde. Im Sog dieses dynamischen Prozesses entstanden in Zusammenarbeit mit meinen Kollegen und Freunden erste kurze übersetzte Texte, die ich in Literaturzeitschriften veröffentlichen konnte. Das erste Buchprojekt war ein Theaterstück des österreichischen Dramatikers Wolfgang Bauer, Katharina Doppelkopf, das ich zusammen mit Marco Aurelio Larios übersetzt habe und in einem sehr umtriebigen unabhängigen Verlag (Ediciones Arlequin) veröffentlichen konnte. Der Text war auch die Grundlage für die mexikanische Erstaufführung dieses surrealistischen Stücks, das zwischen Mexiko und Österreich pendelt.

Daraufhin hatte ich die Idee zum Ausgleich: wenn ich schon einen österreichischen Dramatiker ins Spanische brachte, dann auch einen mexikanischen Text ins Deutsche. Der Roman Guerra en el Paraíso von Carlos Montemayor schien mir deshalb so wichtig, weil er in der Lage ist, ein romantisiertes Mexikobild, das in Europa vorherrscht, zurechtzurücken. Der Roman erzählt vom Aufstand der Bauernguerilla von Lucio Cabañas im Bundesstaat Guerrero in den 70er Jahren und von der brutalen Niederschlagung durch das mexikanische Militär. Dieser dokumentarische Roman passt überhaupt nicht zu den singenden mexikanischen Revolutionshüten, die von der Film- und Tourismusindustrie immer wieder zitiert wurden, bis die Mexikaner diese Vorstellungen selbst verinnerlichten. Mit magischem Realismus hatte diese Art von Literatur nichts zu tun. Und die Störung vorgeformter Erwartungshaltungen, das lag prinzipiell ganz in meinem Sinn.

Die Übersetzung von Der Jahrmarkt haben Sie zunächst auf eigenes Risiko angefertigt und konnten diese dann beim Wiener Verlag Septime unterbringen. Wie kam es dazu?

Bei Juan José Arreola verlief es etwas anders als bei Carlos Montemayor. Ich hatte das Glück, den Autor sozusagen im letzten Abdruck seines gesundheitlich schon angeschlagenen Lebens persönlich kennen zu lernen. Über Arreola existiert ja ein Vielfaches mehr an Memoirenliteratur als von ihm selbst verfasste Texte. Und welch brillanter Rhetoriker er in seiner besten Zeit war, davon konnte ich bei einem Besuch in Guadalajara durchaus noch etwas mitbekommen, bis er kurze Zeit darauf zum Pflegefall wurde und schließlich 2001 verstarb.

Die Übersetzung von Der Jahrmarkt war ein Projekt, an dem ich über acht Jahre arbeitete. Nicht dass ich acht Jahre ständig an der Übersetzung saß, eine Grundversion hatte ich innerhalb von mehreren Monaten. Schwierig erwies sich für mich die Suche nach einem Verlag. Übersetzer, die allein von ihren Übersetzungen leben, arbeiten einige Seiten als Probeübersetzung aus und lassen es dann, wenn niemand aufspringt, oder fangen überhaupt erst an, wenn sie den Zuschlag eines Verlags erhalten haben. Nach den ersten 20 Seiten konnte ich aber nicht mehr aufhören. Der Text hatte mich in seinen Bann gezogen. Während ich meine Übersetzungsproben weiter querbeet zu einschlägigen Verlagen nach Deutschland, Österreich und die Schweiz schickte, wuchs die Übersetzung an. Die zunächst ablehnende Haltung deutschsprachiger Verlage ließ mir viel Zeit, an meiner Übersetzung zu feilen.

Den Kontakt zum Septime Verlag stellte mir der Buchhändler meines Vertrauens her. Er zeigte mir eine Anthologie, die Texte von Julio Cortázar, Roberto Bolaño, Juan Villoro und anderen enthielt. Der Verlagsname sagte mir damals noch nichts. Auf meine Rückfrage hin erwiderte mein Buchhändler: „klein, aber gut“. Ich besorgte mir die Telefonnummer aus dem Internet, vereinbarte ein Treffen und hatte innerhalb von 24 Stunden die Zusage, das Buch werde herausgebracht. Und kann man nicht auch Arreolas Textsplitter mit „klein, aber gut“ zusammenfassen?

