Wahrheit oder Fiktion? – diese Frage stellt sich der Leser von Pura Vida immer wieder. Der Ich-Erzähler in Patrick Devilles Roman berichtet von zwei aufeinander folgenden Freitagen, dem 21. und 28. Februar 1997, die er in Managua und Tegucigalpa, den Hauptstädten von Nicaragua und Honduras, verbringt. Er hält sich in Zentralamerika auf, um Material für ein Buch über William Walker zu sammeln, einen US-amerikanischen Abenteurer des 19. Jahrhunderts, der es bis zum Präsidenten der Republik Nicaragua gebracht hat. Walker ist eine historisch verbürgte Gestalt, von deren Aufstieg und Fall Pura Vida handelt. Ist das Buch also die Synthese einer Biografie und ihrer Entstehungsgeschichte? Nein, die Sache ist komplizierter. In einer Kneipe lernt der Erzähler Victor kennen, einen an den Strand gespülten Schiffbrüchigen, der sein Gedächtnis verloren hat. Für ihn lässt der Erzähler die lateinamerikanische Revolutionsgeschichte der letzten zweihundert Jahre Revue passieren, und so erwachen vor den Augen des Lesers Simón Bolívar, César Sandino, Che Guevara und viele andere bekannte und weniger bekannte Freiheitskämpfer und ihre Gegenspieler erneut zum Leben. Gegen Ende des Romans erlangt Victor sein Gedächtnis zurück, übernimmt immer mehr die Rolle des Erzählers und beschwört die letzten Tage William Walkers herauf.
Die Erzählstruktur des Romans ist verschlungen. Von Assoziationen geleitet springt der Erzähler immer wieder von einer Epoche zur anderen, verwendet auch innerhalb einer Episode Rückblenden und Vorausdeutungen, flicht aktuelle und ältere Zeitungsmeldungen ein, gibt Interviews mit Überlebenden der sandinistischen Revolution wieder. Da Patrick Deville zur Vorbereitung dieses Romans selbst sechs Jahre in Mittelamerika verbracht hat, kommt ein autobiografisches Moment hinzu. Im Ergebnis sieht sich der Leser mit einer Mischung zahlreicher literarischer Genres konfrontiert. In der Verwendung der sprachlichen Mittel ist der Autor ebenso einfallsreich. Von Plusquamperfekt bis Futur wechseln sich die Zeiten in bisweilen verwirrender Geschwindigkeit ab, immer wieder werden spanische Sätze einmontiert, mal mit, mal ohne Übersetzung ins Französische. Der Leser wird mit Abkürzungen, indigenen Ortsnamen, literarischen Anspielungen, spanischen und lateinischen Bezeichnungen für Papageienarten, der Aufklärung über die costaricanische Redewendung „Pura Vida“ (ein Kompliment an das Leben) und dem Wechsel zwischen kurzen und manchmal eine halbe Seite langen Sätzen in Atem gehalten. Die Aufgabe, dem Erzählfluss zu folgen, ist niemals einfach, aber immer kurzweilig.
Noch anspruchsvoller ist die Aufgabe, die der Roman dem Übersetzer stellt. Den vielen historischen und kulturellen Anspielungen ist Holger Fock in einer umfassenden Recherchearbeit nachgegangen, hat ihre Resultate in Anmerkungen am Ende des Buches zugänglich gemacht und damit dem Leser wertvolle Verständnishilfe geleistet. Da finden sich zum Beispiel die Einträge „FSLN“ (Frente Sandinista de Liberación Nacional), „Changó“ (ein Gott der Volksreligion Santería, die ebenfalls erläutert wird), oder „Bibendum“ (das Reifenmännchen von Michelin). Die spanischen Zitate übernimmt Fock und wandelt die französischen Übersetzungen (falls vorhanden) in deutsche um, an manchen Stellen fügt er eine deutsche Übersetzung hinzu. In einer textinternen Anmerkung nennt Fock den Titel der deutschen Übersetzung eines Werks von Che Guevara. Das Gestrüpp der Erzähltempora hat er beschnitten, Futur und Plusquamperfekt werden wiederholt durch Präsens oder Imperfekt wiedergegeben.
Anmerkungen, zusätzliche Übersetzungen und Tempusgebrauch offenbaren zusammen genommen zwei Tendenzen: eine „explanatorische“, die dem deutschen Leser Hindernisse aus dem Weg räumt, an denen sich der französische möglicherweise abarbeiten muss, und ferner die, den Übersetzungsprozess für den Leser erkennbar zu machen. Über die erste Tendenz kann man geteilter Meinung sein, die zweite ist zu begrüßen, denn das Bestreben, die Übersetzung möglichst unsichtbar (‚transparent‘) zu halten, also beim Leser die Illusion zu erwecken, der Roman sei ursprünglich auf Deutsch geschrieben, ist in sich widersprüchlich und letztlich verwirrend.
