Buchcover Übersetzungen erzählen andere Geschichten
Katrin Zuschlag über Poétique du récit traduit von Geneviève Roux-Faucard,

Der Titel Poétique du récit traduit verspricht viel, vielleicht zu viel. Beim Leser weckt er die Erwartung, mit dem 2008 bei Minard erschienenen Buch von Geneviève Roux-Faucard liege nun endlich die (bislang noch fehlende) Theorie der übersetzten Erzählung vor. Denn während man sich schon seit geraumer Zeit ausführlich mit der spezifischen Problematik von Bühnen- und Lyrikübersetzung auseinandersetzt, finden sich in der Tat nur sehr vereinzelt Überlegungen zum Zusammenspiel von Erzähltext und Übersetzung.[1]

Roux-Faucard umrahmt ihre Studie mit einem Zitat von Roland Barthes: „Innombrables sont les récits du monde.“ Damit stellt sie sich zum einen in die Tradition der strukturalistischen Erzählforschung im Frankreich der 1960er Jahre, auf die sie sich im Verlauf ihrer Argumentation immer wieder beruft, zum anderen benennt sie damit den Gegenstand ihrer Untersuchung, den récit, den sie in ihrer Einleitung als „tout texte racontant une histoire“ (S. 5) definiert. Erst die Übersetzung ins Deutsche offenbart die Schwäche dieser Definition, bei der Definiens und Definiendum letztlich identisch sind. Denn wenn man unter einer Erzählung jeden Text versteht, der eine Geschichte erzählt – was bedeutet dann ‚erzählen‘? Mit Stanzel scheint mir vielmehr die Mittelbarkeit, also das explizite oder implizite Vorhandensein einer Erzählerfigur, das entscheidende Gattungsmerkmal der Erzählung zu sein.[2] Nur sie ermöglicht eine klare Abgrenzung von erzählender und dramatischer Literatur. Hierauf werde ich noch einmal zurückkommen.

Die neun Kapitel des Buches teilen sich in drei Abschnitte, die jeweils einer der ebenfalls aus der strukturalistischen Erzählforschung übernommenen Mehrphasenstrukturen der Erzählung gewidmet sind. Kapitel 1 und 2 beschäftigen sich mit der histoire, d.h. mit der der Erzählung zugrunde liegenden Geschichte, die auf ganz unterschiedliche Weise erzählt werden kann (narration). Kapitel 3 bis 6 konzentrieren sich auf die (fiktive) Welt der Erzählung, die den zeitlichen und räumlichen Bezugsrahmen für das erzählte Geschehen bildet. Kapitel 7 bis 9 schließlich widmen sich dem Erzähltext, der als sprachliche Manifestation (écriture) der erzählten Geschichte übersetzerisch die größte Herausforderung darstellt. Dabei geht jedes einzelne Kapitel – von der Tiefenstruktur der histoire bis hin zur Oberflächenstruktur der écriture – der Frage nach, inwiefern die Übersetzung die erzählte Geschichte auf den unterschiedlichen Ebenen verändert.

Die wenigsten Veränderungen ergeben sich auf der Ebene der histoire – wie aber lässt sich überhaupt über diese histoire, die noch nicht in Sprache gefasste Geschichte, sprechen? Ja gerade nicht, indem man sie (in einer bestimmten Sprache) nacherzählt, sondern indem man sie auf geradezu formelhafte Sequenzen von Basishandlungen reduziert, von denen man glauben sollte, sie blieben in Original und Übersetzung stets identisch. Dass dem nicht immer so ist, demonstriert Roux-Faucard an einem Textbeispiel aus Kafkas Die Verwandlung. Die in der Erzählung regelmäßig auftretende Abfolge von „Gregor sort de sa chambre – Violence de la part d’un membre de la famille – Gregor rentre dans sa chambre“ (S. 24) wird in der französischen Fassung von Alexandre Vialatte durchbrochen, wenn er nicht nur das (vor Gewalt schützende) „Zimmer“, sondern auch das (möglicher Gewalt aussetzende) „Wohnzimmer“ mit „chambre“ wiedergibt. Ein vermeintliches Detail, ja eine lexikalisch sogar durchaus korrekte Übersetzung führt hier zu einer bedeutenden erzählstrukturellen Abweichung, die den Text als inkohärent erscheinen lässt.

