Buchcover Wie es hätte sein können
Katrin Segerer über Adolf H. - Zwei Leben von Eric-Emmanuel Schmitt, aus dem Französischen übersetzt von Klaus Laabs


„Adolf Hitler: durchgefallen.“ So beginnt Eric-Emmanuel Schmitt sein neuestes Werk, das sich an ein Tabuthema heranwagt. Schonungslos zeigt es eine mögliche Innenansicht des historischen Hitler und konstruiert gleichzeitig einen zweiten, fiktiven Lebensweg, denjenigen des Adolf H. Der Leser wird zu einer Runde ‚Was wäre, wenn…‘ eingeladen: Was wäre, wenn Hitler damals an der Kunstakademie angenommen worden wäre? Wie hätte das 20. Jahrhundert ohne den nationalsozialistischen „Führer“ ausgesehen? Und wie konnte aus dem 19-jährigen Akademiebewerber der Diktator, das Monster werden?

Schmitt versucht sich an der Beantwortung dieser Fragen. Neben dem Lebensweg des historischen Adolf Hitler wird ein zweiter Werdegang konstruiert, derjenige des „Adolf H.“, der 1908 an der Kunstakademie angenommen wird. Immer abwechselnd zwischen den beiden fiktiven Lebensgeschichten, die sich zwar zeitlich parallel abspielen, deren Verlauf jedoch nicht unterschiedlicher hätte sein können, erzählt Schmitt, wie es war und wie es hätte sein können.

Bei beiden Erzählsträngen geht Schmitt vom selben ‚Grundmaterial‘ aus: „Hitler“ und „Adolf H.“ sind beide ganz normale Menschen, mit einigen schlimmen Kindheitserinnerungen, mitten im Selbstfindungsprozess; der eine kann jedoch seinen Berufswunsch erfüllen, der andere wird an der Kunstakademie abgewiesen. Aber während „Adolf H.“ nach einer Behandlung seiner sexuellen Psychose durch Doktor Freud und dank seiner Beziehung zu Freunden, Frauen und der Kunst fest im Leben verankert ist und bleibt, entwickelt „Hitler“ sich zum unverstandenen Eigenbrötler, zum Fanatiker und schließlich zum Hauptverantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg und den Völkermord an den Juden.

Nun würde mancher die Thematik des Romans bereits als gewagt bezeichnen. Schmitt jedoch geht noch weiter. Statt dem historischen Lebenslauf Adolf Hitlers nur einen möglichen anderen entgegenzuhalten, konzentriert sich der Autor auf das Innenleben seiner beiden Hauptfiguren und zeigt so, wie es zur unterschiedlichen Entwicklung von „Adolf H.“ und „Hitler“ überhaupt erst kommen konnte. Die äußeren Ereignisse bilden die Rahmenhandlung, im Vordergrund stehen Gefühle und Empfindungen, Charakterbildung und deren Ursprung. Schmitt versucht zu erklären, wie Adolf Hitler zu dem werden konnte, was er war. Die beiden Hauptfiguren sind sich so ähnlich, und doch so verschieden – Schmitt zeichnet vielschichtige Charaktere und liefert im Verlauf des Romans zahlreiche Geschehnisse und Einzelheiten, die zusammengenommen als möglicher Grund für die unterschiedliche Entwicklung der beiden interpretiert werden können. Nie lässt er den Leser vergessen, dass auch in jedem von uns ein ‚Dämon‘ steckt: Es ist der Anteil des Anderen, La part de l’autre, wie es schon im Originaltitel anklingt. Damit dringt Schmitt tief in ein tabuisiertes Thema ein, zwingt uns zur persönlichen Auseinandersetzung mit Adolf Hitler und uns selbst und erinnert energisch daran, dass der Nationalsozialismus zu unser aller Vergangenheit gehört und nicht totgeschwiegen werden darf.

Dem Übersetzer Klaus Laabs wird nicht gerade wenig abverlangt. Er muss fundiertes Geschichtswissen und Kenntnis speziellen Vokabulars beweisen sowie sich außerdem der Konfrontation mit Zitaten aus den verschiedensten Dokumenten stellen, wie Adolf Hitlers Mein Kampf oder der Oper Rienzi. Dazu kommen die Charakteristika von Schmitts unverwechselbarem und unkonventionellem Stil: Reihungen ausdrucksstarker Wörter, wie zum Beispiel „un papillon amené par le vent, léger, inconstant, frivole, sans ancrage“ („ein schwereloser, leichtsinniger Schmetterling, unbeständig und ohne Bodenhaftung, den der Wind mit sich fortträgt“), unorthodoxe Vergleiche – etwa den der Beziehung des Redners „Hitler“ zu seinem Publikum mit dem Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau und schnelle Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven, den beiden Lebensläufen und unterschiedlichen Erzählformen (Briefen, Dialogen und inneren Monologen). Die wohl größte Anforderung an den Übersetzer stellt jedoch die neutrale Haltung des Autors gegenüber der historischen Person Adolf Hitler dar, die er einnehmen muss, um die Entwicklung des Diktators zu erklären.

All diesen Schwierigkeiten trotzt der erfahrene Übersetzer Klaus Laabs, der seit 1985 zumeist lateinamerikanische Texte ins Deutsche überträgt. Es gelingt ihm, Schmitts Schreibstil dem deutschen Leser so unverfälscht wie nur möglich nahe zu bringen. Dennoch kommt es hin und wieder zu sprachlichen Ungenauigkeiten, die jedoch selten und keineswegs schwerwiegend sind. So übersetzt Laabs beispielsweise das Original „Que fixe-t-elle? Mes chevilles?“ mit „Was starrt die mich so an? Meine Fußknöchel?“. Hier stutzt der Leser zunächst, ist doch eigentlich gemeint „Was starrt die denn so an? Meine Fußknöchel?“.

Abgesehen von diesen Kleinigkeiten, die das Lesevergnügen nicht beeinträchtigen, übersetzt Laabs jedoch souverän und einfallsreich. So legt er einer quirligen kleinen Frau die Selbstbeschreibung „Ich bin herzallerliebst, habe allerliebste Rundungen und bin rundum gelungen […]“ in den Mund, ein Wortspiel, das zwar vom Original nicht gefordert wird, jedoch durch seine Leichtigkeit und Brillanz überzeugt und hervorragend den Charakter der Person widerspiegelt. An anderer Stelle formuliert er „Er sagt ja zu Kanon und Kanone“ und bewahrt so die Doppeldeutigkeit des Wortes „canon“ im Originaltext. Auch bei „un café aussi fameux que fumeux“ kann Laabs das Wortspiel in der Übersetzung „einem so verrufenen wie verräucherten Café“ mit einer Alliteration kompensieren. Zusätzlich fügt er noch einige Regionalismen ein und unterstützt damit die Mimesisillusion des Romans. So lässt er zum Beispiel eine österreichische Dame von „Bub“ und „Schlagobers“ sprechen, wo im Französischen die völlig unmarkierten Wörter „garçon“ und „crème“ verwendet werden.

Der Roman geht sowohl im Original als auch in Laabs Übersetzung mit einem sonst oft totgeschwiegenen Tabuthema sensibel, aber keineswegs zimperlich um. Dadurch ist ein aufrüttelndes Werk entstanden, das uns Lesern zu denken gibt und reichlich Diskussionsstoff liefert.

Eric-Emmanuel Schmitt: Adolf H – Zwei Leben, aus dem Französischen übersetzt von Klaus Laabs, Zürich: Ammann 2007, 508 Seiten

Eric-Emmanuel Schmitt: La part de l’autre. Paris: Hachette 2003, 503 Seiten