„Ich wäre schon zufrieden“, schreibt Chinua Achebe in einem Essay, „wenn meine Romane, besonders jene, die in der Vergangenheit spielen, nichts weiter bewirken, als meine afrikanischen Leser zu lehren, dass ihre Vergangenheit – mit all ihren Unzulänglichkeiten – nicht eine lange Nacht der Barbarei war, aus der die ersten Europäer sie im Namen Gottes erlöst haben.“[1]
Mit seinem Erstling Things Fall Apart ist Chinua Achebe diesem Anspruch in besonderem Maße gerecht geworden. Er gilt als der meistgelesene und -besprochene Roman der afrikanischen Gegenwartsliteratur. Achebe gewährt hierin anhand des Kriegers Okonkwo und weiteren Mitgliedern aus dessen Familien- und Dorfverbund einen Einblick in das an Riten und Festen, an sozialen und kulturellen Beziehungen reiche Leben der Igbo im nigerianischen Dorfverbund Umuofia in der vorkolonialen Zeit um 1900. Mit dem Erscheinen der ersten britischen Kolonisatoren und christlichen Missionare gegen Ende des Romans setzt der Niedergang dieser Dorfgemeinschaft ein, „alles zerfällt“, und Okonkwo sieht bloß einen dramatischen Ausweg für sich – den Selbstmord.
Die Bedeutung von Things Fall Apart für die afrikanische Literatur ist enorm. Dies wird deutlich, wenn die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie im Vorwort zur Neuübersetzung Alles zerfällt aus dem Jahre 2012 schildert, was sie empfand, als sie nach jahrelanger Lektüre westlicher Literatur in der Schule und Universität Things Fall Apart in die Hände bekam: „Dann las ich Alles zerfällt. Es war eine auf großartige Weise schockierende Entdeckung, […] bis dahin hatte ich nicht konkret gewusst, dass Menschen wie ich in der Literatur vorkommen konnten. Hier war ein Buch, das selbstbewusst afrikanisch war.“[2]
Auch in Deutschland scheint man sich der Bedeutsamkeit des Romans bewusst zu sein, denn hierzulande liegt er mittlerweile in der dritten Übersetzung vor. Die erste Übersetzung von Things Fall Apart ins Deutsche stammt von Richard Moering und erschien bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Originals unter dem Titel Okonkwo oder Das Alte stürzt (1959) in der DDR. In den 1980er Jahren gab Dagmar Heusler – in Zusammenarbeit mit Evelin Petzold – in der Reihe „Schwarzafrikanische Literatur“ des Suhrkamp Verlags eine Neuübersetzung des Romans heraus, der nach wie vor den Titel Okonkwo oder Das Alte stürzt (1983) trug. Schließlich veröffentlichte der S. Fischer Verlag im April dieses Jahres Uda Strätlings Neuübersetzung mit dem Titel Alles zerfällt (2012).
Diese ist die nunmehr dritte Übersetzung in 54 Jahren Werkgeschichte und wird vom S. Fischer Verlag mit folgendem Slogan enthusiastisch beworben: „Der Afrika-Roman, der die moderne afrikanische Literatur begründetet und die Weltliteratur prägte – endlich in neuer Übersetzung!“[3] Werbetexte neigen bekanntermaßen zu Verherrlichungen und sind mit Vorsicht zu genießen. Dennoch ist es beachtenswert, dass hier ausgerechnet mit der ansonsten leider oft wenig beachteten Übersetzungsleistung geworben wird. Unweigerlich drängt sich die Vermutung auf, befeuert durch das Wörtchen „endlich“, dass Strätlings Neuübersetzung besser ist als die alten von Moering und Heusler/Petzold.