Noch sehr viel deutlicher werden die Veränderungen im Verlauf der narration. In Kapitel 2 wird deshalb die Rolle der Erzählerfigur genauer betrachtet, wobei die Autorin in Anlehnung an Genette einen homodiegetischen, d.h. einen als Zeugen oder Held an der Geschichte beteiligten sowie einen heterodiegetischen, d.h. einen außen stehenden Erzähler unterscheidet. Dass sogar dieser Erzählertypus von Original zu Übersetzung wechseln kann, belegt sie an einem Beispiel aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Rat Krespel. In der französischen Fassung ist der homodiegetische Erzähler plötzlich verschwunden. Heißt es im Deutschen noch, im Gesicht Krespels zeige sich „wie es mir schien, recht teuflischer Hohn“, so ist im Französischen nur noch zu lesen: „[…] et son visage prit une expression diabolique“ (S. 32). Das Ich des homodiegetischen Erzählers taucht in der Übersetzung nicht mehr auf. Ein anderes Teilkapitel vergleicht die Formen der Rede- und Gedankendarstellung. Auch hier wirken Abweichungen direkt auf die Erzählstruktur ein, wenn erlebte Rede (also eine Überlagerung von Erzähler- und Figurenstimme) zu direkter Rede (also reiner Figurenstimme) wird, wie es etwa in der französischen Fassung von Kafkas Die Verwandlung der Fall ist (vgl. S. 40). So geben Original und Übersetzung immer wieder unterschiedliche Antworten auf die von Genette formulierten Fragen Qui parle? und Qui voit? und damit lassen sie die Geschichte in neuem Licht erscheinen, was über den reinen Sprachwechsel hinausgeht. Umso verwunderlicher ist, dass in der literaturwissenschaftlichen Fachliteratur immer wieder Erzähltextanalysen auf der Basis von Übersetzungen erstellt werden. Und so warnt Roux-Faucard mit Recht davor, anhand übersetzter Erzählungen voreilige Aussagen über deren Mikrostruktur zu machen.

Leider ist das hier besprochene zweite Kapitel zu den voix narratives, das eigentlich das Herzstück einer Poétique du récit traduit bilden sollte, etwas ungeschickt platziert. Zunächst sind die darin behandelten Phänomene wie Erzählsituation, Erzählperspektive und Rededarstellung nicht Teil der Tiefenstruktur oder des dit du récit, wie die Autorin durch ihre Gliederung suggeriert (vgl. S. 159), vielmehr sind sie an der Oberflächenstruktur, dem dire du récit anzusiedeln. Darüber hinaus steht es im Schatten der Kapitel 3 bis 6, die sich auf rund einhundert Seiten mit der (fiktiven) Erzählwelt befassen und diese damit sehr viel stärker in das Zentrum der Betrachtung rücken. Der von Roux-Faucard in diesem Zusammenhang diskutierte effet-monde beschreibt die Beziehung zwischen Leser und Erzählwelt – eine Beziehung, die von Nähe oder Distanz geprägt sein kann. Prägend hierfür ist weniger die zeitliche oder räumliche Entfernung als vielmehr die Art und Weise, wie dem Leser die Welt der Erzählung (durch Eigennamen, Zahlenangaben, Beschreibungen usw.) nahegebracht wird oder fremd bleiben muss. Roux-Faucard erläutert, welche Verfahren dem Übersetzer zur Verfügung stehen, um diese Parameter in der Zielsprache zu formulieren: Verfahren der wörtlichen Übersetzung wie report (Beibehaltung von Eigennamen, evtl. mit graphischen oder phonetischen Anpassungen an die Zielsprache), emprunt (Entlehnung bei Eins-zu-Null-Entsprechungen) oder calque (Lehnübersetzung), Verfahren der explizierenden Übersetzung wie étoffement (erläuternde Zusätze im Text selbst) oder notes (erläuternde Fuß- oder Endnoten) sowie Verfahren der adaptierenden Übersetzung, bei denen dem zielsprachlichen Leser unbekannte Realitäten durch ihm vertraute ersetzt werden. So lässt sich die Bowle aus Fontanes Irrungen, Wirrungen wörtlich mit der Entlehnung „Bowle“, explizierend als „vin de Moselle dans le large récipient en verre qui sert à la confection des bowles“ (in dieser Kombination in einer ersten Übersetzung aus dem Jahr 1931) oder adaptierend als „punch“ (in einer späteren Übersetzung aus dem Jahr 1981) wiedergeben (vgl. S. 81-93).

