„Ich nehme an, ich will sagen, […] dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege sind, die nirgendwo hinführen, auf die man sich aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wiederzufinden oder um etwas zu finden, was auch immer […], mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war“, schreibt Roberto Bolaño kurz vor seinem Tod im Jahre 2003. Es sind Worte, die den Inhalt seiner Geschichten und Essays der Sammlung Der unerträgliche Gaucho (El gaucho insufrible), von den Übersetzern Hanna Grzimek und Peter Kultzen gekonnt ins Deutsche übertragen, treffend wiedergeben: Die Hauptfiguren sind meist auf Reisen und stehen in irgendeiner Weise mit Literatur in Verbindung.
So bereist zum Beispiel der traurigste Nordamerikaner der Welt nach seinem Kriegsdienst Südamerika und wird Dichter: „Ich bin jetzt Dichter und suche das Außergewöhnliche, um es mit gängigen, geläufigen Worten zu fassen“, sagt er. Auch dieses Bekenntnis ist ein Motto Bolaños und erklärt die Eigenart seiner Texte. Die Person, die dem Sammelband seinen Namen gibt, der unerträgliche Gaucho, ist ein pensionierter Rechtsanwalt, der sich aus dem korrupten Buenos Aires in die Pampa zurückzieht und dort vor allem kannibalischen Kaninchen begegnet – eine wunderbar ironische Erzählung. Absurd hingegen endet die Reise eines argentinischen Schriftstellers, der auf der Suche nach seinem Plagiator nach Europa reist und dabei beinahe seine Identität verliert. Eine andere Reise unternimmt der Rattenpolizist, der die Unterwelt einer Stadt durchstreift, besessen davon, mit feinster Spürnase und schärfstem Verstand einem Verbrecher auf die Spur zu kommen, der seine Artgenossen tötet. Denn dies sei für die sonst so gesittete Rasse der Ratten vollkommen ungewöhnlich und bedeute folglich eine ernsthafte Bedrohung für die Zivilisation. Weiter folgt der Leser zwei Hauptfiguren, welche die Straßen der Oberwelt durchstreifen – zunächst einem von Märtyrertum und Religiosität besessenen Jungen, dann einem Verrückten, der sinnlos mordet. Bolaño wirft hier die Frage nach der Wirklichkeit auf, denn diejenige der beiden Handlungsstränge könnte unterschiedlicher nicht sein und ist doch die gleiche – vom Autor äußerst geschickt konstruiert.
Das Buch endet mit zwei Aufsätzen, die der Sammlung eine theoretische Note verleihen und zugleich einen Verständnisrahmen für die vorangegangenen Texte liefern. Der erste Essay stellt eine Assoziationskette über das Thema „Krankheit“ (Bolaño litt die letzten Lebensjahre an einer Leberzirrhose) dar. Der Autor verbindet es in Unterkapiteln mit den unterschiedlichsten Kontexten: Vortrag, Freiheit, Körpergröße, Dionysos, Apollo, französische Dichtung, Reisen, Sackgasse, Dokumentarfilm, Dichtung – kurze Texte mit witzigen, intelligenten und absurden Aspekten. Die Figuren der vorangegangenen Geschichten hatten bereits in irgendeiner Form mit Literatur zu tun und um die geht es auch in der Theorie: Der zweite Essay stellt eine spitzzüngige Abhandlung über die spanischsprachige Literatur dar, in der Bolaño mit dem Einfluss des Kapitalismus auf den Buchmarkt abrechnet. Die Sammlung endet mit folgendem sarkastischen Ausblick: „Die Rettung des Lesers (und nebenbei der Verlagsindustrie) liegt im Feuilleton. Wer hätte das gedacht? Da hat man sich so viel auf Proust eingebildet, so andächtig die Seiten von Joyce gelesen, die an einem Draht hängen, und die Antwort stand im Feuilleton. Ach je, das Feuilleton. Aber wir sind Nieten im Bett, und vermutlich werden wir wieder Mist bauen. Es sieht ganz so aus, als kämen wir aus dem Schlamassel nicht mehr heraus.“
El gaucho insufrible ist kein Buch, das sich leicht übersetzen lässt. Bolaño sucht wie sein Nordamerikaner das Außergewöhnliche, das Neue, und beschreibt es mit gängigen, geläufigen Worten. Doch in Wirklichkeit handelt es sich nicht um etwas Neues, sondern nur um eine neue Art, die Dinge zu betrachten und miteinander in Verbindung zu bringen. Roberto Bolaño ist ein Meister der Ironie und des Absurden. Sein Sprachniveau ist durchgängig gehoben, mit einigen umgangssprachlichen Wendungen. Jede Geschichte hat ihren eigenen Stil, mal mit einfachem, elliptischem Satzbau, dann mit komplexen Strukturen, die beim Lesen kaum auffallen, aber die Herausforderung an die Übersetzer stellen, in der Zielsprache ebenso leichtgängige und doch komplexe Sätze zu formen. Hanna Grzimek, welche die Mehrzahl der Texte übersetzt hat, und Peter Kultzen ist dies gleichermaßen gut gelungen. Vor allem historische, politische und literarische Anspielungen verdichten Sprache und Inhalt. Daher werden einige Stellen oder Begriffe durch Anmerkungen am Ende des Buches erläutert. Leider wird jedoch im laufenden Text nicht kenntlich gemacht, welche intertextuellen Anspielungen im Anhang nachgeschlagen werden können.
Zuletzt ist Bolaños Ironie für den Erzählton bezeichnend und diese wurde wunderbar ins Deutsche übertragen. Wenn auch an einigen Stellen merkwürdige Formulierungen wie „Ihr Gesicht sah leidend aus …“ („Su rostro expresaba sufrimiento …“), ein „Anflug von Zivilisation“ („un ligero aire de civilización“) oder „Mein Gehirn war wie ausgeschaltet“ („Tenía la mente en blanco“) beim Lesen stocken lassen, so handelt es sich hierbei um Ausnahmen. Beide Übersetzer haben großartige Arbeit geleistet: Sie haben die unterschiedlichen Erzählstimmen treffend zum Ausdruck gebracht, haben Bolaños ironischen Ton im Deutschen erhalten und sprachlich anspruchsvolle und sehr gut lesbare Texte geschaffen.
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Roberto Bolaño: Der unerträgliche Gaucho, aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek und Peter Kultzen. München: Kunstmann 2006, 190 Seiten
Roberto Bolaño: El gaucho insufrible. Barcelona: Anagrama 2002, 177 Seiten
Roberto Bolaño, geboren 1953 in Santiago de Chile, lebte lange Zeit in Mexiko, kehrte 1972 nach Chile zurück und ging ein Jahr später ins Exil. Seit 1976 lebte er mit seiner Familie in Spanien. Für sein Werk, das in viele Sprachen übersetzt wurde, erhielt er den Rómulo-Gallegos-Preis. Er starb 2003.
Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin, wo er heute als freier Lektor und Übersetzer lebt. Er übersetzt aus dem Spanischen und Portugiesischen.
Hanna Grzimek wurde 1973 in Heidelberg geboren, studierte Hispanistik, Lateinamerikanistik und Germanistik. Sie lebt und arbeitet als Übersetzerin in Berlin.