Wie wurde das Werk des Autors bislang im deutschsprachigen Raum aufgenommen?

Juan José Arreola ist im deutschsprachigen Raum bekannt und unbekannt zugleich. Seine Kurzgeschichten, allen voran „El guardagujas“ (Der Weichensteller), sind in mehreren Anthologien mexikanischer oder lateinamerikanischer Literatur vertreten. Mir war es unverständlich, warum in dem auf Deutsch erschienenen Band Confabularium nur zwei Fragmente des Romans La feria enthalten waren, die gut für sich allein stehen mochten, aber keine Idee von dem Roman im Ganzen vermitteln konnten. Die deutsche Ausgabe von Confabularium ist eine eigens für diese Ausgabe zusammengestellte Textsammlung und nicht mit Confabulario identisch.

La feria zeigt eine literarische Welt, die anders ist als seine Kurztexte, in denen sich seine Neugierde am Weltwissen kondensiert und die sich von Beiträgen der Revista de Occidente nähren. Im Gegensatz dazu ist sein Roman La feria regional angelegt. Die Geburtsstadt des Autors Zapotlán steht hier im Mittelpunkt. Und um diesen anderen Arreola bekannt zu machen, ging ich an die Arbeit.

Wie situiert sich Arreolas Werk zu den in Österreich etablierten Mexikobildern?

Grundsätzlich dürften sich die Vorstellungen über Mexiko in Deutschland denen in Österreich ähneln, mit dem Unterschied, dass es in Deutschland stärkere wirtschaftliche Bezüge gibt, wohingegen in Österreich historische Bezüge über die Habsburger bis zum offiziellen Protest Mexikos gegen die Annexion durch die Nazis 1938 stärker präsent sind. Im literarischen Bereich, der ja nur ein kleines Segment der Bilderwelten repräsentiert, steht Arreola im deutschsprachigen Raum im Schatten der übermächtigen Großen, Paz und Fuentes. Doch dieser Schatten ist in den letzten Jahren lichter geworden. Es werden mehr (jüngere) Autoren wahrgenommen, die sich an einer Vielfalt der Mexikobilder abarbeiten.

Welche Bedeutung kann der Übersetzung von Der Jahrmarkt für die Rezeption der mexikanischen und lateinamerikanischen Literatur im deutschsprachigen Raum zukommen?

Arreolas Roman trägt deutlich experimentelle Züge, man könnte ihn auch als Mosaik-Roman bezeichnen oder seinen Romanstatus überhaupt in Frage stellen, wie das tatsächlich auch geschehen ist. La feria erschien 1963. Das ist das Jahr, in dem auch Rayuela von Cortázar erschienen ist. Der Jahrmarkt passt nicht in eine Rezeptionshaltung, die lateinamerikanische Literatur mit dem magischen Realismus gleichsetzt, auch wenn es in diesem Roman magische Elemente geben mag. Arreola war Anfang der 60er Jahre auf Kuba. Selbst wenn erste Skizzen zum Jahrmarkt schon viele Jahre früher entstanden sind, tritt ein sozialer Aspekt, nämlich der Landraub an der autochtonen Bevölkerung, als roter Faden deutlicher zutage.

Arreolas literarischer Konkurrent, Juan Rulfo, ist ein Jahr früher geboren und in derselben Gegend im Süden des Bundesstaates Jalisco, im Dorf San Gabriel, aufgewachsen. Rulfos literarische Bilder des mexikanischen Landlebens sind düster. Arreolas Portrait dieses mexikanischen Provinznestes sitzt der Schalk im Nacken. Das beginnt beim unschuldigen Nachfragen eines Kindes beim Pfarrer, ob dies oder jenes eine Sünde sei, und reicht so weit, dass sich ein Schriftsteller auf Lesereise in der Stadt einstellt, um aus seinen Werken zu lesen. Beim Empfang wird mit jedem Besucher die neu entstandene Freundschaft begossen, so dass es im weiteren Verlauf zu keiner Lesung mehr kommen kann. Bei einer Vorstellung meiner Übersetzung in Zapotlán bin ich auf Menschen gestoßen, die genau wissen, welcher Stadtbewohner für welche literarische Figur zum Vorbild wurde. Bei Arreola kommt das Lachen nicht zu kurz und etliche Personen seiner Geburtsstadt bekommen darin ihr Fett ab. Man kann den Text auch als Chronik lesen. Es kam sogar zu öffentlichen Verbrennungen des Jahrmarktes, weil sich Menschen darin unvorteilhaft wiedererkannt haben.

