„Die Malerei stammt niemals von der Prosa ab, sondern von der Poesie. Sie ist in Versform mit plastischen Reimen geschrieben. Die Malerei ist Poesie.“[1] So äußert sich Pablo Picasso zum Verhältnis von bildender Kunst und Dichtung. In surrealistischer Manier – ähnliche Ansätze lassen sich z.B. auch bei André Breton finden – versucht er, die Grenzen zwischen den Künsten aufzuheben. Picasso hatte die Intention, diesen Anspruch auch in seiner künstlerischen Arbeit umzusetzen: Er war tätig als Grafiker, Maler und Bildhauer. Dass er jedoch auch ein vielschichtiges poetisches Werk hinterlassen hat, ist (leider) immer noch weitgehend unbekannt, obzwar das Forschungsinteresse an Picassos Dichtung in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Picassos literarisches Werk umfasst tagebuchartige Wahrnehmungsnotizen, die häufig fragmentarisch und hermetisch anmuten, deren große poetische Schönheit gleichwohl fesselnd ist, aber auch Dramen wie z.B. Le Désir attrapé par la queue [2] von 1941 oder Les Quatre Petites Filles von 1947/48, die schon zu seinen Lebzeiten mit Freunden Picassos, wie etwa Sartre oder Camus, inszeniert wurden und so zu einiger Bekanntheit gelangten.[3]
Picassos literarische Texte sind Fragmente, Mosaike aus Wörtern. Jeder Text ist mit Datum versehen und erinnert so an Tagebucheinträge. Die Textfragmente sind Erinnerungsstützen für den Künstler, sie legen Zeugnis ab von Situationen, Ereignissen und Stimmungen. Kennzeichnend ist ihre scheinbare Bezuglosigkeit: Bezuglosigkeit der Texte untereinander, der Satzfetzen, aus denen sie gebildet sind, und der Wörter, die vereinzelt wie Wassertropfen auf das Papier gefallen zu sein scheinen. Das einzelne Wort verliert nicht seine Bedeutung, doch seinen Sinn, der sich erst im Leseprozess mühsam erschließt, nämlich dann, wenn sich zwischen den Wörtern hauchzarte Fäden aufspannen, die irgendwann so dicht werden, dass sie den Text als Textur, als Gewebe überhaupt erst sichtbar werden lassen. Der Leser von Picassos Schriften bleibt immer vor dem Text, da das Labyrinth, in dem der Minotaurus, eines der zentralen Motive in Picassos Œuvre, gefangen ist, sich erst durch sein Zutun erzeugen kann. Der penetrierende Blick des Lesers kann nicht eindringen, der Ariadnefaden ist abgeschnitten – der Minotaurus ist erblindet, kastriert und seiner Macht über den Text beraubt. Als mythisches Wesen ist der Minotaurus der verborgene Sinn, überliefert und existent nur im Text, eine reine Kopfgeburt des lesenden Menschen. Und er ist auch Sinnbild für Picassos Texte selbst: halb Mensch und halb Stier, ist auch er aus Fragmenten zusammengesetzt. In ihm kommt das scheinbar Unvereinbare zusammen, wie in Picasso Texten Literatur und bildende Kunst, der Schriftsteller ist Daedalus, er liefert das Material, welches den Zeugungsakt möglich macht, doch bildet sich der Text, wie der Minotaurus, in einem für ihn unbeeinflussbaren Moment, dem Akt des Lesens.
