Mit dem Anspruch der ‚Treue‘ sehen sich Übersetzer stets aufs Neue konfrontiert. Erscheint es doch jedem auf den ersten Blick schlüssig, dass eine ‚getreue‘ Wiedergabe des Ausgangstextes erstrebenswert sei, und hierunter wird traditionell eine wörtliche Übersetzung verstanden. Steigt man jedoch tiefer und detaillierter in die Materie ein, wird dieser Begriff der Treue problematisch, da bereits die Maßgabe der Wörtlichkeit die tatsächliche Verschiedenheit von Sprachen ignoriert. Gerade hinsichtlich literarischer Texte kann der Begriff der Treue nur dann Gültigkeit besitzen, wenn er die Hermeneutik einschließt: Treu wäre der Übesetzer dann einer Lesart und einer Interpretation des Textes. Bei Valery Larbaud finden wir hierzu interessante – und erstaunlich aktuelle – Einsichten.
Valery Larbaud (1881-1957) war ein reisender Dandy, literarischer Weltbürger, konvertierter Katholik und überzeugter Europäer. Sein literarisches Schreiben umfasst die Genres Prosa, Lyrik, Essay und Übersetzung. In seinem Buch Sous l’invocation de Saint Jérôme (1946) widmet sich Larbaud, ausgehend von der Figur des Heiligen Hieronymus (der als Bibelübersetzer und Urheber der Vulgata zum Schutzpatron der Übersetzer wurde), verschiedenen Aspekten des Übersetzens und vertritt dabei einen dezidiert hermeneutischen Ansatz, welcher vom Verstehen der Vorlage ausgeht. Bereits in Hieronymus‘ berühmtem Brief über das Übersetzen De Optimo Genere Interpretandi werde das Übersetzen als hermeneutisches Verfahren präsentiert, solle doch der Übersetzer „rendre plutôt le sens que les mots des textes“ („eher den Sinn denn die Wörter des Textes wiedergeben“, Larbaud 1997:46).[1] Larbauds Textverständnis ist modern, er vertraut nicht auf einen eindeutig bestimmbaren Sinn sprachlicher Äußerungen. Die Moderne stellt etablierte Vorannahmen in Frage, wie z.B. jegliche phänomenologische Kohärenz von Welt und in diesem Sinne auch die Autoritäten von Original und Autor. Somit werden Texte als vielstimmig, als im steten Wandel befindlich verstanden und Übersetzungen als dem so genannten Original gleichberechtigte Versionen, wobei alle Texte letztendlich Bruchstücke eines sich stets erweiternden Textkosmos’ sind. Larbauds Zeitgenosse Walter Benjamin mit seinem berühmten Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ aus dem Jahr 1923 liegt hier nicht fern.
Bereits im Jahr 1913 publiziert Larbaud einen kleinen Aufsatz mit dem Titel „De la traduction“ („Vom Übersetzen“), in dem er das Übersetzen als individuelle Interpretationsleistung darstellt. Schon in diesem frühen Text überrascht ein unkonventionelles, die spätere Intertextualitätsdebatte vorwegnehmendes Textverständnis, das sich jenseits der Chronologie klassischer Literaturgeschichtsschreibung behauptet. So sei etwa für ihn Vergil nicht ohne Rimbaud verständlich: „Il faut que je m’instruise en dépit de l’ignorance de mes professeurs et de la sottise des règlements universitaires. Illettrés, qui voulez que j’entende Virgile et qui me confisquez ce Rimbaud!“ („Ich muss mich ungeachtet der Ignoranz meiner Professoren und der Dummheiten der universitären Regeln weiterbilden. Banausen, die ihr von mir verlangt, Vergil zu verstehen, mir aber Rimbaud verbietet!“, Larbaud 1992:233).
