Schon 1995, anlässlich eines Kolloquiums zum Thema Literaturimport und Literaturkritik in Düsseldorf, berief sich die Übersetzerin Irène Kuhn auf ihren französischen Kollegen Antoine Berman, indem sie ihrem Beitrag ein Zitat aus seinem letzten, postum erschienenen Werk Pour une critique des traductions: John Donne[1] voranstellte:
Wenn Kritik folgendes bedeutet: strenge Analyse einer Übersetzung, Analyse ihrer Grundzüge, des Übersetzungsprojekts, aus dem sie hervorgegangen ist, Analyse des Horizonts, an dem sie aufgetaucht ist, Eingehen auf die Position des Übersetzers; wenn also Kritik grundsätzlich darauf abzielt, die innere Wahrheit einer jeden Übersetzung herauszuarbeiten, dann muß man zugeben, daß die Übersetzungskritik über ihre Anfänge noch nicht hinweggekommen ist.[2]
Sie fühlte sich von dieser Einschätzung Bermans wohl auch deshalb unmittelbar angesprochen, weil ihre eigenen Erfahrungen als Übersetzerin in die gleiche Richtung wiesen:
In all diesen Jahren, bei all den sehr verschiedenen Titeln – viele Romane, aber auch Sachbücher, Essays, Theaterstücke, Kunstkritik, Kinderliteratur – ist mir noch nie von Seiten der offiziellen Kritik ein einziges ernst zu nehmendes Wort über das Geleistete gesagt worden, ein Wort der Beachtung, sei es lobend oder tadelnd, geschweige denn ein Wort der Würdigung. Damit meine ich durchaus Konkretes: Antworten auf Fragen, die ich mir selbst stelle, die ich aus mangelnder Distanz zur Sache nicht zu beantworten vermag. Ist es mir etwa gelungen, die Übersetzung in ein „reines Deutsch“ zu bringen, ein dem Original angemessenes? Gibt es Stellen, die noch „übersetzt“ wirken, ungelöst? Hat mein Ohr den Grundton, den Sprachgestus des Originals gehört und ist er wenigstens annähernd in meinen Text eingegangen? Was ist gut geworden, was ist mißglückt?[3]
Dieses Bedürfnis nach einer positiven Kritik, die dem Leser die Leistung des Übersetzers bewusst macht und diesem damit die Achtung einer breiteren Öffentlichkeit verschafft, mag für Irène Kuhn Anlass dazu gewesen sein, die Überlegungen zur Übersetzungskritik Antoine Bermans im deutschen Sprachraum vorzustellen und zugänglich zu machen. Dazu hat sie ihnen eine eigene Untersuchung gewidmet und die Übersetzung eines Teils von Bermans Pour une critique des traductions hinzugefügt. Ihr Buch ist 2007 bei Narr unter dem Titel Antoine Bermans „produktive“ Übersetzungskritik erschienen. In der Einleitung spricht sie von ihrer Erfahrung als Dozentin an französischen Universitäten: Bis vor wenigen Jahren galten dort Übersetzungen und ihre theoretische Untersuchung als pseudowissenschaftlich, nicht würdig, in eine Publikationsliste aufgenommen zu werden. Der Übersetzungskritik im akademischen Bereich volle Anerkennung zu verschaffen, ist also möglicherweise ein weiteres Ziel des Buchs.
Das Werk gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil stellt Kuhn Bermans Entwicklung als Übersetzer und Übersetzungstheoretiker dar. Den zweiten Teil ihres Werks bildet die deutsche Übersetzung des theoretischen Teils von Bermans Critique. Den praktischen Teil des Buchs, in dem Berman seine zuvor dargestellte Methode der Übersetzungskritik auf zwei französische und eine spanische Übersetzung eines Gedichts von John Donne anwendet, übersetzt Kuhn nicht. Zur Begründung schreibt sie: „Einen deutschen Kommentar zu französischen Übersetzungen (bzw. einer spanischen) eines englischen Originaltextes anzubieten, wäre im Rahmen dieser Publikation nicht sehr überzeugend und wenig relevant.“ (S. 53) Stattdessen erprobt sie im dritten Teil ihres Buches diese Methode anhand von vier deutschen Übertragungen von Baudelaires Gedicht Les petites vieilles.