Arreolas Jahrmarkt ist ein überaus gelungenes Beispiel früher Polyphonie und wirkt daher heute noch sehr modern. Wir kennen im deutschsprachigen Raum einige große Schriftsteller des lateinamerikanischen Booms. Daneben sind aber viele zu Unrecht unbeachtet geblieben. Die Übersetzung von Der Jahrmarkt schließt nicht nur eine Lücke, sondern macht auch auf dieses Defizit aufmerksam.

Der Roman lebt von seiner verwirrenden Vielstimmigkeit, die in den zahlreichen verschiedenen Figuren begründet liegt, die teils als Ich-Erzähler, teils in Außenperspektive präsentiert werden. Wie sind Sie in der Übersetzung mit dieser spezifischen Schwierigkeit umgegangen?

Grundsätzlich sprechen die Figuren ein Deutsch mit leichter österreichischer Färbung. Das erschien mir für diesen Roman mit seinem katholischen Handlungsspielraum adäquat.

Es gab mehrere Versuche und Anläufe, den richtigen Ton zu treffen. Lange beschäftigte mich die Frage, welche Zeitform der Vergangenheit die gesprochenen Passagen besser wiedergeben kann. Es gibt ja eine sehr große Anzahl von Sprechern, einer der polyphonen Höhepunkte ist vielleicht die Stelle, an der über mehrere Seiten die gesamte Stadt ihre Sünden in einer Beichte bekennt. Andererseits reichen oft Geräusche aus, etwa das Klappern von Schuhen in einem bestimmten Rhythmus, um Anzügliches auszudrücken und den sozialen Frieden in Gefahr zu bringen. Jede Stimme, jedes Geräusch musste eine eigene Charakteristik erhalten.

Die einzelnen Kapitel des Romans, die entweder einige Seiten oder auch nur zwei Zeilen umfassen, erscheinen auf den ersten Blick recht zusammenhanglos. Aber doch sind sie auf verschiedene Arten miteinander verknüpft und bilden so einen differenzierten Einblick in das Alltagsleben der mexikanischen Region Jalisco. Welche Schwierigkeiten tun sich auf bei der Übersetzung dieser Art von Komplexität?

Es gibt mehrere Erzählstränge, die unterschiedlich lange durchgehalten werden. Manche entschwinden in den Hintergrund, andere tauchen wieder auf. Dennoch gibt es ein tragfähiges Gerüst. Schwierig waren die regionalen Ausdrücke, von denen mehrere den Mexikanern der jüngeren Generationen ebenso fremd waren wie mir bei der ersten Lektüre. Wo meine Wörterbücher in Schweigen ausbrachen, setzte die wirkliche Herausforderung erst ein. Arreola hatte Ende der 40er Jahre geplant, eine linguistische Studie zum Gebrauch des Spanischen im Süden Jaliscos zu erstellen. Die Studie dürfte nicht über den Status des Entwurfs hinausgekommen sein, aber La feria hat davon sicher profitiert. Bis kurz vor dem Erscheinen des Buches waren Leute mit Wortlisten für mich unterwegs, die mir die letzten Zweifel aus dem Weg räumten. An den Ausdruck „tililes“ werde ich noch länger denken. Ich hatte es als Erdhörnchen übersetzt, bis mich jemand aus einem Nachbardorf von Zapotlán darauf aufmerksam machte, tililes seien in diesem Dorf kleine Vögel, die diesen onomatopoetischen Namen trügen. Ich wollte die Erdhörnchen schon ersetzen, bis mir ein Biologe die Richtigkeit meiner ersten Version bestätigte. Und wegen meiner Hartnäckigkeit hatte ich von meinen mexikanischen Freunden auch noch den Spitznamen „el tilil austriaco“ abbekommen.

