Miranda July ist der Shootingstar der amerikanischen Literaturszene. War die Alleskönnerin spätestens seit der Auszeichnung ihres Films „Me And You And Everyone We Know“ mit dem Prix de la Caméra d’Or für das beste Debüt auf den Filmfestspielen von Cannes 2005 nicht mehr nur Kennern ein Begriff, hat sie sich mit der Kurzgeschichtensammlung No one belongs here more than you, die 2007 erschien, endgültig einen festen Platz in der amerikanischen Kunstszene gesichert. Von der amerikanischen Kritik als Offenbarung gefeiert, wurde die deutsche Übersetzung mit dem Titel Zehn Wahrheiten auch vom hiesigen Feuilleton mit Spannung erwartet.
In Julys Kurzgeschichten geht es um Episoden aus dem Leben verschiedener Menschen; Menschen, die außerhalb stehen, nicht richtig ins Leben finden. Da ist die von Prinz William besessene Mittdreißigerin, die am Telefon während der Sexschilderungen ihrer jüngeren Schwester masturbiert; da ist eine Person, die sich vorstellt, eine E-Mail zu erhalten, in der steht, das bisherige Leben sei nur ein Test gewesen, das wahre sei viel schöner; die junge Sonderschullehrerin, die in der Phantasie ihrer Jugend wilden Sex mit einem Schatten hatte, den sie nun in einem ihrer Schüler wieder zu erkennen glaubt; die Frau, die sich nicht weiter als siebenundzwanzig Schritte von ihrem Haus entfernen kann, und die andere, die vier Achtzigjährigen in ihrem Wohnzimmer Schwimmunterricht erteilt.
Meist geht es um Liebe oder Sex, nie jedoch werden Klischee-Erwartungen bedient. Es sind schöne Geschichten, surreal, tröstlich, erzählt mit sanfter Stimme, die all dies wahr erscheinen lässt und ihre Protagonisten nicht bewertet. Miranda Julys Schreibweise haftet eine liebevolle Sympathie für ihre Charaktere an. Den deutschen Übersetzern Clara Drechsler und Harald Hellmann, die schon Nick Hornby ins Deutsche übertrugen, ist es gelungen, diesen Ton zu treffen. Der träumerische Klang des Originals wurde auch in der Übersetzung bewahrt: „Ich flüsterte: Schließ die Augen, und ich schloss meine Augen; ich tat so, als wäre es Nacht und die ganze Welt umfinge mich, schlafend. Ich redete mir ein, das Geräusch meines Atems sei in Wirklichkeit das gleichmäßige Atmen aller Tiere auf der Welt, auch das der Menschen, auch das des Jungen und das seines Hundes, alle zusammen, alle atmend, auf der nächtlichen Erde.“ Sehr schön ist auch die Übersetzung von „Somebody somewhere is shaking with excitement because something tremendous is about to happen to this person“ mit „Irgendwer zittert irgendwo vor Aufregung, weil dieser Person etwas Kolossales bevorsteht.“ Man hat den Eindruck, wenn July auf Deutsch geschrieben hätte, hätte sie genau diese Worte benutzt. Kleine Stolpersteine sind zuweilen nicht geläufige deutsche Ausdrücke für Standardwendungen im amerikanischen Englisch. Wo „kolossal“ noch passend erscheint, selbst wenn es nicht mehr so häufig benutzt wird, erscheinen Wendungen an anderer Stelle unangemessen. „Grim reaper“, das etwa dem deutschen „Sensenmann“ entspricht, wurde mit „der Schnitter Tod“ übersetzt, was hierzulande kaum noch gebräuchlich ist; oder „rape“ mit „Notzucht“. Hier scheinen die Übersetzer einen Hang zu altertümelnden Begriffen zu haben, woraus sich bisweilen eine Verschiebung im Register gegenüber dem Original ergibt. Leicht befremdlich wirkt auch der Satz „Verhelfen wir dem Kind zu neuen Haaren“, wo im Englischen umgangssprachlich und locker „Let’s give that kid some new hair“ stand.
Julys Kurzgeschichten lesen sich trotz dieser Einwände auch in der Übersetzung gut und zeigen, dass der Wirbel um die neue, originelle Stimme in der Literatur nicht unberechtigt ist.
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Miranda July: Zehn Wahrheiten, übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Zürich: Diogenes 2008
272 Seiten
Miranda July: No one belongs here more than you, Scribner Book Co 2007, 224 Seiten
Miranda July wurde 1974 in Vermont in den USA geboren und betätigt sich neben dem Schreiben als Künstlerin, Regisseurin, Schauspielerin und Musikerin. Für ihren Film Me and You and Everyone we know gewann sie 2005 bei den Filmfestspielen in Cannes die Auszeichnung für das beste Debüt.
Clara Drechsler ist Autorin und Übersetzerin. Gemeinsam mit Harald Hellmann, der wie sie bei der Musikzeitschrift Spex tätig war, übersetzte sie schon die Tagebücher Kurt Cobains, Werke von Bret Easton Ellis und Nick Hornby und nun das Kurzgeschichtendebüt von Miranda July.