Antoine Berman (1942–1991) hat aus dem Englischen, Spanischen und Deutschen ins Französische übersetzt und als Dozent für Übersetzen an verschiedenen staatlichen Institutionen in Frankreich gearbeitet. Seine Lehrtätigkeit wurde immer von theoretischer Reflexion begleitet, die zu zahlreichen Publikationen führte. Laut Kuhn sind vier Schwerpunkte in seinem Denken auszumachen: die Ausarbeitung des Begriffs der traductologie, der erkenntnistheoretische Ansatz, Übersetzungsanalyse und Übersetzungsvergleich und schließlich die traductique, das computergestützte Übersetzen. Berman versucht, der traductologie, dem französischen Begriff für Übersetzungswissenschaft, neben der Bedeutung einer objektiven und theoretischen Wissenschaft eine Wendung ins Essayistische und Spekulative zu geben. Er will den Weg bahnen für einen neuen „Forschungs- und Reflexionsbereich“ (S. 23), aber nicht unbedingt für eine neue Wissenschaft. Zur Darstellung von Bermans Gedanken zitiert Kuhn ausführlich aus dessen Veröffentlichungen und dem unveröffentlichten Resümee einer von ihm geplanten Habilitationsschrift. Dabei übersetzt sie alle Zitate ins Deutsche und ermöglicht dem Leser den Vergleich mit den Originalstellen in Fußnoten.
In einem eigenen Kapitel beschreibt Irène Kuhn den Einfluss, den die deutsche Romantik auf das Denken Bermans ausgeübt hat. Für die deutsche Romantik bedeutet Bildung das Verlassen des eigenen Ich, um das Fremde in Erfahrung zu bringen, sowie die anschließende Rückkehr zu sich selbst. Die Übersetzung fremder Werke gehört wesentlich zu diesem Bildungsbegriff, und so ist die deutsche Romantik ein Zeitalter großer Übersetzungen, wovon Schlegels Shakespeare oder Tiecks Cervantes Zeugnis ablegen. In seinem Essay L’épreuve de l’étranger [4] untersucht Berman eingehend die Positionen Goethes, Schleiermachers, Humboldts und Hölderlins zum Übersetzen. Dabei stößt er auf einen Aspekt der Romantik, der den des Übersetzens teilweise überlagert, und zwar die neue Rolle der Literaturkritik. Sie soll nicht mehr nur „polemisch“ sein, sondern den künstlerischen Gehalt eines Werkes herausarbeiten. Und mehr noch, sie soll einer neuen Literatur den Weg bahnen, die Literatur soll selbstkritisch und die Kritik poetisch werden. Von diesem „positiven“ Begriff lässt sich Berman beim Entwurf seiner konstruktiven Übersetzungskritik leiten.
Die Übersetzung des theoretischen Teils von Bermans Pour une critique des traductions: John Donne bildet den zweiten Teil des Buchs von Irène Kuhn. Darin beschreibt Berman eine Methode der Übersetzungskritik in sechs Schritten. Er versteht seinen Ansatz als hermeneutisch, was zur Konsequenz hat, dass er seine Aufmerksamkeit einerseits auf das literarische Umfeld von Original und Übersetzung, andererseits auf den Übersetzer selbst richtet. So versucht er, Horizont und Position des Übersetzers zu bestimmen sowie sein eingangs erwähntes „Übersetzungsprojekt“. Zusammen mit der genauen Textanalyse von Original und Übersetzung und ihrer Gegenüberstellung führt dies zu einer Methode der Übersetzungskritik in sechs Schritten. Sie ist in dieser Zeitschrift bereits an anderer Stelle umrissen worden[5], weshalb sie hier nicht noch einmal dargestellt werden soll.