Doch was will ein Text, der sich dem Leser verweigert, indem er sich nur schwer als Text konstituiert? Der Text wirft den Leser auf sich selbst zurück und veranschaulicht, wie der Leseprozess funktioniert, indem er ihn verunmöglicht. Ähnliche Ansätze lassen sich auch in der bildenden Kunst Picassos finden, etwa in seinem analytischen Kubismus (1908-1911), dessen Hauptcharakteristikum die Polyperspektivität ist. Hier werden in einem Gemälde gleichzeitig verschiedene Ansichten eines Bildgegenstandes gegeben.[4] Durch das Aufbrechen der Zentralperspektive, die den Bildraum als Scheinraum konstituiert und Illusion von Räumlichkeit liefert, den Betrachter in das Bild hineinzuziehen scheint, bleibt dieser jedoch stets vor dem Gemälde, da es ihm als Bild in seiner ganzen Flächigkeit entgegentritt. Das Bild stellt nicht mehr dar, sondern nur noch sich selbst in seiner Konstruiertheit aus. Durch das Verunmöglichen routinierter Wahrnehmungsvorgänge wird der Betrachter jedoch genau auf diese Abläufe hingewiesen. Diese Engführung der Text- und Bildaussage nähert nicht nur die Künste einander an, sondern sie stellt auch einen Übersetzungsprozess der einen Kunstform in die andere dar. Beobachtungen und Erfahrungen, die Picasso anhand der einen Form macht, werden auch für andere Künste fruchtbar gemacht. Wie in der literarischen Übersetzung kann dies jedoch nie eine exakte Übertragung sein. Jede Kunstform ist ein eigenes Medium, eine eigene Sprache, an die der Künstler sich anpassen muss. Indem er die Künste in Dialog treten lässt, erweitert Picasso ihre „sprachlichen“ Möglichkeiten. Deutlich wird hierbei, wie stark Picasso Poesie und bildende Kunst gemeinsam denkt. Auch die „papiers collés“ aus der Zeit des synthetischen Kubismus, in denen verschiedene aufgeklebte Objekte durch Farbflächen verbunden werden, verweisen auf die Machart jener poetischen Wahrnehmungsskizzen: Scheinbar zufällige, der Wirklichkeit entnommene Objekte, werden durch Einfügen in das Kunstwerk verfremdet, aber niemals entfremdet. Sie bleiben stets als Zitate aus der Realität erkennbar und benennbar. Die ursprüngliche Bedeutung bleibt, sofern dem Betrachter das Objekt bekannt ist, erhalten, nur der Sinnzusammenhang verschiebt sich, da das Objekt nun mit anderen Objekten im Werk in Verbindung gebracht werden muss. Ähnliche Vorgänge finden beim Lesen der literarischen Texte Picassos statt. Das Wort in seinen Texten erscheint zunächst vollkommen vereinzelt, ist den ‚gewöhnlichen‘ Sprachzusammenhängen entrissen und erst im wiederholten Leseprozess entspinnen sich zarte Fäden, Relationen zwischen Wörtern, ein „Sinn“ bildet sich im Geist des Lesers heraus. Picassos Texte funktionieren wie Bilder, wie Collagen, Wortbilder, die sich erst im Geist des Lesers erzeugen. Seine Texte scheinen entgrenzt, sie gehen über ihr eigenes Textsein hinaus und hinterfragen es dadurch, sie bewegen sich auf der Grenze zum Bild. Durch diese Entgrenzung verflüssigen sie die Trennlinie auf der sie sich bewegen, sie setzen über, sind Über-setzung.
Ein Phänomen, welches sich sowohl in Picassos Schreiben, als auch in seiner Malerei finden lässt, ist das Moment der Selbstübersetzung. In der bildenden Kunst tritt es vor allem in den zahlreichen Variationen seiner Werke zutage, die er zu Bildern berühmter Meister wie Las Meninas von Velázquez oder der Kreuzigung von Grünewald anfertigte.[5] Hier erwecken die Kopien eher den Anschein, als ginge es dem Künstler um eine Aneignung des Originals, indem er die Bildmotive des ihm fremden Künstlers in seine eigene Bildsprache übersetzt. Dabei ist die Zahl der Variationen wahrscheinlich unendlich, da im Original immer neue Aspekte und Deutungen zu finden sein werden. Eben dies gilt jedoch auch für den literarischen Übersetzungsprozess. Jeder Text birgt unendlich viele Deutungs- und Übersetzungsmöglichkeiten.