Und schon bei einer oberflächlichen ersten Gegenüberstellung der drei Übersetzungen fällt unmittelbar auf: Das Kind hat einen neuen Namen bekommen. Okonkwo oder Das Alte stürzt heißt nun Alles zerfällt. Die Entscheidung, einen Klassiker umzutaufen, wie auch bei Swetlana Geiers ebenfalls bei S. Fischer erschienener Neuübersetzung von Dostojewskijs Verbrechen und Strafe (ehemals Schuld und Sühne) geschehen, wird sicherlich nicht übers Knie gebrochen. So etwas erregt Aufsehen, erfordert Mut, muss gute Gründe haben – und die hat es. Denn Okonkwo oder Das Alte stürzt erhob den Krieger Okonkwo buchstäblich zum Titelhelden. Dabei geht es hier nicht um ein Einzelschicksal: Okonkwo ist kein einsam kämpfender Held, vielmehr steht die ganze Dorfgemeinschaft im Mittelpunkt des Romans. Der Literaturwissenschaftler Oyeniyi Okunoye etwa sieht im alten deutschen Titel eine Manifestation des westlichen Personenkults.[4] Die afrikanische Gemeinschaft auf der einen, der europäische Individualismus auf der anderen Seite. Der Roman ist noch nicht aufgeschlagen, der erste Satz noch nicht gelesen, schon ergibt sich ein kulturelles Konfliktpotenzial, und es stellt sich die übersetzerische Gretchenfrage: Sag, wie hältst du’s mit der Kultur?
Doch Things Fall Apart hält noch weitere kulturelle Fallstricke bereit. „Achebe hat der Welt Afrika gebracht“, so lobte Nelson Mandela die Romane Achebes. Dieser kulturvermittelnde Aspekt von Achebes Werk bewahrheitet sich in Alles zerfällt vor allem in der sprachlichen Gestaltung des Romans, der mehrsprachig zwischen dem Englischen und Igbo, Achebes Muttersprache, angelegt ist. Außerdem lässt Achebe immer wieder Sprichwörter und Redensarten aus dem Igbo in die Dialogpassagen seiner Protagonisten einfließen, denn „[u]nter den Igbo wird die Konversationskunst hochgeschätzt, und Sprichwörter sind das Palmöl, mit dem man seine Worte isst“, wie es in Alles zerfällt heißt. Diese Sprichwörter hat Achebe wörtlich aus dem Igbo ins Englische übersetzt[5] und sie haben in seinem Roman kulturtragende und -vermittelnde Funktion. In den deutschen Übersetzungen wird damit unterschiedlich umgegangen. Das Duo Heusler/Petzold neigt zu einer verdeutschenden Übersetzungsstrategie, während Strätling und Moering – wie Achebe selbst – eher wörtlich übertragen. So übersetzt Achebe vom Igbo ins Englische: „,As our people say, ,When mother-cow is chewing grass is young ones watch his mouth.‘” Bei Strätling liest sich diese Passage so: „,Sagt man bei uns nicht: ,Wenn die Kuhmutter Gras kaut, schauen ihr die Jungen aufs Maul?‘“ Moering bleibt ebenfalls nah am Original und betont den idiomatischen Duktus zusätzlich durch einen Reim: „,Frißt die Kuh, sieht’s Kälblein zu‘, wie die Leute sagen.“, während Heusler/Petzold folgendermaßen übersetzen: „,Wie der Vater, so der Sohn.‘“ Beide Parteien haben eine kulturelle Übersetzung angefertigt, sich dabei bloß an verschiedenen Kulturen orientiert. Strätling/Moering (und Achebe) wollen durch ihre Übersetzungen die Ausgangskultur wahren, während Heusler/Petzold eine für den zielkulturellen Leser verständliche, in erster Linie auf gute Lesbarkeit angelegte Übersetzung angefertigt haben.
Aber: Wollen wir Achebe so eingedeutscht lesen und dadurch hinnehmen, dass das ursprüngliche, kulturtragende Sprachbild zugunsten einer deutschen Redewendung verschwindet? Auch angesichts Achebes eigener Übersetzungsweise, die eine wörtliche Übertragung einer sinngemäßen vorzieht? Schließlich hätte auch er stattdessen „Like father, like son“ schreiben können. Jedoch: Bei Übersetzungen aus dem Englischen, dem Französischen, dem Spanischen etc. lobt man gerade die idiomatische Übertragung ins Deutsche. Niemals würde die französische Redensart „C’est pas mes oignons“ wörtlich mit „Das sind nicht meine Zwiebeln“ übersetzt werden – auch wenn sie die kulturtragende Information über die Bedeutung der Zwiebel in der französischen Küche transportiert –, sondern mit „Das ist nicht mein Bier“ oder Ähnlichem.