Dieses moderne, Hierarchien und Traditionen durchkreuzende Textverständnis findet seinen Niederschlag insbesondere in Larbauds aus verschiedenen Genres (Erzählung, Lyrik, fiktive Autobiographie) bestehendem, bedeutendsten literarischen Werk A. O. Barnabooth. Ses œuvres complètes c’est-à-dire un conte, ses poésies, et son journal intime[2] (1908). Denn die lyrischen Werke des Protagonisten Barnabooth (eines Alter Egos des Autors), genannt „Poèmes par un riche amateur“, werden in einem fiktiven Artikel, den der ebenso fiktive Herausgeber Xavier Maxence Tournier de Zambre in seinem fiktiven Vorwort zitiert, als unmarkierte Übersetzungen aus verschiedensten Sprachen, insbesondere aus dem lateinamerikanischen Spanisch, enthüllt. Der fiktive Autor Barnabooth nimmt dies hingegen nicht als Kritik an: Die seine Plagiate auflistende Tabelle, in der angeblich die Übernahme aus Werken von 300 Autoren nachgewiesen wird, vergleicht er seinem Herausgeber gegenüber mit einer Urinanalyse. Tatsächlich ist für Barnabooth das Plagiat keineswegs anrüchig, was vor dem Hintergrund einer sich als modern verstehenden Konzeption von Text und Übersetzung nachvollziehbar ist. So wird auch George Steiner in After Babel schreiben: „Zwei Aussagen, die zeitlich aufeinanderfolgen, sind niemals vollkommen identisch“. Für Larbaud stellt denn auch das Übersetzen eine Aneignung, sprich Inbesitznahme dar, dem Plagiat nicht unähnlich:
Car, traduire un ouvrage qui nous a plu, c’est pénétrer en lui plus profondément que nous ne pouvons le faire par la simple lecture, c’est le posséder plus complètement, c’est en quelque sorte nous l’appropier. Or, c’est à cela que nous tendons toujours, plagiaires que nous sommes tous, à l’origine.
(Ein Werk zu übersetzen, das uns gefällt, bedeutet nämlich, tiefer darin einzudringen, als es uns durch die einfache Lektüre gelingen mag, bedeutet, es vollständiger zu besitzen, es uns in gewisser Hinsicht anzueignen. Danach streben wir folglich immer, sind wir doch alle ursprünglich Plagiatoren. Larbaud 1997:69)
Zudem nimmt er durch den Vergleich mit einer Urinanalyse eine sarkastische Kritik an rein quantitativen, quasi naturwissenschaftlichen Methoden der Bewertung von Literatur und Übersetzung vor. So kann Barnabooth seinen Kritiker mit dessen eigenen Mitteln schlagen, sei es doch gar nicht möglich, ihm 16.034 imitierte Verse nachzuweisen, wo sein lyrisches Werk doch lediglich 12.500 Verse umfasse.
Ein solcher Blick auf den Status von Texten wirft seine Schatten voraus auf eine poststrukturalistische Text- und Übersetzungsphilosophie, die den Endgültigkeitsstatus von Originaltexten untergräbt. So vertritt Paul de Man mit Bezug auf Walter Benjamins Übersetzeraufsatz die Ansicht: „[…] the original […] cannot be definitive since it can be translated.“
Dieses Verständnis von Text als offenes Geflecht potentiell unendlicher Bezüge verweist darauf, dass Larbaud Texte nicht als unveränderbare, autoritative Originale ansieht. Dies basiert auf seiner Annahme, schon die Sprache selbst befinde sich in stetem Wandel, er spricht von „l’instabilité et du caractère essentiellement passager des langues“ („Instabilität und dem grundsätzlich vorübergehenden Charakter der Sprachen“, Larbaud 1997:110). Folglich stellen für ihn Texte auch keine starren Gebilde dar: „L’immobilité du texte imprimé est une illusion d’optique“ („die Unbeweglichkeit eines gedruckten Textes ist eine optische Täuschung“, 1997:78).
Wenn nun Sprache und Text sich in stetem Wandel befinden und das Geflecht intertextueller Bezüge auch auf persönlichen Lektüreerfahrungen beruht, so kann das Textverstehen nur eine individuelle Momentaufnahme sein. Der hermeneutische Prozess wäre somit, wie es George Steiner noch dezidierter darstellen wird, ein inflationärer, nie endender, der stets neue Interpretationsmöglichkeiten hervorbringt, die auch nicht zwangsläufig mit einer wie auch immer zu eruierenden ‚Autorintention‘ übereinstimmen müssen. Larbauds eigenes Plädoyer für die Übersetzung als individuelle Interpretation könnte eindeutiger nicht sein: „Ma traduction ne veut être qu’interprétation personnelle. C’est ma traduction, non celle d’un autre, que je vous offre“ („Meine Übersetzung will nichts anderes sein als persönliche Interpretation. Es ist meine Übersetzung, nicht die eines anderen, die ich euch anbiete.“ 1997:234).
