Lili ist Anfang zwanzig. Hat Abitur und arbeitet an der Kasse eines Pariser Supermarktes. Hasst die Studentenpartys, zu denen ihre Kolleginnen sie mitnehmen, das scheinheilige Gerede, die leeren Worthülsen und die kaum verhohlene Arroganz, die man ihr gegenüber dort an den Tag legt.
Denn Lili lebt so vor sich hin, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen – außer ihren Bruder Loïc wieder zu sehen. Dieser ist zwei Jahre jünger als sie, war jedoch immer der „große Bruder“, das Vorbild. Er traf für beide die Entscheidungen, gab die gemeinsame Richtung vor. Bis er vor zwei Jahren mit einem Mal spurlos aus ihrem Leben verschwand, und mit ihm auch Lilis Halt und Orientierung. Seitdem ist ihr Alltag eine leere Routine voller Barcodes und genervter Kunden. Lichtblicke sind allein die Postkarten, die sie gelegentlich von Loïc erhält. Sie waren es, die Lili aus dem tiefen Loch rissen, in das sie nach seinem plötzlichen Verschwinden gefallen war, und heute sind sie der Hoffnungsschimmer, an dem Lili sich festhält. „Keine Sorge, mir geht’s gut“ – viel steht nicht auf diesen Karten, doch immerhin sind es Lebenszeichen von Loïc.
Kurz vor ihrem Urlaub bekommt Lili eine Karte aus der Normandie. Kurzerhand beschließt sie, sich auf die Suche nach ihrem Bruder zu begeben – eine folgenschwere Entscheidung, die sie zu einem ebenso traurigen wie schönen Familiengeheimnis führen wird.
Je vais bien, ne t’en fais pas ist Olivier Adams erster Roman und erschien in Frankreich schon vor der Jahrtausendwende (1999). Der Verlag SchirmerGraf hatte zwar bereits zwei andere Titel von Adam im Programm (Am Ende des Winters, 2004; Leichtgewicht, 2005), doch sein Erstling wurde erst übertragen, als die Verfilmung des Romans im Frühjahr 2007 in die deutschen Kinos kam.
Diese Verbindung wird bereits darin deutlich, dass der Name der Hauptfigur, „Claire“ im französischen Original, in der deutschen Übersetzung kurzerhand in „Lili“ geändert wurde – den Namen, den das junge Mädchen in der Kinofassung trägt. Der Hauptdarstellerin Mélanie Laurent gefiel nämlich das Musikstück „U-Turn (Lili)“ von AaRON so gut, dass sie den Regisseur Philippe Loiret überzeugte, den Titel mehrfach zu verwenden und sogar seine Protagonistin entsprechend umzutaufen. Dieser freie Umgang mit der Romanvorlage passt zum beeindruckend souveränen Konzept der Kinoadaptation, die sich offensichtlich eher die Leerstellen des Romans als eine getreue Umsetzung vorgenommen hat – und so zu einer echten Bereicherung auch für diejenigen wird, die das Buch bereits kennen.
Denn Leerstellen gibt es einige in diesem Roman, in dem niemand viele Worte macht und so manches zwischen den einzelnen Figuren ungesagt bleibt. Doch letztlich ist es gar nicht die Anzahl der Wörter, die zählt, sondern das, was diese auszudrücken vermögen – das wird auch Lili im Laufe des Romans feststellen.
Reflektiert wird dies in Adams minimalistischem Stil, seinen knappen Sätzen, seiner unverblümten, lapidaren Sprache, die – anders als es auf den ersten Blick erscheinen mag – in einer Übersetzung oftmals sehr viel schwerer zu treffen ist. Doch der Übersetzerin Carina von Enzenberg gelingt es hervorragend, den nüchtern-resignierten Tonfall zu treffen, der Lilis trostlose Welt nicht nur beschreibt, sondern geradezu widerspiegelt. Dabei überträgt sie nicht immer wörtlich, doch stets gelungen: „Vingt et une heure. Fermer la caisse. Claire a les yeux pleins d’etiquettes, la tête farcie de codes-barres“ wird beispielsweise zu „Einundzwanzig Uhr. Kassenschluss. Lilis Augen flirren vor lauter Preisschildern, ihr Kopf schwirrt vor Barcodes“.