Problematisch erscheint mir in diesem Kapitel, dass die – anhand von zahlreichen durchaus interessanten und aussagekräftigen Textbeispielen diskutierten – Übersetzungsprobleme bei Weitem nicht auf die Übertragung von erzählender Literatur beschränkt sind, sondern sich bei der Übertragung von Lyrik und Bühnendialogen, ja sogar von nicht-literarischen Texten gleichermaßen stellen.[3] Indem die Autorin die Figur des Erzählers nämlich nicht zur conditio sine qua non der Erzählung macht, vernachlässigt sie die Tatsache, dass der von ihr beschriebene effet-monde ja erst durch das vom Erzähler vorgenommene In-Worte-Fassen der Geschichte entsteht. Bei Roux-Faucard hingegen ist es der Leser, der sich aus dem Text heraus eine Erzählwelt schafft: „Effet-monde: Constitution, par le lecteur, d’un monde référentiel dans lequel peut se dérouler l’histoire“ (S. 260), heißt es im Glossar, das am Ende des Buches in sehr klarer und übersichtlicher Form die wichtigsten Fachtermini definiert.

Erst in den drei Schlusskapiteln wendet sich Roux-Faucard explizit dem dire du récit zu. Kapitel 7 diskutiert anhand einer sehr schön ausgewählten japanischen Erzählung und ihrer französischen und englischen Übersetzung sowie anhand verschiedener französischer Fassungen von Cervantes-Erzählungen aus dem 17. Jahrhundert die Opposition von sourcière ou cibliste, von verfremdender und einbürgernder Übersetzung. Insbesondere auf der Grundlage der Cervantes-Übertragungen kommt die Autorin zu dem Schluss, dass modernisierend-einbürgernde Übersetzungen archaisierend-verfremdenden vorzuziehen seien: „Le choix […] de la langue la plus proche du lecteur et la plus naturelle pour le traducteur est donc seule en mesure de permettre, peut-être, la conservation de la littérarité de l’original“ (S. 181). Diese Parteinahme für die traduction cibliste verwundert zumindest in ihrer Eindeutigkeit insofern, als gerade das japanisch-französisch-englische Beispiel zeigt, wie stark sich die Erzählperspektive in der zielsprachlich orientierten Übersetzung verändert hat.

Kapitel 8 untersucht die Überlagerung von Autoren- und Übersetzerstimme und fragt nach der Legitimität eines bestimmten Übersetzerstils, der sich immer dann herauszukristallisieren beginnt, wenn ein Übersetzer das Gesamtwerk eines Dichters übersetzt und so in einer ganz bestimmten Weise prägt.

Kapitel 9 befasst sich mit dem Erkennen und Übersetzen intertextueller Bezüge. Wie kann sich dem französischen Leser erschließen, dass Günter Grass’ Roman Ein weites Feld (frz. Toute une histoire) einen Satz aus Theodor Fontanes Effi Briest zitiert: „… das ist ein zu weites Feld“ (frz. „Voilà un trop vaste champ de méditations à exploiter.“) (S. 244f.)? Bei aller Relevanz der diskutierten Übersetzungsschwierigkeiten stellt sich auch hier die Frage, inwiefern und ob überhaupt die behandelten Aspekte besonders typisch für erzählende Literatur sind.