In seinem Schreiben findet sich Übersetzung eher als Moment der Überarbeitung, der Selbstvergewisserung in Bezug auf einen von ihm angefertigten Text. So in einer Textreihe vom 8./9. November 1935:
con la aguja más / fina que la niebla / inventó cose su / traje de bombillas / eléctricas
avec l‘ aiguille plus / fine que la brume inventa / coud son costume / d‘ ampoules électriques
al torero / con la aguja más / fina que la niebla / inventó cose su / traje de bombillas / eléctricas / el toro
au torero / avec l‘ aiguille plus / fine / que la brume / inventa / coud son costume / d‘ ampoules électriques / le toro
al torero / con la aguja más fina que la niebla inventó / cose su traje de bombillas eléctricas / el toro
au torero / avec l‘ aiguille plus / fine / que la brume / inventa / coud son costume / d‘ ampoules électriques / le toro
Auffällig ist an dieser Textreihe, wie nicht nur der Text sich im Wechsel der Sprachen ändert, verfeinert, also selbst das Kostüm zu sein scheint, an dem mit der hauchzarten Nadel gearbeitet wird, sondern auch, wie im Verlauf jedes einzelnen Textes der Torero zum Stier wird. Der Stier ist hier noch dem Torero ebenbürtig, der Kampf hat noch nicht stattgefunden. Der Stier ist hier im Kontrast zu sehen zu dem bereits erwähnten Minotaurus, der häufig von Picasso blind dargestellt wurde, wobei die Blindheit in der Nadel, dem Nebel und den blendend hellen Glühbirnen dem Text bereits eingeschrieben, eingewebt ist. Wie in der Handschrift deutlich zu sehen ist, zieht Picasso um die finale Version seines Textes einen Rahmen. Ein Rahmen hat immer den Effekt, das in ihm Enthaltene gegen die Umgebung abzugrenzen, jedoch auch denjenigen, es zu betonen und auszustellen. Das Bild wird durch die Rahmung als etwas Fertiges, Abgeschlossenes gesetzt. Das moderne Bild ist ein Palimpsest: es birgt in sich vorhergehende Schaffensstadien und mögliche weitere, die noch hätten folgen können. Der Künstler beschließt ein Bild, das vielleicht nie zur Vollendung kommen kann, indem er den Rahmen als äußeres Zeichen dieser Setzung um das Bild zieht. Und obwohl auch in diesem kurzen Text noch zahlreiche Variationen möglich wären, gibt sich Picasso als übersetzender Autor schließlich mit einer Version zufrieden. Der ständige Wechsel zwischen den Sprachen scheint ihm das Überarbeiten zu erleichtern, da die vorherige Version, als Original gesetzt, im Übersetzungsprozess von sich selbst entfremdet wird. Die so gewonnene Distanz, die eine nicht nur zwischen den Sprachen, sondern ebenfalls eine Distanz der Sprache, in die übersetzt wird, zu sich selbst ist, ermöglicht es, freier neue Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Dieser Prozess ist ein unendlicher und macht somit die Rahmensetzung nötig. Das Werk ist nun „gesetzt“ und bereit, wiederum vom Leser rezipiert, gedeutet und damit übersetzt zu werden.
Picasso selbst versteht sein Schreiben als Übersetzungsprozess, wie sich in einem Text vom 28. Oktober 1935 andeutet:
si je pense dans une langue et j‘ écris ‚le chien court derrière le lièvre dans le bois‘ et veux le traduire dans une autre je dois dire ‚la table en bois blanc enfonce ses pattes dans le sable et meurt presque de peur de se savoir si [sotte]‘[6]
Das traduire in diesem Text suggeriert, dass man beide Sätze zueinander ins Verhältnis setzen könnte, ja: muss, verspricht vielleicht sogar ein Moment inhaltlicher Entsprechung. Doch genau diesem Anspruch wird hier nicht Genüge getan. Die Wörter sind in ihrem Bedeutungskontext, der durch die grammatikalische Struktur der Sätze angedeutet wird, verrückt. Bois wird nur noch dem Tisch zugeordnet und ist kein eigenständiges Substantiv mehr, das auf seine Materialität hinweist, allerdings hat der Tisch, ebenso wie die Tiere, auf die noch die pattes verweisen, vier Beine. Bois ist ein verbindendes Element zwischen beiden Sätzen, allerdings verschiebt sich seine Bedeutung, aufgrund des Kontextes, in dem es gebraucht wird. All diese Reflektionen drängen sich jedoch nur auf, weil das „Original“ bekannt ist. Stünde der zweite Satz isoliert, so wäre seine Bedeutung eine vollkommen andere. Das Verb traduire erweckt hier den Anschein, lediglich eine Relation anzudeuten, die an sich eigenständige Texte zueinander ins Verhältnis setzt, wodurch sie eine Bedeutungsebene hinzu gewinnen. Man kann Picassos Text auch dahingehend lesen, dass hier das Denken und das Schreiben in einer Sprache voneinander getrennte Sprachhandlungen sind und die Übertragung eines Gedankens in Schrift bereits einen Übersetzungsvorgang darstellt. Die Schrift scheint für Picasso jedoch als Ausdrucksmittel defizitär zu sein.