Kuhn überträgt nicht nur den Haupttext, sondern auch die zahlreichen Fußnoten des Originals. Deutschsprachige Zitate finden sich bei Berman nur in französischer Übersetzung. Kuhn hat die manchmal recht verborgenen Quellen ausfindig gemacht und gibt in eigenen Fußnoten die Stellen im Original wieder. Sie macht zusätzliche Literaturangaben zur deutschen Übersetzungskritik. Sie übersetzt (ebenfalls in einer Fußnote) eine längere Passage aus Bermans L’épreuve de l’étranger, auf die dieser nur durch Angabe der Seitenzahl verweist. Alle diese Einfügungen zeugen von hohem Respekt für den Autor und sind für den Leser sehr hilfreich. Aber Kuhn beschränkt sich nicht auf eine „dienende“ Funktion als Übersetzerin. Unter die von Berman stammende Überschrift setzt sie ein Goethe- und ein Hölderlinzitat, die sich nicht bei Berman finden. In ihren Fußnoten tritt sie in die Diskussion mit dem Autor ein, etwa über den Begriff der „Wahrheit“ oder den des „Modells“. Und zu Beginn gewährt sie, zumindest teilweise, Einblick in ihr „Übersetzungsprojekt“ (um die Terminologie von Berman zu verwenden):
Des Weiteren habe ich in der hier vorliegenden Übersetzung versucht, Bermans zahlreiche Neologismen und wortspielhafte semantische Umprägungen, soweit sie im Deutschen verständlich sind, beizubehalten. Auch habe ich die typographischen Eigenheiten seines Textes übernommen (zahlreiche Kursiv-Markierungen und Anführungszeichen etwa), die im Wesentlichen eine rhetorische Funktion erfüllen. (S. 53)
Um den metaphorischen Gehalt eines von Berman verwendeten Wortes einzufangen, verwendet Kuhn an einigen Stellen zwei deutsche. So übersetzt sie „étayer le texte traduit“[6] mit „den übersetzten Text untermauern und absichern“. (S. 55)
Ein ähnliches Beispiel:
Laisser l’original, résister à la compulsion de comparaison, c’est là un point sur lequel on ne saurait trop insister. Car seule cette lecture de la traduction permet de pressentir si le texte traduit ‚tient‘.[7]
Die Übersetzung lautet:
Das Original unberührt liegen lassen, dem Zwang des Vergleichens widerstehen: darauf kann man nicht genug insistieren. Denn einzig und allein dieses Lesen der Übersetzung versetzt einen in die Lage vorauszuahnen, ob der übersetzte Text ‚steht‘, ob er ‚standhält‘. (S. 87)
Das Verb ‚standhalten‘ leistet auch im Zusammenhang mit dem Begriff der éthicité gute Dienste. In der Übersetzung lautet seine Definition: „Die ethische Komponente wiederum liegt in der Achtung, oder besser: in einer gewissen Achtung vor dem Original begründet.“ (S. 120) Berman führt dann aus: „Si la traduction respecte l’original, elle peut et doit même dialoguer avec lui, lui faire face, et lui tenir tête.“[8] Kuhn übersetzt: „Wenn die Übersetzung das Original achtet, kann und muss sie sich sogar mit ihm auf einen Dialog einlassen, ihm entgegentreten, ihm standhalten.“ (S. 121) Hier steht also „standhalten“ für „tenir tête“ und verdeutlicht einen Aspekt der éthicité bei Berman: ohne Selbstaufgabe dem Original gegenüberzutreten. Eigentlich klar wird der Begriff aber erst in den Beispielen, wenn Kuhn das Verhältnis der Übersetzer zum Autor beschreibt.