Larbaud gesteht dem Übersetzer ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Autorität zu, etwa das Recht, Wörter zu ersetzen oder sogar Passagen auszulassen. Dazu bezieht er sich auf Aussagen Joseph de Maistres, der sich zu Pierre Costes Übersetzung von John Lockes Essay concerning human understanding (Versuch über den menschlichen Verstand) äußert. Dieser hält es für schlüssig, dass Coste Caius durch Titius oder auch Nüsse durch Aprikosen ersetzt, da es für den Zielkontext passender sei. Selbst die Auslassung einer längeren Passage erscheint ihm legitim, wenn der Übersetzer diese als für den Text überflüssig und unnütz erachte. Über solcherlei – gewiss auch provokant gemeinte – Äußerungen kann man geteilter Meinung sein, auch wäre der Kontext hier genauer zu betrachten. Von Bedeutung ist hier jedoch, dass nach Larbaud der Übersetzer eben nicht höriger Diener des Autors sein soll, nicht „fidèle jusqu’à l’anéantissement de sa propre personnalité intellectuelle“ („treu bis zur Aufgabe der eigenen intellektuellen Persönlichkeit“, 1997:9). Dementsprechend könne eine Übersetzung nicht gelingen, wenn man sich Text und Autor gegenüber verhalte, „comme un esclave, attentif aux gestes de son maître“ („wie ein Sklave, jeder Geste seines Herrn folgsam“, 1997:63).
Sklavische, wörtliche Übersetzungen können nach Larbaud nicht gelingen, da sie den literarischen Sinn eines Textes, der hauptsächlich in seiner Poetik bestehe, nicht zu erschließen vermögen. So kritisiert de Sanctis die Vergil-Übersetzung Leopardis mit folgender Aussage: „cet italien n’est pas autre chose que la lettre toute nue du texte latin, et il ne fait naître ni ces images, ni ces harmonies, ni ces sentiments“ („dieses Italienisch ist nichts anderes als die nackte Wortfolge des lateinischen Textes, und er erweckt weder dessen Bilder noch dessen Harmonien oder Gefühle zum Leben“, Larbaud 1997:63). In seinem Hieronymus-Buch spricht er sich denn auch explizit aus gegen „le mot à mot insipide et infidèle à force de servile fidélité“ („das fade Wort zu Wort, diese sich in Untreue wandelnde untertänige Treue“, 1997:58).
Letzten Endes stellt für Larbaud das Übersetzen das Resultat einer Liebeserinnerung mit dem zu übersetzenden Text dar:
C’est l’enthousiasme d’une lecture, que je vous apporte; c’est une aventure, une conversation avec un géant, les amours d’un explorateur avec la fille d’un roi sauvage. J’ai vécu six mois de délices avec ce poème, et voici ce que j’en rapporte. C’est un souvenir d’amour, et peut-être bien que, pour cette raison précisément, il n’a de valeur que pour moi.
(Was ich Euch bringe, ist begeisterte Lektüre; es ist ein Abenteuer, ein Austausch mit einem Riesen, die Liebschaft eines Forschers mit der Tochter eines wilden Herrschers. Sechs Monate lang habe ich mit den Wonnen dieses Gedichts gelebt, und dies vermittle ich euch davon. Es ist eine Liebeserinnerung und hat genau aus diesem Grunde womöglich allein für mich einen Wert. Larbaud 1992:234)
Übersetzen kommt für Larbaud demnach der Liebe gleich, erhaben jedoch über den moralischen Anspruch der Treue.
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Larbaud, Valery (1992, 11913): „De la traduction“, in: L’Herne: Valery Larbaud, Paris: Editions de L’Herne, S. 232-235 (1L’Effort libre, November 1913, S. 90-99)
Ders. (1997, 11946): Sous l’invocation de Saint Jérôme, Paris: Gallimard
[1] Das Hieronymus-Buch Larbauds ist bislang nur in Auszügen in deutscher Übersetzung erschienen. Die hier zitierten Stellen wurden von der Verfasserin übersetzt.
[2] Wörtlich auf Deutsch: A. O. Barnabooth: Seine gesammmelten Werke, sprich eine Erzählung, seine Lyrik und sein persönliches Tagebuch, erschienen auf Deutsch zunächst 1962 in der Übersetzung von Georg Goyert bei dtv unter dem Titel A. O. Barnabooth: Tagebuch eines Milliardärs, 1986 mit Angabe des gleichen Übersetzers dann als Sämtliche Werke des A. O. Barnabooth bei Ullstein.