Wie in einem Brennglas bündeln sich die Probleme einer Gesellschaft im eng umgrenzten Raum der Schule. Frankreich und Deutschland ähneln sich darin, dass ihnen Immigration, Arbeitslosigkeit und einseitige Konsumorientierung zu schaffen machen, und deshalb bieten zwei Bücher, die den französischen Schulalltag aus der Innenperspektive darstellen, auch dem deutschen Leser viel Nachdenkenswertes: Entre les murs von François Bégaudeau, im Original 2006, auf Deutsch im vergangenen Jahr unter dem Titel Die Klasse erschienen, und Chagrin d’école von Daniel Pennac, das 2007 in Frankreich herausgekommen ist und dessen deutsche Version, Schulkummer, aus dem Jahr 2009 stammt.
Die Klasse schildert in 136 unterschiedlich langen Abschnitten Szenen aus dem Schuljahr 2003/2004 am Collège Mozart im 19. Arrondissement im Nordosten von Paris. Der Autor Bégaudeau, Jahrgang 1971, war Französischlehrer an diesem Collège und weist seinem Protagonisten und Ich-Erzähler die gleiche Rolle zu. Am Anfang des Romans rechnet der Erzähler aus, dass er in dem vor ihm liegenden Schuljahr an 136 Tagen in der Schule sein wird, und so wirken die Abschnitte wie Tagebucheinträge, die kurz nach den Ereignissen niedergeschrieben worden sind. Das Hauptgewicht liegt auf der Wiedergabe von Personenrede: von Dialogen zwischen dem Lehrer und seinen Schülern im Klassenzimmer, von Unterhaltungen mit Kollegen in den Pausen und bei Konferenzen, von Gesprächen mit Eltern bei Sprechtagen. Der Unterricht läuft keineswegs harmonisch ab, da Schüler aus verschiedenen Kontinenten aufeinandertreffen, die zudem teilweise noch mit den Schwierigkeiten der für sie neuen Sprache Französisch zu kämpfen haben. Der Umgangston zwischen Lehrer und Schülern ist zuweilen ziemlich rau, der Lehrer muss nicht nur Beleidigungen einstecken, er teilt auch aus, spart nicht mit ironischen und persönlichen Bemerkungen. Und so beklagen sich seine Schüler: „Toujours vous charriez, m’sieur“, „Sie verarschen uns immer, Monsieur!“
Der Erzähler kommentiert das Geschehen nicht, benennt aber seine Befindlichkeit und seine Gefühle. So heißt es in der deutschen Übersetzung: „Ich hatte nicht gut geschlafen“, „Ich war schon wieder auf hundertachtzig“, „Ich suchte nach dem lässigsten Ton, den ich in meinem erhitzten Kopf aufstöbern konnte.“ Er bietet dem Leser auch keine Überlegungen zu Erziehungsfragen an, gibt vielmehr den Text eines Aufsatzes wieder, den eine Schülerin zum Thema „Autorität an den Schulen“ verfasst hat. Zahlreiche Wiederholungen kurzer Themen wirken wie Refrains, gliedern und rhythmisieren den Text. So geht es beispielsweise bei den Gesprächen im Lehrerzimmer immer wieder darum, dass der Kaffeautomat die eingeworfenen Münzen nicht akzeptiert; im Klassenzimmer muss der Lehrer den Schüler Souleymane regelmäßig auffordern, seine Kapuze und seine Mütze abzunehmen. Einige Male begegnet dem Erzähler ein phantomhaft wirkender Einarmiger, der ihm rätselhafte Botschaften überbringt. Aufgrund dieser Stilmittel wirkt der Roman bei aller Knappheit, Umgangssprachlichkeit und Nähe zu den Figuren keineswegs protokollhaft, die formale Gestaltung ist jederzeit spürbar.
Daniel Pennac, 1944 geboren und damit eine Generation älter als Bégaudeau, hat mit Schulkummer ein nicht-fiktionales Buch autobiographischer Erinnerungen und Reflexionen geschrieben. Hauptthema ist nicht die Schule im Allgemeinen, sondern der leistungsschwache Schüler. Das französische Wort dafür ist „cancre“, das von dem lateinischen Wort „cancer“, „Krebs“, abstammt. Eveline Passet hat in ihrer Übersetzung den französischen Ausdruck beibehalten, was Pennac in seinem Vorwort „Für meine deutsche Übersetzerin“ ausdrücklich gutheißt. Diese Wortwahl mache klar, dass das Cancre-Sein eine Krankheit sei, in deren Folge das Kind zum schlechten Schüler werde. In seinem Buch versucht Pennac, Mittel und Wege aufzuzeigen, betroffene Kinder davon zu heilen.