Diese endlosen Warenschlangen, die an Lili während eines Arbeitstages auf dem Laufband vorbeiziehen, werden von Adam manchmal minutiös aufgezählt, eine in diesem Pariser Supermarkt natürlich sehr französisch geprägte Produktpalette. Carina von Enzenberg übernimmt die meisten Waren, ändert allerdings die für den deutschen Leser weniger gängigen Produktnamen, so dass auf einmal Chio-Chips anstelle von Vico und Butter von Kerrygold anstelle von Elle&Vire über die Pariser Ladentheke gehen. Stellenweise werden Lebensmittelnamen unglücklich übertragen und so z.B. aus dem „Fourme d’Ambert“ (einem französischen Blauschimmelkäse) ein „Schmelzkäse“ gemacht – ein Produkt, das man wohl eher in einem deutschen als in einem französischen Supermarkt kaufen würde. Genauso verfährt sie, wenn die Großmärkte eines vorstädtischen Industriegebietes aufgezählt werden: Centre Leclerc, Saint-Maclou und Conforama werden übernommen, die „Schuh-Halle“ wird übersetzt, Luminaires und Lapeyres werden ersetzt durch Casino, Obi und Mammouth. Dies ist vor allem deshalb überraschend, da die Übersetzerin sonst sprachlich mit allen Mitteln versucht, ein französisches Ambiente zu schaffen und den Leser niemals vergessen zu lassen, dass er eine Geschichte liest, die in Frankreich spielt: Lili trinkt ihren Kaffee aus einem „Bol“, sagt zu ihren Kunden „Bonjour“ und zu ihrer Mutter „Maman“, „Métro“ wird selbstverständlich mit einem Akzent geschrieben und „Photos“ mit „ph“ statt mit „f“. Schon dies befremdet bei der Lektüre gelegentlich, doch stellenweise geht dieser Lokalkolorit dann regelrecht mit Carina von Enzenberg durch, wenn sie sie für gängige Ausdrücke des Originals im deutschen Text eine aus dem Französischen kommende Bezeichnung wählt – leider fast immer ein Stilbruch in dem sonst so perfekt getroffenen Register. So verwirrt es, wenn Lili im kleinen Haus ihrer Eltern in der Pariser Banlieue unter ein „Plumeau“ schlüpft, ein paar „Sous“ spart oder eine Frau beobachtet, die „ganz aus dem Häuschen, richtig echauffiert“ ist. Carina von Enzenberg verfolgt hier also offenbar keine eindeutige Übersetzungsstrategie, versucht einerseits das Fremde herauszuglätten, unterstreicht es jedoch gleichzeitig durch sprachliche Klischees. Für den Leser entsteht ein verworrenes Durcheinander aus deutschem und französischem Lokalkolorit.
Dies ist allerdings auch der einzige Kritikpunkt, der durch eine Vielzahl gelungener Übertragungen in dieser insgesamt herrlich souveränen Übersetzung letztlich mehr als wettgemacht wird. So wird beispielsweise aus dem Satzbeginn „Ils restent médusés et grelottant en l’observant“ die Alliteration „Starr vor Staunen und schlotternd sehen sie zu“, so werden die eher farblosen „faux pubs“ zu „Möchtegernpubs“ und „des tortillards inconfortables qui circulent au milieu de rien, cernés de betteraves et de petits pois“ zum „Bummelzug, der inmitten von Rüben und Erbsen durchs Nichts zuckelt“.
Keine Sorge, mir geht’s gut ist in beiden Sprachen ein zwar kurzer, jedoch sehr lesenswerter Roman, der elementare Themen behandelt und hinter dessen lakonischer Sprache sich eine enorme melancholische Tiefe verbirgt. Und so bestätigt sich erneut Lilis Erkenntnis, dass letztlich nicht die Anzahl der Wörter zählt, sondern das, was diese auszudrücken vermögen. Das gilt für diesen Roman und es gilt für eine gelungene Übersetzung – wie diese hier.
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Olivier Adam: Keine Sorge, mir geht’s gut, aus dem Französischen übersetzt von Carina von Enzenberg, München: Schirmer Graf 2007, 187 Seiten
Olivier Adam: Je vais bien, ne t’en fais pas, Paris: Le Dillettante 2000, 185 Seiten