Die Vielstimmigkeit äußert sich auch in einer Vielzahl verwendeter Regionalismen oder Sprichwörter. Wie gehen Sie in Ihrer Übersetzung mit diesen „Fremdheitsmerkmalen“ um, die ja auch innerhalb der Weltsprache Spanisch als spezifisches Charakteristikum dieses Werks gelten können?

Es ist eine Gratwanderung, wie weit das Fremde als Fremdes auch in der Übersetzung bestehen bleibt und wie weit es in den deutschen Text integriert wird. Das auch vor dem Hintergrund, dass mir viele jüngere Mexikaner nicht mit Sicherheit sagen konnten, was dieser oder jener Ausdruck bedeutet. Es ging mir einerseits um das Respektieren fremd anmutender Elemente, andererseits sollte ein Leser auch nicht vor den Kopf gestoßen werden.

Zugleich bin ich ein Verfechter der Untreue zum Original und somit gleichzeitig ein Verfechter der Treue zum übersetzten Text. Sprichwörter kann ich zwar oft Wort für Wort wiedergeben, aber der Sinn erschließt sich mir dadurch noch lange nicht. Ich hatte das an einer Stelle, in der ein Arzt ein krankes Kind besucht und sich von den materiellen Gegebenheiten des Hofes ein Bild macht. Da heißt es dann im Original: „Según el sapo es la petrada“. Wenn ich das Wort für Wort nehme, wird daraus so etwas wie: „Wie die Kröte, so der Steinwurf“. Aber dieser Satz ist für einen deutschsprachigen Leser so nicht nachvollziehbar. Nach langem Überlegen und Recherchieren hat mir jemand vorgeschlagen: „Wie die Erträge, so die Beträge“. Das ist nun nicht so anschaulich wie im Original, dafür versteht man aber, worum es dem Arzt bei seiner Visite geht.

Die deutsche Ausgabe des Buches verfügt über ein zweiseitiges Glossar. Dies erscheint angesichts einer Vielzahl von Kulturspezifika recht wenig. Nach welchen Kriterien haben Sie die Einträge für das Glossar ausgewählt?

Der Roman wird von einem Vorwort des mexikanischen Schriftstellers Marco Aurelio Larios und einem Nachwort des Dichters Marco Antonio Campos flankiert. Beide Autoren versuchen, die Bedeutung von Arreolas Jahrmarkt innerhalb der mexikanischen Literatur auszuleuchten und geben dem interessierten deutschsprachigen Leser eine Handreichung. Für das Glossar beschränkte ich mich auf Einträge, die historische Erklärungen bieten oder sich auf mexikanische Spezifika beziehen. Ich finde es störend, einen literarischen Text mit Fußnoten zu unterbrechen. Wer wissen möchte, was etwa Atole oder Tepache bedeuten, kann im Glossar darüber mehr erfahren. Wer dieses erweiterte Wissen nicht braucht, kann im Textfluss bleiben.

Sie nennen in Ihrer Danksagung achtzehn Personen, die Sie bei der Arbeit an der Übersetzung durch Hinweise, Erklärungen und Hilfestellungen unterstützt haben. Können Sie anhand von Beispielen erläutern, wie Sie im Austausch mit diesen Menschen zu übersetzerischen Lösungen gelangt sind?

Es war mir wichtig, nach dieser langwierigen Recherche nicht alleine aufzuscheinen. Bekanntlich sind wir Übersetzer ja auch nur Zwerge auf den Schultern von Riesen. Das war meine Anerkennung für die Menschen, die mein hartnäckiges Nachfragen über den Atlantik hinweg ausgehalten haben, die sich mit Wortlisten nach Zapotlán aufgemacht haben, das rund zwei Autostunden von Guadalajara entfernt liegt, die mit Arreolas Familie in Kontakt getreten sind, die in ihren Enzyklopädien und Wörterbüchern geblättert haben. Menschen, die ihren familiären Erfahrungshintergrund mit mir teilten, indem sie mir die Ausdrücke etwa für Stoffe erklärten, die seit fünfzig Jahren aus der Mode gekommen sind.

