„Warum übersetzen die Menschen? Das ist die Sehnsucht nach etwas, was sich immer wieder entzieht, nach dem unerreichten Original; nach dem Letzten und dem Eigentlichen.“ Swetlana Geier wusste, wovon sie sprach. Über fünfzig Jahre lang übertrug sie russische Literatur ins Deutsche, darunter waren auch die fünf großen Romane Fjodor M. Dostojewskijs – die sogenannten ‚5 Elefanten‘: Verbrechen und Strafe, Der Idiot, Die bösen Geister, Der grüne Junge, Die Brüder Karamasow. Während der Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm arbeitete sie an dem Elefantenkälbchen Der Spieler. Das Übersetzen war für sie eine Lebensform. Seit frühester Kindheit lebte sie zwischen den Sprachen, dem Russischen und dem Deutschen, lebte sie mit den beiden Nationen. „Wo ich bin, ist Russland“, verkündete Swetlana Geier, die sich nach ihrer Ausreise aus der damaligen Sowjetunion in Freiburg niederließ, in einem Interview mit dem Spiegel.[1] Im Jahr 2007 kehrte sie gemeinsam mit ihrer Enkeltochter Anna erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg an die Orte ihrer Kindheit und Jugend zurück. Der Regisseur Vadim Jendreyko hat sie auf dieser Reise mit der Kamera begleitet.
Swetlana Geier wurde 1923 im damals sowjetischen Kiew geboren. Ihr Schicksal ist eng mit der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft. Am eigenen Leib erfährt sie als Jugendliche die Gräuel zweier Diktaturen: Im Alter von 16 Jahren verliert Swetlana Geier ihren Vater, der im Zuge der politischen Säuberungsaktionen Stalins 1938 verhaftet wurde und kurz darauf an den Folgen der Haft starb. Nur zwei Jahre später wird ihre Jugendfreundin Neta gemeinsam mit mehr als 33.000 anderen Juden in der Schlucht Babyn Jar vor den Toren Kiews von der Wehrmacht ermordet. Trotz dieser Schicksalsschläge setzt Swetlana Geier sich mit ihrer Arbeit als Dolmetscherin während der deutschen Besatzung für eine Verständigung der beiden kriegführenden Völker ein. „Ich glaube, dass jede geistige Erfahrung dazu beiträgt, dass man sich besser behandelt und nicht unbedingt totschlägt. Ganz elementar. Und ich glaube, dass die Sprache ein sehr wirksames Mittel ist.“
1943 geht Swetlana dann gemeinsam mit ihrer Mutter nach Deutschland. Hier erhält sie ein Stipendium und studiert nach dem Krieg in Freiburg Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft. Ende der 1950er Jahre beginnt ihre Laufbahn als Übersetzerin russischer Literatur – mit einer ihr eigenen Technik: Sie diktiert ihre Übersetzungen. Diese Art zu übersetzen ist natürlich weit zuschauerfreundlicher als das stille Nachsinnen ihrer ÜbersetzerkollegInnen, und es ist ein Genuss, diesem Ritual in Die Frau mit den 5 Elefanten beizuwohnen: Jeden Morgen bekommt Swetlana Geier Besuch von Frau Hagen. Sobald die beiden sich eine zweite Tasse Tee eingeschenkt haben, beginnen sie mit der Arbeit an der Übersetzung. Swetlana Geier hält das russische Original auf ihrem Schoß, überlegt eine Weile und beginnt dann, die Übersetzung zu diktieren. Darauf hat Frau Hagen, die ihr gegenübersitzt, nur gewartet. Hastig fliegen ihre Finger über die Tasten der alten Schreibmaschine, deren Klappern Swetlana Geiers zarte Stimme ab und an übertönt. Nachdem auf diese Weise eine erste Fassung der Übersetzung entstanden ist, bekommt Swetlana Geier ein weiteres Mal Besuch. Diesmal von Herrn Klodt, einem befreundeten Musiker, der ihr das Manuskript vorliest und strittige Stellen bespricht – dabei jedoch oftmals den Kürzeren zieht.