Er kennt diese Krankheit nur allzu gut, denn als Schüler hatte er selbst die größten Schwierigkeiten mit Rechtschreibung und Mathematik. Aber auch Geschichte und Fremdsprachen warfen Probleme auf, da er sich historische Fakten und Vokabeln einfach nicht merken konnte. Auf Spekulationen über die mögliche Ursache für sein Schulversagen lässt sich Pennac nicht ein, schildert aber dafür umso eindringlicher die Scham und die Angst, die er in seiner Kindheit und Jugend als Cancre empfand. Verzweifelt buhlte er um das Wohlwollen der Lehrer. Einmal sammelte er unter seinen Mitschülern Geld für ein Geburtstagsgeschenk an den Französischlehrer, der ihm eine schlechte Note im Diktat gegeben hatte. Als das nicht reichte, knackte er sogar den Familientresor.
Der Anfang einer Laufbahn als Krimineller? Daniel schafft erst nach einigen Anläufen das Abitur, wird Lehrer, später sogar Schriftsteller. Diesen Umschwung verdankt er, wie Pennac in der Rückschau schreibt, drei oder vier Lehrern. Ein alter Französischlehrer, dem die Fabulierlust Daniels aufgefallen war, trug ihm auf, jede Woche ein Kapitel eines Romans zu schreiben und abzuliefern, aber bitte ohne Rechtschreibfehler. Endlich seines Status als Nichtskönner enthoben, machte sich Daniel mit Feuereifer an die Arbeit, jedes Wort mithilfe des Wörterbuchs korrigierend. Pennac berichtet ferner von einem Mathematiklehrer, einer Geschichtslehrerin und einem Philosophielehrer. Sie retteten Daniel weniger durch persönliche Zuwendung, als durch ihre eigene Begeisterung und ihr Sachwissen.
Gutes Zureden von Seiten des Lehrers hilft dem Cancre nicht, diese Erfahrung hat Pennac als Schüler gemacht. „Angst vor Grammatik? Dann lasst uns Grammatik durchnehmen!“, so lautet seine Devise. Für die Gestaltung einer Schulstunde erteilt er dem Lehrer das strikte Verbot, über sich oder den Schüler zu reden. Fünfundfünfzig Minuten lang solle der Schüler ganz und gar in eine grammatische Welt eintauchen. Um dies zu ermöglichen, müsse auch der Lehrer vollkommen präsent sein. „Ein guter Lehrer ist ein ausgeschlafener Lehrer.“ Wie eine Antwort darauf erscheinen die häufigen Klagen der Lehrer in Die Klasse darüber, dass sie schlecht geschlafen hätten. Sie diskutieren den familiären Hintergrund ihrer Schüler, um psychologische Ursachen für deren Schulprobleme zu finden. Sie lassen sich auf persönliche Auseinandersetzungen mit den Schülern ein. Alles gegen Pennacs Rezept! Ist das Collège Mozart des Romans also eine schlechte Schule? Man kann wohl eher sagen, dass Bégaudeau und Pennac komplementäre Seiten derselben Sache betonen. Es gibt die sozialen Probleme, die Schulversagen nach sich ziehen. Dieses wird sich aber nicht rein psychologisch heilen lassen. Konzentration auf den Unterrichtsstoff ist ebenso notwendig.
Trotz der Allgemeingültigkeit der dargestellten Konflikte spielt doch das französische Schulsystem in Schulkummer und Die Klasse eine wichtige Rolle. Französische Kinder kommen im Regelfall mit sechs Jahren in die Grundschule, durchlaufen dort fünf Jahre und verbringen dann vier Jahre auf dem Collège. Hier wird noch nicht differenziert, es handelt sich also um eine Art Gemeinschaftsschule für die Sekundarstufe I. Erst beim Übergang in die Sekundarstufe II müssen sich die Schüler zwischen dem Lycée général, dem Lycée technologique und dem Lycée professionnel entscheiden. Die ersten beiden Formen entsprechen in etwa dem deutschen Gymnasium, die dritte der Berufsschule. Die Klassen des Collège und des Lycée werden von der Sixième an rückwärts bis zur Première durchnummeriert, entsprechen also im Deutschen der sechsten bis elften Klasse. Die Abschlussklasse auf dem Lycée, also das zwölfte Jahr, wird Terminale genannt. Bei der Übertragung der schulspezifischen Begriffe ins Deutsche haben Evelyne Passet und die Übersetzerinnen von Die Klasse, Katja Buchholz und Brigitte Große, unterschiedliche Wege eingeschlagen. Passet hat die französischen Bezeichnungen (allerdings in Großschreibung) beibehalten und am Ende des Buches in einem Glossar zusammen mit einigen Stichwörtern aus der französischen Geographie und Kultur erklärt. Dies vertieft das Verständnis des deutschen Lesers für die behandelten Fragen und kann für einen nicht-fiktionalen Text als vorbildlich gelten. Buchholz und Große verwenden für die Klassen die deutsche Zählung. Für Spezialausdrücke wie etwa die Abkürzung CPE (conseiller principal d’éducation) finden sie deutsche Bezeichnungen, die den französischen möglichst nahekommen, in diesem Fall „Verbindungslehrer“. Für die Übersetzung eines Romans, der nicht mit fremdsprachigen Wörtern überfrachtet werden soll, ist auch dies eine gute Lösung. Zwei Entscheidungen aber könnten den deutschen Leser verwirren. Zu Beginn des Romans wird „collège“ mit „Schule“ wiedergegeben. Wer mit dem französischen System nicht vertraut ist, mag sich nun fragen, um welchen Schultyp es sich handelt. Hier bot sich die Verwendung von „Collège“ an, da es auch als Stichwort in den beiden einsprachigen Wörterbüchern „Duden“ und „Wahrig“ verzeichnet ist. Später im Roman machen die Übersetzerinnen von dieser Möglichkeit Gebrauch. An anderer Stelle wird „le deuxième trimestre“ mit “das zweite Halbjahr“ übersetzt, eine unnötige Anpassung der französischen Wirklichkeit an deutsche Verhältnisse.