Dass eine solche an der Zielkultur orientierte Übersetzungsstrategie im Falle von Things Fall Apart nicht funktioniert, zeigt sich in der Übersetzung von Heusler/Petzold mehr als einmal: Zum Beispiel ist Okonkwos Vater Unoka im ganzen Dorf als Lebemann bekannt, der all seine Kaurimuscheln – das Zahlungsmittel der Igbo – für Palmwein ausgibt. Seine Lebensphilosophie liest sich bei Achebe so: „He always said that whenever he saw a dead man’s mouth he saw the folly of not eating what one had in one’s lifetime.“ Heusler und Petzold machen daraus: „Er pflegte immer zu sagen: ,Genieße zu Lebzeiten, was du hast, denn wenn du tot bist, nützt dir alles Gold der Welt nichts mehr’”. Hier werden jedoch leider Äpfel mit Birnen übersetzt, denn Gold besitzt zwar für einen europäischen Leser (und Übersetzer) eine große Wertigkeit, aber keineswegs für Unoka. Im Vergleich dazu Strätlings Übersetzung, die mehr kulturelles Fingerspitzengefühl an den Tag legt: „Er sagte gern, sobald er den Mund eines Toten sehe, wisse er um die Dummheit, nicht zu essen, was man zu Lebzeiten habe.“ Andernorts wird ebenso deutlich, dass das Team Heusler/Petzold sich ab und an bei ihrer Übersetzung „in der Kultur vergriffen“ haben. „Who killed this tree?“, fährt der jähzornige Okonkwo seine zweite Frau an, die einige Blätter von einer Bananenstaude abgebrochen hatte, um darin Speisen einzuwickeln. Bei Heusler/Petzold schimpft er: „Wer zum Teufel hat diesen Baum umgebracht?“. Doch diese Übersetzung ist angesichts einer Kultur, die weder den christlichen Gott noch Teufel kennt, sondern an persönliche Götter, sogenannte chi, glaubt, wie im Roman mehrmals thematisiert wird, eine Übersetzung durch die „europäische Brille“.
Gerade wenn die zu übersetzenden Kulturen so weit auseinanderliegen wie im Falle von Things Fall Apart die Kultur der Igbo und der Deutschen, sollte der Übersetzer eine besondere Sensibilität walten lassen. Denn hier muss oftmals in viel größerem Maße als bei Übersetzungen aus westlichen Kulturen neben der rein sprachlichen auch eine kulturelle Übersetzung geleistet werden. Diese sollte metatextuelle, soziokulturelle Aspekte der Ausgangskultur sowie textuelle Herausforderungen berücksichtigen und weder kulturnivellierend verdeutscht noch exotisierend verfremdet sein. Uda Strätling ist in diesem Sinne eine wunderbar schlichte, unbedingt lesenswerte Übersetzung gelungen. Zudem hält die Ausgabe des S. Fischer Verlages noch zwei weitere „Schmankerl“ bereit: Den sehr persönlichen einleitenden Essay Über Chinua Achebe von Chimamanda Ngozi Adichie (der von Reinhild Böhnke ins Deutsche übersetzt wurde) sowie ausführliche Anmerkungen am Ende des Buches (ein weniger ausführliches Glossar findet sich auch im Original), die ethnografisches Hintergrundwissen zu Bräuchen und Festen, Begrifflichkeiten und Kultur der Igbo vermitteln. Das Fazit lautet also: Chinua Achebes epochaler Roman Alles zerfällt in neuer Übersetzung – endlich!