Warum sollten literarisch Interessierte unbedingt dieses Buch lesen?

Der Jahrmarkt bietet verschiedene Lesearten. Es ist einerseits eine Chronik. Ein Kaleidoskop, das dem Leser vermittelt, was sich in dieser Stadt zugetragen hat. Historisches und Zwischenmenschliches, soziale Auseinandersetzungen und Alltagswelten des mexikanischen Landlebens kommen ebenfalls vor wie Schilderungen landwirtschaftlicher Betätigungen und handwerklicher Tätigkeiten, eine Welt, die heute in dieser Form nicht mehr existiert.

Der Jahrmarkt kann auch als soziales Manifest gelesen werden. Der Kampf der autochthonen Bevölkerung, die vergeblich versucht, sich Recht zu verschaffen. Übervorteilt, hintergangen und gegeneinander ausgespielt bleiben die Indigenen auf der Strecke. Diese Erzählebene zieht sich vom Anfang bis zum Schluss.

Literaturwissenschaftlich Interessierte überrascht Der Jahrmarkt mit seiner experimentellen Anlage. Innerhalb der mexikanischen Literatur musste sich Der Jahrmarkt der Frage stellen, ob er überhaupt ein Roman sei. Nach der Veröffentlichung auf Deutsch taucht in den Rezensionen diese Frage wieder auf. Das ist für mich ein Zeichen, wie frisch der Text heute noch wirkt.

Der Jahrmarkt ist auch ein ästhetischer Genuss, in den man kommt, wenn man sich auf die ersten Seiten erst einmal eingelassen hat. Er bietet einen tiefen Einblick in das ländliche mexikanische Alltagsleben bis in die 50er/60er Jahre. Manche Geschichten erstrecken sich nur über wenige Zeilen, andere wiederum über mehrere Seiten. Fragmente, Kapitel sind das ja weniger, die uns eine Welt aufbauen, von der wir wenig Ahnung haben und die uns dennoch sehr nahe ist. Der Roman bietet nicht einfach eine abgeschlossene Weltsicht, sondern betont mit seinem fragmentarischen Charakter die „Obdachlosigkeit des Menschen“, wenn wir das mit Georg Lukács ausdrücken wollen.

Juan José Arreola: Der Jahrmarkt, mit Illustrationen von Vicente Rojo, übersetzt von Georg Oswald, Wien: Septime Verlag 2010, 251 Seiten, 20,90 €

Juan José Arreola (1918-2001) gilt ebenso wie Juan Rulfo als Klassiker der zeitgenössischen mexikanischen Erzählung. Berühmt wurde er vor allem durch sein Werk Confabulario, eine Sammlung unterschiedlichster Prosatexte, die nach vielfacher Überarbeitung seit 1986 unter dem Titel Confabulario definitivo vorliegt. Auf Deutsch erschienen sind bislang lediglich Confabulario total (1962) in der Übersetzung von Kajo Niggestich (Suhrkamp 1980) und das hier vorgestellte La Feria (1963), übersetzt als Der Jahrmarkt von Georg Oswald (Septime 2010).

Georg Oswald lebte von 1995 bis 1998 im mexikanischen Guadalajara, wo er deutsche Literatur unterrichtete. Dort begann er mit der Übersetzung mexikanischer Autoren, wie z.B. Krieg im Paradies von Carlos Montemayor. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit den „Mexikobildern in der österreichischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“.

Vera Elisabeth Gerling lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter anderem im Studiengang Literaturübersetzen. Sie hat zur lateinamerikanischen Literatur in deutscher Übersetzung promoviert und verschiedene übersetzungswissenschaftliche Bücher und Aufsätze publiziert. Selbst übersetzt hat sie die argentinischen Autoren Fernando Sorrentino und Héctor Dante Cincotta.