Folgt der Kritiker der Methode Bermans, so stehen vor dem Vergleich von Original und Übersetzung die Darstellung des literarischen Umfelds beider Werke und genaue Einzelanalysen. Mit ihrer Hilfe soll dann nicht der „Übersetzungsprozess“ wie ein deterministischer Ablauf hergeleitet, sondern die Entscheidungen des Übersetzers als handelndes Subjekt mit seinen Freiheiten und Beschränkungen herausgearbeitet werden. Entscheidungen lassen sich besser anhand von Alternativen darstellen, daher eignet sich die Methode besonders gut für Übersetzungsvergleiche. Der große mit ihr verbundene Aufwand erscheint nur dann angemessen, wenn zumindest das Original bereits als bedeutend anerkannt ist. So verfährt auch Irène Kuhn im dritten Teil ihres Buches. Sie wendet die bermansche Methode der Übersetzungskritik auf vier deutsche Übertragungen von Baudelaires langem Gedicht Les petites vieilles an. Sie begründet ihre Wahl mit dem für die Poetik der Moderne formal wie sprachlich exemplarischen Charakter des Gedichts. Sie ist selbst als Übersetzerin der Petits poèmes en prose hervorgetreten[9] und daher mit der Poetik Baudelaires bestens vertraut. Gegenstand ihrer Kritik sind die folgenden vier Übertragungen der Petites vieilles: die Stefan Georges aus dem Jahre 1901, die bis dato unveröffentlichte Übertragung von Max Bruns (1922), die Walter Benjamins, die zusammen mit seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers erschienen ist (1923) und eine Teilübertragung Bertolt Brechts, die 1938 entstanden ist und erst 1993 veröffentlicht wurde.
Von den umfangreichen Informationen und Einschätzungen, die Irène Kuhn zum Original und den Übersetzungen gibt, seien hier nur das grundlegende Verhältnis der Übersetzer zu Baudelaire und Kuhns abschließendes Urteil kurz zusammengefasst. An den drei Strophen der Übertragung von Brecht hebt sie positiv hervor, dass er auf ein klassisches Versmaß verzichtet hat. Diese „lockere Form“ ermögliche eine „moderne“ Lesart des ironischen, zeitkritischen Blicks Baudelaires (vgl. S. 146). Dementsprechend fällt ihr Urteil sehr günstig aus: „Im bermanschen Sinne könnte man also sagen, dass es sich wohl um eine besonders geglückte Übersetzung handelt… die allerdings als Ganzes – leider – nie zustande kam.“ (S. 146) Ein Grund dafür mag in dem von Kuhn dargestellten distanzierten Verhältnis Brechts zu Baudelaire liegen.
Max Bruns (1876–1945) war Verleger und Übersetzer. Im Rahmen einer deutschen Baudelaire-Gesamtausgabe des J.C.C. Bruns Verlags erschien 1923 eine Auswahl von fünfundsiebzig Gedichten der Fleurs du Mal. Die Übertragung Die kleinen Alten gehört aber zu zweiundzwanzig unveröffentlichten Gedichten, die Irène Kuhn im Kommunalarchiv der Stadt Minden eingesehen hat. Ohne sie beantworten zu können, wirft Kuhn die Frage auf, warum diese Gedichte „aussortiert“ wurden. Die Übertragung selbst schätzt sie als ein formal perfektes neo-klassizistisches Werk ein, das zwar in sich kohärent erscheine, aber bestenfalls als epigonal bezeichnet werden könne (vgl. S. 143). Zum ethischen und ästhetischen Gehalt schreibt sie:
Bruns scheint dieser poetischen Moderne [bei Baudelaire] verhältnismäßig fremd gegenüber zu stehen – zumindest ist seine Einstellung ihr gegenüber eine ambivalente, als wäre er gespalten zwischen Faszination und zurückhaltender Distanz gegenüber der Dekadenz des „poète maudit“, wobei der verfemte Dichter zugleich zum christlichen Märtyrer hochstilisiert und germanisiert wird. (S. 144f.)