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Chinua Achebe: Alles zerfällt, übersetzt von Uda Strätling, mit einem Vorwort von Chimamanda Ngozi Adichie (übersetzt von Reinhild Böhnke), Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 2012. 237 Seiten, 19,99€
Chinua Achebe: Things Fall Apart, London u.a.: Heinemann Educational Books. 191 Seiten.
Chinua Achebe wurde 1930 in Ogidi im Osten Nigerias als Angehöriger des Igbo-Volkes, einer der drei großen Ethnien im Vielvölkerstaat Nigeria, geboren. Er studierte am University College of Ibadan, arbeitete für den nigerianischen Rundfunk und lehrte als Professor an nigerianischen, englischen und amerikanischen Universitäten. Im Jahr 1958 erschien sein erster Roman Things Fall Apart, der den Auftakt zu William Heinemanns „African Writers Series“ bildete und an der Achebe als ehrenamtlicher Mitherausgeber bis zu einem schweren Verkehrsunfall im Jahre 1990 mitarbeitete. Darüber hinaus ist er als Verfasser der „Afrikanischen Trilogie“ bekannt, die sich neben Things Fall Apart weiterhin aus No Longer at Ease (1960, Rückkehr in ein fremdes Land) und Arrow of God (1964, Der Pfeil Gottes) zusammensetzt. Im Jahre 2002 wurde Chinua Achebe mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, 2007 erhielt er den Man Booker International Prize. Achebe hat vier Kinder und lebt mit seiner Frau in den USA.
Uda Strätling wurde 1954 in Bonn geboren und wuchs in den USA, Rumänien und Afrika auf. Sie studierte Publizistik, Soziologie und Linguistik in München. In den Jahren 1997 und 2001 wurde sie mit dem Förderpreis der Freien und Hansestadt Hamburg für literarische Übersetzungen ausgezeichnet. 2006 erhielt sie das Stipendium des Deutschen Literaturfonds e.V. Uda Strätling lebt in Hamburg und arbeitet als Literaturübersetzerin aus dem Englischen.
Silke Pfeiffer studiert seit 2006 Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit den Sprachen Englisch und Französisch.
[1] Chinua Achebe: Morning Yet on Creation Day. Essays. 1977, S.72. Der Essayband liegt bislang leider nicht in deutscher Überetzung vor, diese deutsche Passage entstammt Theodor Berchems Laudatio „Die Geschichte ist unser Begleiter, ohne sie sind wir blind“ auf Chinua Achebe anlässlich der Preisverleihung des Friedenspreis‘ des deutschen Buchhandels im Jahre 2002. http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2002%20Friedenspreis%20Reden.pdf
[2] Chimamanda Ngozi Adichie: Über Chinua Achebe. (Vorwort, S. 5-15), aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. In: Achebe: Alles zerfällt, S. 6.
[3] http://www.fischerverlage.de/buch/alles_zerfaellt/9783100005403
[4] Oyeniyi Okunoye: Half a Century of Reading Chinua Achebe’s Things Fall Apart. S. 42-75 in: English Studies. A Journal of English Language and Literature. 91: 1, Februar 2010. S. 47. Okunoye bezieht sich an dieser Stelle ausschließlich auf die DDR-Übersetzung von 1959. Seine Aussage trifft dennoch auf die gleichlautende BRD-Übersetzung von 1983 genauso zu.
[5] Chimamanda Ngozi Adichie weist in ihrem Vorwort auf den komischen Effekt hin, den diese Eins-zu-eins-Übersetzung der Igbo-Sprichwörter bei Lesern hervorruft, die beide Sprachen – und beide Kulturen – kennen.
Liebe Kollegin Silke Pfeiffer,
Ihr schöner Artikel enthält leider einen sachlichen Fehler: Richard Moerings Übersetzung ist 1959 nicht in der DDR erschienen, sondern bei Henry Goverts in Stuttgart (es gab auch in den 50er Jahren ab und zu mutige Verleger). In der DDR, bei Aufbau, ist dann 1976 eine Lizenzausgabe erschienen, s. Kindlers Literaturlexikon und Katalog der DNB.
Mit freundlichen Grüßen
Burkhart Kroeber