„Sie blickte mir in die Augen und ich sah, wie sie meine Erniedrigung genoß. Plötzlich schoß es mir durch den Kopf: Sie hieß gar nicht Christa. Ihr wahrer Name war Antichrista.“ Doch als die sechzehnjährige Blanche zu dieser Erkenntnis gelangt, ist es bereits zu spät.
Blanche will bloß dazugehören. Niemand beachtet sie, Freunde hat sie nicht. Bis sie eines Tages von der gleichaltrigen Christa angesprochen wird, die wie sie in Brüssel Politikwissenschaften studiert. Blanche bewundert die hübsche, selbstbewusste Christa vom ersten Moment an und kann nicht glauben, dass ausgerechnet sie dem umschwärmtesten Mädchen der Fakultät aufgefallen ist. Sie werden Freundinnen, und Blanche bietet Christa an, einmal die Woche bei ihr zu übernachten, um ihr den langen Weg zur Universität zu ersparen.
Doch schon sehr bald erkennt Blanche, dass sie in eine ausweglose Situation geraten ist: Christa drängt sich brutal in ihr Leben und übernimmt schnell die Kontrolle darüber, aber aus Angst, ihre einzige „Freundin“ zu verlieren, lässt sich Blanche alles gefallen. Hilflos muss sie mit ansehen, wie ihre Eltern von Christa eingewickelt werden. Ständig wird Blanche von ihr bloßgestellt, beleidigt oder einfach ignoriert, doch niemandem sonst zeigt sich diese „Antichrista“. Es scheint, als gäbe es „in ihrer Seele einen Schalter“, wie Blanche bemerkt. Schließlich wohnt Christa sogar die ganze Woche über bei Blanches Familie. Ihr eigenes Leben wird Blanche komplett entzogen, und sie muss sich täglich Christas Willen beugen, um nicht in ihre ursprüngliche Einsamkeit zurückzufallen. Als die Ferien kommen und Christa für längere Zeit nach Hause fährt, ergreift Blanche ihre Chance: Sie spioniert Christa nach – und macht einige verblüffende Entdeckungen…
Die Ich-Erzählerin in Amélie Nothombs sehr gelungenem, zwölften Roman Böses Mädchen zeichnet sich besonders durch ihre sprachliche Sensibilität aus: Nachdem Blanche ihre Freundin als „Antichrista“ enttarnt hat, häufen sich biblische Anspielungen, die in der deutschen Übersetzung noch öfter verwendet werden und somit den ironischen Unterton des Originals verstärken: Das „Antlitz“ Christas wird zu Blanches „Joch“, die Wochenenden ohne Christa werden zu ihrem „Heiligen Gral“, und sie will sich gar nicht vorstellen, was diese ihr noch „aus den Rippen schneiden“ wird. Überall wittert Blanche die Gefahr, sogar in Christas Geburtsort: „Malmedy klang genauso wie mal-me-dit, Böses verheißend.“
Blanches Gefühle spiegeln sich in ihrer Sprache wider: Es besteht ein Unterschied darin, ob sie von ihren „Eltern“ spricht oder diese als ihre „Erzeuger“ bezeichnet, ob sie von „Christa“ schwärmt oder „Antichrista“ verachtet. Ebenso fallen ihr sprachliche Feinheiten bei anderen auf, die zeigen, dass Blanche ihrer Identität beraubt wurde: Nach Christas Einzug ist Blanche für ihre Eltern „zur dritten Person“ geworden und Christas übrige Bekannte kennen sie nicht als Blanche, sondern als „Christas Freundin“. Die Übersetzung beachtet diese kleinen Besonderheiten nicht immer, aber häufig genug, dass der deutsche Leser sie bemerken kann.
Die vermeintliche Erlöserin macht Blanche das Leben zur Hölle. Sie auf ihrem Weg durch diese zu begleiten und mit ihr zu hoffen, ihrer persönlichen Apokalypse noch entrinnen zu können, ist in der Übersetzung ebenso mitreißend wie im französischen Original.
Brigitte Große trifft genau den Ton von Antéchrista, der durch die Kombination teils literarischer, teils alltäglicher Sprache besonders wird und so den für Nothomb typischen ironisch-zynischen Grundcharakter erhält. Sie hat bereits einen weiteren, bemerkenswerten Roman der Autorin ins Deutsche übersetzt (Cosmétique de l’ennemi, 2001).
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Amélie Nothomb: Böses Mädchen, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große, Zürich: Diogenes 2005, 144 Seiten
Amélie Nothomb: Antéchrista, Paris: Albin Michel 2003, 151 Seiten
Amélie Nothomb wurde 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten in Kobe (Japan) geboren und verbrachte ihre Kindheit u. a. in China, den USA und Bangladesch. Mit 17 Jahren kam sie nach Brüssel, um Romanistik zu studieren, danach arbeitete sie als Dolmetscherin in Tokio. Schließlich kehrte sie nach Brüssel zurück, um dort zu schreiben. 1999 wurde sie mit dem „Grand Prix du Roman“ der Académie Française ausgezeichnet. Ihre Romane werden mittlerweile in 14 Sprachen übersetzt.
Brigitte Große ist unter anderem Übersetzerin von Frédéric Beigbeder, Amélie Nothomb und Georges-Arthur Goldschmidt und erhielt 1994 den Hamburger Übersetzerpreis sowie 1999 den Hieronymusring, eine Auszeichnung des Verbands deutschsprachiger Übersetzer.