Im Original finden sich stilistisch sehr gelungene Passagen, wie die folgende Beschreibung der Wandlungen des Sonnenlichts im Laufe eines Tages: „[…] des roses bleutés de l’aurore au vermeil aveuglant du plein midi, sable chaud et chamois des dunes vespérales, or presque vermillonné de la fin d’après-midi, mauve verdissant du soir“. Die deutsche Übersetzung steht dem in Anschaulichkeit und Wohlklang nicht nach: „[…] von den bläulichen Rosatönen beim Sonnenaufgang bis zum blendenden Kirschrot in der Mittagssonne, vom warmen Sand und Gelbbraun abendlicher Dünen und dem fast schon zinnoberroten Gold am späten Nachmittag bis zum ins Grüne spielenden Malvenlila des Abends“.
Es gibt einige Stellen, über die man als Leser der deutschen Version stolpert. So ist einmal von der „Golden Gate Bridge“ die Rede, die Handlung spielt aber im Jahr 1855, als es die Brücke noch nicht gab. Im Original findet sich nur „Golden Gate“, gemeint ist also die Meerenge. In einer redundant klingenden Formulierung wird Sandino als „Unperson, mit der man nicht verkehren darf“ beschrieben. Im Original steht nur „infréquentable“. Über Tony de la Guardia, einen Mitstreiter Castros, heißt es: „Tatsächlich kommt das Geld in geschlossenen Büchsen zu den Handelsgesellschaften, die er führt.“ In der französischen Version steht „par conteneurs entiers“, eine ironische Wendung, deren einfachste Entsprechung wohl ‚containerweise‘ ist. Diese und andere Ungenauigkeiten und einige Setzfehler wären durch ein gründliches Endlektorat leicht zu vermeiden gewesen, stören aber insgesamt den guten Eindruck nicht.
„Wer sich der Revolution verschreibt, pflügt das Meer“, so zitiert eine Kapitelüberschrift Simón Bolívar. Zwar verhehlt der Erzähler seine Sympathien für die Freiheitskämpfer keineswegs, er findet aber in ihren manchmal verzweifelten Unternehmungen Parallelen zu Abenteurern wie William Walker. Durch die vielen verschiedenen Sprecher, die in dem Roman zu Wort kommen, wird deutlich, dass Geschichte und Geschichtsschreibung nicht als Sammlung gesicherter Fakten, sondern als Konstruktion zu verstehen sind. Die gelegentliche Zweisprachigkeit weist auch der Übersetzung einen Platz darin zu. Im Hinblick auf die oben erwähnte Vermeidung der Transparenz spielt der deutsche Übersetzer seine Rolle noch zu verdeckt, so gibt er sich zum Beispiel nicht als Urheber der Anmerkungen zu erkennen. Ein Vor- oder Nachwort, in dem seine Stimme explizit hörbar würde, hätte Raum für weiter gehende Erklärungen geboten und die überzeugende Übersetzungsleistung abgerundet.
Patrick Deville: Pura Vida, übersetzt von Holger Fock, Innsbruck: Haymon 2007, 304 Seiten, 19,90 €
Patrick Deville: Pura Vida, Paris: Éditions du Seuil 2004, 286 Seiten, 19 €
Patrick Deville, Jahrgang 1957, studierte französische und vergleichende Literaturwissenschaft in Nantes. Sein erster Roman, Cordon bleu, erschien 1987. Ein Jahr später folgte Longue vue und wurde bereits ein internationaler Erfolg. Seit 2001 leitet Deville das MEET (Maison des Écrivain Étrangers et des Traducteurs) in Saint-Nazaire. Sein Roman Pura Vida (2004) spiegelt unter Anderem seine Leidenschaft für das Reisen und für Lateinamerika wider.
Holger Fock, Jahrgang 1958, ist Theaterwissenschaftler, Werbetexter, Übersetzer und Lektor. Er übersetzt, oft zusammen mit Sabine Müller, Belletristik und Sachbücher aus dem Französischen und Englischen. Zu seinen Autoren zählen Pierre Assouline, André Breton und Jacques Rigaut.
Rolf Pütter studierte Mathematik an der Universität Bonn. Nach Diplom und Promotion arbeitete er einige Jahre als Programmierer. 2002 schrieb er sich für den Studiengang Literaturübersetzen (Französisch, Italienisch) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein. Das Wintersemester 2005/06 verbrachte er in Straßburg. Er schloss das Diplom im September 2007 ab und arbeitet zurzeit bei einer Übersetzungsagentur.