Walter Benjamins theoretische Auseinandersetzung mit Baudelaire und der Ästhetik der Moderne sind in sein Passagenwerk eingegangen, seine Überlegungen zum Thema Übersetzung in den grundlegenden Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers. Seine eigentlichen Übersetzungen verlieren demgegenüber an Bedeutung. So schreibt Kuhn:
Der aufmerksame Leser seiner Baudelaire-Version kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als stünden der Philosoph und der Literaturkritiker stets im Vordergrund, als würden Baudelaires „Pariser Bilder“ zunächst einmal (und hauptsächlich) durch die wissenschaftliche, die historisch-soziologische Brille betrachtet. (S. 164)
An Benjamins Übertragung mit dem Titel Alte Frauen fallen Kuhn eine relativ große Zahl archaisierender Wendungen und einige schlichtweg unverständliche Passagen auf. Stilistisch verzeichnet sie einen unsystematischen Wechsel zwischen rhetorisch-emphatischer Überbetonung und salopper Ausdrucksweise. Insgesamt gelangt sie zu der Einschätzung: „Die Übersetzung ‚hält nicht (wirklich) stand‘“ (S. 183).
Stefan Georges Übertragung der Petites vieilles beurteilt Kuhn durchweg positiv:
Die wesentlichen Züge von Georges Version, die wir festhalten wollen, sind also der stark plastische Eindruck, der hohe ästhetische Anspruch, die überaus dichte Sprache (die „harten Fügungen“), die zahlreichen Neologismen sowie die sprachschöpferische Kraft. Das Ergebnis ist Einheit und Kohärenz. (S. 136)
In der Vorrede zu seiner Version von Les Fleurs du Mal, einer Auswahl von 116 Gedichten, bezeichnete sich George nicht als „Übersetzer“ sondern als „Umdichter“[10]. Was ihn zur Übertragung veranlasste, war nach der Einschätzung Kuhns weniger der Wunsch, eine deutsche Baudelaire-Rezeption in die Wege zu leiten, als die Selbstverwirklichung, das Bedürfnis, seinen schöpferischen Trieb umzusetzen. Dennoch handele es sich um eine lebendige Hommage an Charles Baudelaire. (S. 177)
Nach der Durchführung der Übersetzungskritik schreibt Kuhn zur Beurteilung der Methode:
Zunächst hat es sich als äußerst schwierig erwiesen, die verschiedenen Punkte des bermanschen Programms (Projekt, Horizont, Ethik, Ästhetik) immer streng voneinander zu trennen, denn letztlich bedingen und beleuchten sich all diese von ihm als entscheidend herausgestellten Faktoren gegenseitig. […] Dass die verschiedenen Aspekte getrennt in einer bestimmten Reihenfolge untersucht werden sollten, ist theoretisch von überzeugender Kohärenz; in der Praxis jedoch, so hat mich die Erfahrung gelehrt, ist diese Trennung kaum durchführbar (S. 190).
