In David Foster Wallace’ Roman Infinite Jest gibt es eine Figur namens Rémy Marathe, die Mitglied der Assassins des Fauteuils Rollents ist, einer Québecer Terroristengruppe in Rollstühlen. Dieser Marathe sitzt eines Abends in einer Bostoner Kneipe und erzählt seiner Nachbarin am Tresen im Geständniswahn zunehmender Alkoholisiertheit Episoden aus seiner Kindheit, die seine Tarnidentität mehr und mehr durchlöchern. Der Frankokanadier Marathe gibt nämlich vor, aus der französischen Schweiz zu stammen, aber in seiner Erzählung verschwimmen die Unterschiede zwischen dem Québec des Romans und der Schweiz der Realgeschichte:
[M]y Swiss nation, we are a strong people but not strong as a nation, surrounded by strong nations. There is much hatred of our neighbors, and unfairness. […] I have no chances now for jobs in the mines of Switzerland. […] [We have] much beautiful territory, which the stronger nations at the time of losing my legs committed paper atrocities to my nation’s land. […] It is a long story to the side of this story, but my part of the Swiss nation is in my time of no legs invaded and despoiled by stronger and evil hated and neighboring nations, who claim as in the Anschluss of Hitler that they are friends and are not invading the Swiss but conferring on us gifts of alliance.[1]
Marathe redet hier offenkundig über seine kanadische Heimatprovinz, die im Zuge der sogenannten ‚kontinentalen Umgestaltung‘ in der Nahzukunft des Romans und dem daraus hervorgehenden Staatenbund zwischen den USA, Kanada und Mexiko ihre Souveränität verloren hat. Durch die zunehmend abbröckelnde Fassade der Schweizer Herkunft schimmert immer deutlicher die Québecer Heimat durch (so wie Marathes Englisch zunehmend von französischen, genauer frankokanadischen Elementen durchsetzt wird).
Hier sehe ich eine Analogie zu meinem Beruf als Übersetzer. In den letzten hundertfünfzig Jahren haben die Ansprüche an das literarische Übersetzen in Deutschland bekanntlich grundlegende Veränderungen erfahren. Wir fordern nicht mehr wie Friedrich Schleiermacher, dass die Übersetzung „zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen“[2], also auf das Original und seine Kultur zubewegt werde, sondern ganz im Gegenteil: Anschließend an Martin Luther[3] verlagern wir das Original möglichst weit in den deutschen Kulturkreis. Auf diesem Weg möchte ich noch weiter gehen. So wie bei Marathe in der Schilderung seiner angeblichen Heimat immer mehr Elemente seiner wahren Herkunft auftauchen, so möchte ich mehr deutsche Sprache und deutsche Literatur in meinen Übersetzungen aus dem Englischen aufbewahren, so paradox das zunächst auch klingen mag.
Ein Beispiel: In der Filmographie des Avantgarderegisseurs James Incandenza wird in Infinite Jest ein wissenschaftlicher Aufsatz zitiert, der den Titel Beholden to Vision[4] trägt, also etwa ‚Aufs Sehen verpflichtet‘ oder ‚Dem Sehen verbunden‘. Das habe ich aber nicht geschrieben, sondern Lynkeus den Türmer aus Goethes Faust II zitiert, dessen Lied bekanntlich mit den Versen beginnt:
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.[5]
„Beholden to Vision“ durch „Zum Schauen bestellt“[6] zu übersetzen, ist von Wallace’ Wortlaut gedeckt. Ich habe die Formulierung nicht einmal sonderlich frei übersetzt und könnte mir vorstellen, dass in irgendeiner englischen Übersetzung des Faust Lynkeus’ „Zum Schauen bestellt“ durch „Beholden to Vision“ übersetzt worden ist. Auch wenn dem aber nicht so sein sollte, gewinnt die Übersetzung meiner Meinung nach einen ästhetischen Mehrwert. Durch eingeschmuggelte Zitate wie dieses wird sie für den gebildeten Leser zu einer Echokammer der deutschen Literatur. Mitklingende Texte früherer Zeiten geben ihr historische Tiefenschärfe.
Ulrich Blumenbach, geb. 1964 in Hannover, hat Anglistik und Germanistik in Münster, Sheffield und Berlin studiert, arbeitet seit 1993 als literarischer Übersetzer aus dem Englischen und Amerikanischen und hat Romane, Essays und Erzählungen von Paul Beatty, Agatha Christie, Giles Foden, Stephen Fry, Arthur Miller und David Foster Wallace ins Deutsche gebracht. Gegenwärtig arbeitet er an der Übersetzung von Jack Kerouacs Roman On the Road.
David Foster Wallace wurde 1962 in Ithaca/New York geboren. Er strebte zunächst eine Karriere als Tennisprofi an, bevor er sich dann doch zum Studium der Philosophie und Literatur entschloss. Später lehrte er als Professor für Creative Writing am Pomona College in Claremont/Kalifornien und schrieb selbst Romane, Erzählungen und Essays, als sein Opus Magnum gilt der Roman Infinite Jest (dt. Unendlicher Spaß). Bis zu seinem Freitod im September 2008 galt Foster Wallace als das größte Talent der amerikanischen Literatur.
[1]David Foster Wallace, Infinite Jest, New York u. a.: Little, Brown & Company 1996, S. 776f.
[2]Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 38-70 in: Hans Joachim Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, S. 55.
[3]„[M]an muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden […], sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.“ Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen (1530), 14-32 in: Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, a.a.O., S. 21.
[4] Wallace, Infinite Jest, a.a.O., S. 993.
[5] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil (1832), in: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, München: C.H. Beck 1981, Bd. 3, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, S. 340.
[6] David Foster Wallace, Unendlicher Spaß, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 1426.