Im Rahmen der Schilderung des Unterrichts werden in beiden Büchern gelegentlich französische Sätze grammatisch analysiert. Diese Sätze enthalten Konstruktionen, die es im Deutschen nicht gibt. Sachlich genau wären solche Passagen nur unter Beibehaltung der Ausgangssätze des Originals zu übersetzten, was kein gangbarer Weg ist, da beim deutschen Leser keine französischen Sprachkenntnisse angenommen werden können. Die Übersetzerinnen behelfen sich in diesen Fällen dadurch, dass sie eigene deutsche Sätze wählen, die mit deutscher Grammatik erklärt werden können. So ändern zum Beispiel Buchholz und Große den Satz „J’ai vendu ma voiture à un homosexuel“ („Ich habe mein Auto einem Homosexuellen verkauft“) in „Ich habe mein Auto bei einem Homosexuellen gekauft“, aus dem complément d’objet indirect wird ein Präpositionalobjekt. Pennac widmet ein ganzes Kapitel dem „y“ in „Je n’y arriverai jamais“, da sich dahinter das verbirgt, wovor der Sprecher dieses Satzes, ein Schüler, Angst hat. Passet macht daraus „Ich pack’s nicht“, und überträgt das „y“ in diesem Kapitel konsistent mit „es“. Textpassagen, in denen die Ausgangssprache selbst zum Thema wird, stellen oft besonders knifflige Übersetzungsprobleme dar. In den beiden Beispielen haben die Übersetzerinnen gelungene adaptierende Übertragungen gefunden.
Bégaudeaus Roman, überwiegend in direkter Rede geschrieben, enthält zudem zahlreiche Elemente der gesprochenen Sprache. Als Beispiel ein kleiner Dialog zwischen dem Lehrer und zwei Schülerinnen:
– Je m’excuse mais moi, rire comme ça en public, c’est c’que j’appelle une attitude de pétasses.
Elles ont explosé en chœur.
– C’est bon, on est pas des pétasses.
– Ça s’fait pas de dire ça, m’sieur.
Buchholz und Große übertragen das folgendermaßen in zeitgenössisches gesprochenes Deutsch:
„Sorry, aber so benehmen sich nur Schnallen.“
Sie explodierten im Chor.
„Krass, ey, wir sind doch keine Schnallen, Mann!“
„Das könn’ Sie echt nich bringen!“
Sehr treffend ist hier die Verwendung des Anglizismus’ „sorry“ im Deutschen. Das Schimpfwort „Schnallen“ klingt dagegen schon etwas angestaubt, hier käme „Schlampen“ in Frage. Neben der Wortwahl fallen als weitere Stilelemente Auslassungen auf und, an anderer Stelle, eine vom geschriebenen Deutsch abweichende Syntax: „Weil, mein Rücken geht garnich“ für „Parce que moi le dos c’est pas possible“.