Diese Schwierigkeit bei der Durchführung seiner Methode stellt für Irène Kuhn aber keinen Widerspruch im Ansatz Bermans dar:
An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass ihm das Begriffspaar ‚Theorie und Praxis‘ stets dubios oder gar gefährlich erschien und dass sein Leitspruch lautete: ‚Aus der Erfahrung das Denken‘ – die Erneuerung des Denkens, die ‚Verjüngung‘ des Denkens. (S. 191)
Schon im ersten Teil ihres Buches hat sie eindeutig für die Übersetzungskritik Bermans Stellung bezogen:
Das Bemerkenswerte, Neue und Vielversprechende an Bermans Vorgehensweise ist die Tatsache, dass sie sich eben nicht damit begnügen will, Mängellisten zu erstellen, sondern darauf abzielt, so präzise wie möglich zu bestimmen, worin das Positive einer Übersetzung besteht. (S. 47)
Es ist daher nur konsequent, dass sie im dritten Teil diese Methode testet. Das Resultat ihrer Untersuchung verdankt sich aber keinesfalls nur der von Berman entworfenen Vorgehensweise, es beruht zum großen Teil auf der sorgfältigen Recherche, dem Kenntnisreichtum und dem literarischen Einfühlungsvermögen der Kritikerin. Es gelingt ihr zudem, den Begriff der éthicité, der bei Berman nicht sehr klar umrissen ist („eine gewisse Achtung vor dem Original“), mit Bedeutung zu füllen und seinen Gebrauch zu rechtfertigen. Ihre Bemerkungen zu den Schwierigkeiten der Methode können anderen Kritikern helfen, den von Berman vorgeschlagenen „Parcours“ – eventuell mit geeigneten Modifikationen – durchzustehen. Insgesamt ist das Buch eine Respektbezeugung an Berman und eine Erprobung und Erhärtung seines Denkens. Es eröffnet der Übersetzungskritik im deutschen Sprachraum neue Möglichkeiten.
Irène Kuhn: Antoine Bermans „produktive“ Übersetzungskritik. Entwurf und Erprobung einer Methode. Mit einer Übersetzung von Bermans Pour une Critique des traductions, Tübingen: Narr 2007, 214 Seiten, 39,90 €
Irène Kuhn, geboren 1947 in Straßburg, Dr. phil., Maître de conférences an der Universität Straßburg, übersetzt aus dem Französischen ins Deutsche und umgekehrt. Sie ist Herausgeberin der deutschen Ausgabe des Gesamtwerks von Eugène Ionesco und Mit-Übersetzerin der Dramen Kleists. Zudem ist sie Autorin eigener, zum Teil zweisprachiger Werke. Im August 2010 erscheint ihre Übersetzung der Erzählung Ich, der kleine Katholik von Pierre Kretz.
Rolf Pütter studierte Mathematik an der Universität Bonn. Nach Diplom und Promotion arbeitete er einige Jahre als Programmierer. 2002 schrieb er sich für den Studiengang Literaturübersetzen (Französisch, Italienisch) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein. Das Wintersemester 2005/06 verbrachte er in Straßburg. Er schloss das Diplom im September 2007 ab und arbeitet zurzeit bei einer Übersetzungsagentur.
[1] Antoine Berman, Pour une critique des traductions: John Donne, Paris: Gallimard 1995.
[2] Die Übersetzung stammt von Irène Kuhn. Sie findet sich in ihrem Aufsatz: „Der Übersetzer: Stiefkind der Kritik?“. In: Fritz Nies, Bernd Kortländer (Hg.): Literaturimport und Literaturkritik: das Beispiel Frankreich, Tübingen: Narr 1996, S. 68–76, hier S. 68. Das französische Originalzitat findet sich in: Antoine Berman, Critique, S. 13f. Hervorhebung im Original.
[3] Irène Kuhn, Der Übersetzer, S. 72.
[4] Antoine Berman, L’épreuve de l‘étranger, Paris : Gallimard 1984.
[5] Rolf Pütter, „Anwalt der Zweitgeborenen“. ReLü 5, www.relue-online.de/show.php?entrID=74.
[6] Berman, Critique, S. 36. Die Kursivierung findet sich im Original.
[7] Berman, Critique, S. 65.
[8] Berman, Critique, S. 92. Berman zitiert hier Jean-Yves Masson, „Territoire de Babel. Aphorismes“, in: Corps Écrits Nr. 36, Paris, PUF, 1990.
[9] Charles Baudelaire, Kleine Prosagedichte. Der Spleen von Paris. Französisch–Deutsch. Herausgegeben, übertragen und mit einem Nachwort versehen von Irène Kuhn. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000.
[10] Vgl. „Vorrede der 1. Ausgabe“. In: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, Berlin: Georg Bondi 1901.