So liegt das große Verdienst des Buches zweifellos darin, nahezu alle Faktoren, die bei der Übersetzung eines erzählenden literarischen Textes eine Rolle spielen, umfassend und kenntnisreich darzulegen und zu beleuchten. Die Autorin bewegt sich souverän in der französischen wie der deutschen Erzählforschung und sie belegt ihre Ausführungen anhand beeindruckender Einzelbeobachtungen in Werken aus dem literarischen Kanon Deutschlands (Böll, Döblin, Fontane, Grass, Hoffmann, Kafka, Zweig), Spaniens (Cervantes), Russlands (Puschkin) und Englands (Virginia Woolf). Dabei hält sie sich (fast) immer an die eingangs von ihr formulierte Frage „Comment lire un texte narratif traduit?“ (S. 8 ) und betreibt keine penible Übersetzungskritik, sondern argumentiert historisch-deskriptiv. Eine wichtige Rolle spielt dabei die traduction initiale, mit der Roux-Faucard die Übersetzung bezeichnet, die einen Autor neu in eine andere Sprache und Kultur einführt. Aus dieser Zielsetzung, dem Autor den Weg in die fremde Kultur gewissermaßen zu ebnen, sowie aus der Tatsache, dass der Übersetzer zu dem Zeitpunkt meist auf wenig Sekundärliteratur zu dem zu übersetzenden Werk und ohne Kenntnis des Gesamtwerks des Autors arbeiten muss, ergeben sich zahlreiche Konsequenzen für die Übersetzung: „Le texte qui s’offre à la traduction initiale est un texte nu, un énoncé sans indice d’énonciation et sans compléments cognitifs. La constitution du sens est donc extrêmement aléatoire; la traduction, plus encore.“[4]

Eine Poétique du récit traduit ist das Buch gewiss (noch) nicht, aber mit der Rückbindung der literarischen Übersetzung an die strukturalistische Erzählforschung sowie der Fülle an erzähltechnisch relevanten Textbeispielen liefert es eine stabile Grundlage, auf der eine solche poétique aufbauen kann. Abschließend muss man sich fragen, inwieweit der etwas irreführende (aber dafür an Gérard Genettes berühmte Poétique du récit erinnernde) Titel überhaupt der Autorin und nicht vielmehr markstrategischen Erwägungen des Verlags angelastet werden kann. Im Buch selbst jedenfalls sucht man das Wort poétique vergebens. Besser hätte man es deshalb so betitelt wie die Dissertation, aus der es hervorgegangen ist: Traduction et retraduction du récit traduit.

Geneviève Roux-Faucard: Poétique du récit traduit, Caen: Lettres Modernes Minard, 2008.

Geneviève Roux-Faucard: Professeur agrégé d’allemand, 2001 Promotion, 2001-2008 Maître de conférence an der ESIT (Ecole Supérieure d’Interprètes et de Traducteurs) in Paris, zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Übersetzungen.

Katrin Zuschlag: 1994 Abschluss als Diplom-Übersetzerin für Französisch und Englisch an der Universität Heidelberg, 2001 Promotion, seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz.


[1] Hierzu gehört auch die Dissertation der Rezensentin (Katrin Zuschlag: Narrativik und literarisches Übersetzen. Erzähltechnische Merkmale als Invariante der Übersetzung, Tübingen 2002), die ebenfalls versucht, eine Antwort zu finden auf die Frage: Ist die Geschichte, die in einer anderen Sprache erzählt wird, wirklich dieselbe Geschichte? Dieses Buch, das dem hier besprochenen in Fragestellung und Herangehensweise sehr ähnlich ist, war Roux-Faucard offenbar nicht bekannt.

[2] Vgl. hierzu Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1979, S. 15, sowie Zuschlag 2002 (vgl. Anm. 1), S. 10ff.

[3] Dabei stehen jeder der genannten Textsorten andere Möglichkeiten der Übertragung zur Verfügung: So kann eine Bühnenübersetzung zwar nicht mit Fußnoten arbeiten, dafür aber mit Requisiten, die auf der Bühne zu sehen sind. Umgekehrt stören Fußnoten bei der Lektüre nicht-literarischer Texte sehr viel weniger als bei der literarischer Texte.

[4] Vgl. S. 134 ff., hier S. 136, S. 47 sowie passim.