Die Übersetzung wird für Picasso zum kreativen Arbeitsmittel, welches dazu dient die Ausdrucksmittel, die Sprache der Künste, die er bedient zu erweitern. Dabei kann die „Über-setzung“ ganz verschiedene Formen annehmen, wie in diesem Artikel dargestellt. Sei es nun der Übersetzungsvorgang des Französischen ins Spanische, der Malerei in die Literatur oder gar die Übersetzung des Wahrgenommenen in Text oder Bild, immer bewegt sich Picasso an den Grenzen des Mediums, welches er durch den Dialog mit anderen zu erweitern sucht. André Breton postuliert in seinem Aufsatz Der Surrealismus und die Malerei:
Das Verlangen, die Bilder des Gesichtssinnes zu fixieren, ob sie vor ihrer Fixierung wirklich da waren oder nicht, hat sich zu jeder Zeit offenbart und hat zur Schaffung einer wirklichen Sprache geführt, die mir nicht künstlicher zu sein scheint, als die gewöhnliche.[7]
Genau diese neue Sprache sieht Breton in Picasso verwirklicht. Die Kunst habe die Aufgabe, die Tiefen des Geistes auszuloten, aber da die Beschränkung auf nur eine künstlerische Ausdrucksweise defizitär bleiben müsse, sollten sich alle Künste vereinigen. In Picassos Werk ist genau das geschehen. Er überwindet die Grenzen zwischen den Künsten und den Sprachen, und durch diesen Übersetzungsprozess revolutioniert er sie alle.
—
Der Maler, Grafiker und Bildhauer Pablo Picasso (1881-1973) hat neben seinen Werken in der bildenden Kunst, für die er berühmt wurde, auch ein umfassendes literarisches Œuvre hinterlassen. Die ersten sorgfältig datierten Texte stammen aus dem Jahr 1935. Picasso verfasste neben den bekannteren Dramen zahlreiche fragmentarisch anmutende Aufzeichnungen, deren wissenschaftliche und editorische Aufarbeitung sie in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit hat rücken lassen.
Verena Ott studiert an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte.
[1] „La peinture n´est jamais de la prose, c´est de la poésie, elle est écrite en vers avec de rimes plastiques […]. La peinture est poésie.“ Übersetzung V.O.
[2] Hier ist auf die anspruchsvolle deutsche Übersetzung „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“ von Paul Celan zu verweisen.
[3] Im Jahre 1989 ist die erste vollständige Zusammenstellung von Picassos literarischem Schaffen bei Gallimard in Frankreich erschienen. Noch im selben Jahr wurde die französische Originalausgabe bei Schirmer/Mosel in Deutschland publiziert. Picasso verfasste seine Texte sowohl in französischer als auch in spanischer Sprache. Die französische Ausgabe seiner literarischen Werke enthält neben den spanischen Texten auch noch deren französische Übersetzung durch Albert Bensoussan. Marie-Laure Bernadac/ Christine Piot (Hgg.): Picasso. Die poetischen Schriften, Schirmer/Mosel 1989.
[4] Vgl. z.B. Pablo Picasso: Jeune fille à la mandoline, Öl auf Leinwand, 1910.
[5] Vgl. z.B. Pablo Picasso: La crucifixion (d’après Grünewald) VI, Tusche auf Papier, 1932.
[6] „Wenn ich in einer Sprache denke und schreibe ‘der Hund rennt dem Hasen hinterher in den Wald‘ und das in eine andere Sprache übersetzen will, muss ich sagen ‘der weiße Holztisch drückt seine Pfoten in den Sand und stirbt fast vor Angst, sich so [dumm] zu wissen‘.“ Übersetzung V.O.
[7] André Breton: Der Surrealismus und die Malerei [aus dem Französischen von Manon Maren-Grisebach], Propyläen Verlag Berlin 1967, S. 7.
Ein wenig Recherche hätte noch dieses zutage gefördert:
Pablo Picasso: „Gedichte“, hrsg. v. Androula Michael.
Aus dem Französischen von Holger Fock.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007
190 Seiten, 14,95 Euro.
In herzlicher Verbundenheit und mit den besten Wünschen fürs neue Jahr
Holger Fock.