Der Autor von Schulkummer reichert seine Gedanken gerne mit ungewöhnlichen Bildern an. Bei der Übersetzung beweist Passet Phantasie und ein Gespür dafür, dass man im Deutschen nicht unbedingt dieselben Metaphern verwenden kann. So wird die „berezina scolaire“, eine Anspielung auf die Niederlage der napoleonischen Truppen am russischen Fluss Beresina, zum „schulischen Super-GAU“, und „Je n’imprimais pas, comme disent les jeunes gens d’aujourd‘hui. Je ne captais ni imprimais“, zu: „Ich konnte nichts behalten. Bei mir war Mattscheibe, ich konnte nichts abspeichern, wie man heute sagen würde.“ Pennac widmet ein ganzes Kapitel einer Diskussion, die er mit Schülern über die Verwendung des Argots in seinen Romanen geführt hat. Auch in Schulkummer gibt es viele umgangssprachliche Wendungen, selbst dort, wo der Autor keine Personenrede wiedergibt, sondern direkt zum Leser spricht. Mit Ausdrücken wie „Gedöns“, „Stino“, „Knackpunkt“, „blinkender Tineff“ oder „die Lümmel aus der letzten Bank“, die sie zuweilen auch da einsetzt, wo im Französischen ein Wort der Standardsprache steht, gelingt es der Übersetzerin, diese Sprachhaltung Pennacs wiederzugeben.
Die beiden Autoren gebrauchen generell, wie in den Beispielen bereits angedeutet, verschiedene Aspekte der Umgangssprache: Bégaudeau übernimmt ihre morphologischen und syntaktischen Besonderheiten, Pennac schöpft aus ihrem Bilderreichtum und Wortschatz. Mit unterschiedlichen Übersetzungsstrategien gelingt es Buchholz und Große auf der einen, Passet auf der anderen Seite, den besonderen Ton der Originale zu treffen. Nach den vorausgehenden Beobachtungen lässt sich der Schluss ziehen, dass normative Vorgaben für bestimmte übersetzerische Problemkreise (hier: schulspezifische Ausdrücke, Textpassagen, in denen die Ausgangssprache selbst thematisiert wird, Umgangssprache) kaum sinnvoll sind.
Die beiden Bücher nähern sich von unterschiedlichen Standpunkten aus dem Thema Schule. Dass dieses über die Grenzen hinaus zu interessieren vermag, beweist der internationale Erfolg des Films Entre les murs nach der Vorlage des Romans. Mit ihrer Arbeit haben auch die Übersetzerinnen dazu beigetragen, diese Grenzen zu überbrücken.
François Bégaudeau: Die Klasse, übersetzt von Katja Buchholz und Brigitte Große, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 232 Seiten, 12,90 €
François Bégaudeau: Entre les murs, Paris: Gallimard 2006, 304 Seiten, 6,50 €
Daniel Pennac: Schulkummer, übersetzt von Eveline Passet, Köln: Kiepenheuer &Witsch 2009, 288 Seiten, 18,95 €
Daniel Pennac: Chagrin d’école, Paris: Gallimard 2007, 320 Seiten, 19 €
François Bégaudeau, geboren 1971 in Luçon (Vendée), studierte moderne Literatur an der Universität Nantes. Während dieser Zeit war er Sänger der Punkrockband Zabriskie Point. Später arbeitete er als Lehrer am Collège Mozart in Paris und als Filmkritiker für die Cahiers du Cinéma. Sein erster Roman, Jouer juste, erschien 2003. Sein dritter Roman, Entre les murs, kam im Jahre 2006 heraus und wurde 2008 von Laurent Cantet verfilmt.
Daniel Pennacchioni, 1944 in Casablanca geboren, schreibt unter dem Pseudonym Daniel Pennac. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft in Nizza wurde er Lehrer. Kurz darauf begann er, Kinderbücher zu schreiben. 1985 erschien der Kriminalroman Au Bonheur des Ogres (deutsch unter dem Titel Paradies der Ungeheuer), der ihn als Autor bekannt machte. Für Chagrin d’école erhielt er 2007 den Prix Renaudot.
Katja Buchholz übersetzt aus dem Englischen und Französischen. Zu den von ihr übertragenen Autoren gehören J. E. Bright und François Bégaudeau.
Brigitte Große, Jahrgang 1957, studierte Philosophie und Musikwissenschaft, Soziologie und Psychologie in Wien und Hamburg. Sie übersetzt englische und französische Literatur. Zu ihren Autoren zählen Frédéric Beigbeder, Fatou Diome und Georges-Arthur Goldschmidt.
Eveline Passet studierte Slawistik und Romanistik in Paris. Sie übersetzt aus dem Russischen und Französischen. Zu ihren Autoren gehören Ilja Ehrenburg, Alphonse Daudet und Alfred de Musset. Von Daniel Pennec hat sie bereits mehrere Werke übersetzt, so z. B. Monsieur Malaussène, Paradies der Ungeheuer und Wenn alte Damen schießen.
Rolf Pütter studierte Mathematik an der Universität Bonn. Nach Diplom und Promotion arbeitete er einige Jahre als Programmierer. 2002 schrieb er sich für den Studiengang Literaturübersetzen (Französisch, Italienisch) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein. Das Wintersemester 2005/06 verbrachte er in Straßburg. Er schloss das Diplom im September 2007 ab und arbeitet zurzeit bei einer Übersetzungsagentur.