Der kleine Philippe spürt, dass er nicht das Kind ist, das sich seine sportbegeisterten Eltern gewünscht hätten. Da er schmächtig ist, wird er von einem Arzt zum nächsten geschickt und mit Vitaminspritzen aufgepäppelt. Um nicht mehr allein zu sein, erfindet er sich einen älteren Bruder: „Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. […] Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar.“ Doch auch dieser Bruder kann Philippe nicht darüber hinwegtrösten, dass die Blicke seines Vaters leer sind. Philippe ahnt, dass ein Geheimnis seine Familie umgibt, über das niemand zu reden wagt und welches das Verhalten seines Vaters erklärt. Als Philippe fünfzehn ist, enthüllt ihm Louise, eine enge Freundin der Familie, dieses Geheimnis: Die Grimberts sind Juden, und während der deutschen Besatzung in Paris waren seine Eltern noch mit anderen Partnern verheiratet. Sein Vater Maxime mit Hannah und seine Mutter Tania mit Hannahs Bruder Robert. Und was Philippe schon immer gespürt hat: Er hatte einen Bruder in Maximes und Hannahs Sohn Simon. Mit der Zeit entwickelten sich starke Gefühle zwischen Maxime und Tania, die auch Hannah nicht verborgen blieben. Als die Situation für Juden in Paris zu gefährlich wurde, beschlossen die Familien, über die Demarkationslinie zu fliehen. Die Männer fanden auf einem Bauernhof im Indre Zuflucht, während die Frauen noch auf den richtigen Moment warteten, ihnen nachzufolgen. Als Hannah in einem Brief Maximes erfuhr, dass Tania bereits ohne sie zu den Männern gestoßen war, fällte sie aus verletzter Liebe eine folgenschwere Entscheidung.
Philippe Grimberts autobiographischer Roman Ein Geheimnis wurde 2004 trotz Außenseiterstatus des Buches in Frankreich mit dem „Prix Goncourt des Lycéens“ ausgezeichnet und so zum Bestseller. Zuvor war der Psychoanalytiker in seinem Heimatland schon aufgrund zahlreicher Essays und seines ersten Romans La Petite Robe de Paul aufgefallen. Ein Geheimnis zeigt, warum Grimbert Psychoanalytiker werden wollte und dass er heute sein Metier beherrscht. Der Autor analysiert im Rückblick jede einzelne seiner Figuren anhand ihres Verhaltens, allerdings auf eine zurückhaltende, sympathische Weise, die den Leser tief in die Gefühlswelt der Charaktere eintauchen und die Beweggründe für ihre Handlungen verstehen lässt.
Ein Geheimnis wurde von Holger Fock und Sabine Müller übersetzt, die seit vielen Jahren gemeinsam französische Literatur ins Deutsche übertragen. Ihre Übersetzung ist authentisch und trifft den Ton des französischen Originals, so wirkt das analytische Eindringen in die Charaktere im Deutschen genauso intensiv. Die Geschichte der Grimberts, die bewusst im Präsens geschrieben ist, erscheint auch in der Übersetzung so lebendig, als wäre der Leser direkt am Ort des Geschehens.
Obwohl ausführliche Anmerkungen bei deutschen Verlagen meist nicht gern gesehen werden, hat der Suhrkamp Verlag den Übersetzern Fock und Müller freie Hand gelassen, ihre Übersetzung um einen drei Seiten langen Anhang zu erweitern, der einige im Text erwähnte Namen und Orte ausführlich erläutert. Die Anmerkungen sind eine Bereicherung für all diejenigen, die sich über die Geschichte der Juden in Frankreich näher informieren möchten. Alle anderen Leser werden durch die mit Sternchen gekennzeichneten Stellen im Lesefluss nicht weiter gestört. Erklärt wird auch ein Wortspiel Grimberts mit seinem Nachnamen, das im Deutschen nicht wiedergegeben werden kann: „Ein ‚m‘ für ein ‚n‘, ein ‚t‘ für ein ‚g‘, zwei winzige Veränderungen. Aber das ‚aime‘ (liebe) hatte das ‚haine‘ (Haß) verdeckt; da ich des ‚j’ai‘ (ich habe) beraubt war, gehorchte ich von nun an dem Gebot des ‚tais‘ (schweig)“. Die Übersetzer erläutern, dass die Lautung der Buchstaben und der assoziierten Wörter im Französischen annähernd gleich ist, damit auch der deutsche Leser versteht, was die bloße Änderung von zwei Buchstaben, die aus dem jüdischen Namen Grinberg das unauffällige Grimbert macht, für Philippe bedeutet. Es ist hier vollkommen begründet, das Original-Wortspiel beizubehalten, da der Leser zugleich daran erinnert wird, dass er die Geschichte einer französischen Familie miterlebt.
Ein Geheimnis ist die Geschichte des neu entdeckten Erzähltalents Philippe Grimbert, die auch im Deutschen dank der gelungenen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller nicht an Eindringlichkeit verliert. So ist ein autobiographischer Roman entstanden, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Welche Ereignisse wirklich so passiert sind, bleibt aber allein Grimberts Geheimnis.
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Philippe Grimbert: Ein Geheimnis, aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Suhrkamp 2006, 155 Seiten
Philippe Grimbert: Un secret, Éditions Grasset & Fasquelle 2004, 183 Seiten
Philippe Grimbert wurde 1948 in Paris geboren. Nach dem Abitur studierte er Psychologie. In Frankreich wurde er mit Büchern wie La Psychanalyse de la chanson (Psychoanalyse des Schlagers) und Pas de fumée sans Freud (Kein Rauch ohne Freud) bekannt. 2001 veröffentlichte er seinen ersten Roman La petite robe de Paul. 2004 folgte sein autobiographischer Roman Un secret, der mit dem „Prix Goncourt des Lycéens 2004“ ausgezeichnet wurde.
Holger Fock und Sabine Müller haben bereits zahlreiche Bücher gemeinsam übersetzt, u. a. Werke von Andrei Makine, Nelly Arcan, Pierette Fleutiaux und Alain Demurger.