Auf diese spezielle Übersetzungsweise angesprochen, sagte Swetlana Geier: „Die Sprache ist nicht vom Papier abhängig. Die Sprache lebt in der Luft, und die Sprache lebt von der Luft.“ Diese Sinnlichkeit und Wertschätzung der Sprache gemeinsam mit ihrem Leitspruch „Nase hoch beim Übersetzen!“ haben aus Swetlana Geier eine anerkannte und vielfach ausgezeichnete Literaturübersetzerin gemacht.
Für Die Frau mit den 5 Elefanten musste auch Regisseur Vadim Jendreyko sich in der Kunst des Übersetzens üben, in der „Kunst der Unsichtbarkeit“, wie Swetlana Geier ihr Übersetzerinnendasein charakterisierte. Denn zu Anfang war sie gar nicht angetan von dem Gedanken, auf Schritt und Tritt von einer Kamera begleitet zu werden. Dem fertigen Film ist von diesem anfänglichen Argwohn nichts mehr anzumerken. Die Bilder sind ungekünstelt und vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, ein Teil der lebhaften Familie Geier zu sein. So verzichtet Jendreyko weitestgehend auf Audiokommentare und gefühlsduselige Musik und lässt somit die natürlichen Geräusche stärker in den Vordergrund treten. Etwa das Rascheln der Buchseiten beim Umblättern, das Zischen des heißen Bügeleisens oder das Ächzen des Schnees unter Swetlanas Schritten am Grab ihres Vaters. Hier gelingt Jendreyko die Übersetzung von Swetlana Geiers sinnlichem Umgang mit Sprache in eine sinnliche Bildsprache. Er verwendet eine ruhige Kamera, die mehr als schweigsamer Begleiter der zierlichen Frau mit den schneeweißen Haaren fungiert denn als ihr heimlicher Beobachter. Objekt und Objektiv harmonieren aufs Großartigste und respektieren einander in lebhaften, nachdenklichen und auch in traurigen Momenten, wenn Swetlana Geier etwa vom Unfalltod ihres Sohnes erzählt, dem der Film gewidmet ist.
Die Frau mit den 5 Elefanten ist ein behutsam inszenierter Dokumentarfilm über ihren Lebensweg, ihre Lebens- und Übersetzungsphilosophie – denn das war bei Swetlana Geier nie zu trennen –, die Lebensklugheit einer außergewöhnlichen Dame und ihrer ersten und letzten Reise in ihre Vergangenheit. Swetlana Geier starb Anfang November 2010 im Alter von 87 Jahren in ihrem Haus in Freiburg.
Vadim Jendreyko: Die Frau mit den 5 Elefanten, Schweiz 2010, 93 Min., 14,95 €
Trailer: http://www.5elefanten.ch/Trailer
Swetlana Geier wurde 1923 in Kiew geboren. Seit 1957 übertrug sie russische Literatur (u.a. Puschkin, Gogol, Tolstoi) ins Deutsche, daneben unterrichtete sie als Lektorin für Russisch an den Universitäten Karlsruhe und Freiburg. Anfang der 1990er Jahre begann ihre Zusammenarbeit mit dem Verleger Egon Ammann, für den sie die fünf großen Werke Dostojewskijs – die sogenannten ‚fünf Elefanten‘ – neu übersetzte. Für ihre herausragenden Verdienste um die Vermittlung russischer Kultur, Geschichte und Literatur erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Preis der Leipziger Buchmesse 2007.
Vadim Jendreyko wurde 1965 in Bremen geboren. Nach einem kurzen Zwischenspiel an der Düsseldorfer Kunstakademie arbeitete er als Regisseur von Dokumentarfilmen für das deutsche, schweizerische und österreichische Fernsehen sowie als Gastdozent an der Ecole d’Art de Lausanne. Im Jahre 2002 gründete er gemeinsam mit einem Kollegen die Mira Film GmbH. Sein jüngstes Werk, der Kino-Dokumentarfilm Die Frau mit den 5 Elefanten, lief erfolgreich bei mehreren internationalen Filmfestivals und gewann 2010 u.a. den Schweizer Filmpreis Quartz für den Besten Dokumentarfilm. Die DVD ist seit Oktober 2010 im Handel erhältlich.
Silke Pfeiffer studiert seit 2006 Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit den Sprachen Englisch und Französisch.
[1] Dieses und alle weiteren Zitate entstammen dem folgenden Artikel: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70228808.html