Buchcover Aufs Blech getrommelt
Caroline Grunwald über Extrem laut und unglaublich nah von Jonathan Safran Foer, aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens

In seinem zweiten Roman Extrem laut und unglaublich nah (Extremely Loud and Incredibly Close) überfällt der amerikanische Bestsellerautor Jonathan Safran Foer den Leser geradezu mit extrem offensichtlichen und unglaublich prätentiösen sprachlichen und thematischen Anspielungen auf Günter Grass’ Blechtrommel. Nicht nur heißt der neunjährige Protagonist Oskar und spielt Tamburin, wo er geht und steht, sondern auch dessen Erzählhaltung entspricht der bekannten Stimme des neunmalklugen Winzlings aus Grass’ Werk: er besitzt eine altersuntypische Reife und betrachtet sämtliches Geschehen um sich mit einer Arroganz, die beinahe an Hybris grenzt. Ebenso ähnelt die strukturelle Konzeption der des berühmten literarischen Vorbildes, denn auch diese Geschichte beginnt wie die Blechtrommel zwei Generationen zuvor mit Oskars Großeltern, zwei Kriegsflüchtigen aus Dresden.

Doch ist die Handlung in Foers Roman nicht linear: Oskars Erzählpassagen wechseln sich mit Briefen ab. Dabei sind dies einerseits Briefe, die Oskars Vater gewidmet sind, dessen Vater ihn nie kennengelernt hat und der ihm dennoch täglich schreibt, und andererseits Briefe von Oskars Großmutter an Oskar selbst. Sie alle zeugen von der Tragödie des Verpassens, der Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, und der Allgegenwart einer traumatischen Vergangenheit: Der Schrecken des Bombardements von Dresden wirkt ebenso nach wie derjenige des Terrorangriffs auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, bei dem Oskar – wie sich im Verlauf der Handlung herausstellt – seinen über alles geliebten Vater verloren hat. Beide Ereignisse zeigen die menschliche Hilflosigkeit gegenüber dem Terror. Als verbindender Angelpunkt der Generationen dient Thomas Schell – Oskars Vater und der Sohn von Oskars Großeltern.

Oskar stellt sich im Verlauf der Handlung immer mehr als zutiefst verstörter kleiner Junge heraus, dessen immenses Leiden und Trauern über den Verlust des Vaters sich in einer Tendenz zur Selbstverletzung und einem Grundgefühl von Panik zeigen. Auf der Suche nach seinem verlorenen Vater lernt er skurrile und bedeutsame Menschen kennen, hinterlässt signifikante Spuren im Leben verschiedener Personen und gerät in die bizarrsten Situationen. Im Zuge dieser Suche trifft er auf seinen Großvater, ohne dabei zu wissen, um wen es sich handelt. In einer symbolischen Handlung graben Enkel und Großvater letztendlich den leeren Sarg von Vater bzw. Sohn aus, und Oskars Großvater füllt ihn mit den Briefen, die er täglich an sein unbekanntes Kind schrieb.

Gleichzeitig kann der Leser anhand der eingeschobenen Briefe die Entwicklung der Beziehung von Oskars Großeltern nachvollziehen und gewinnt dadurch Einblicke in die sich überkreuzenden Lebensgeschichten der drei Hauptpersonen, die den jeweils anderen versagt bleiben. So muss der Leser beobachten, wie sich ausnahmslos alle Protagonisten unwissentlich immer tiefer in ein Netz von Missverständnissen, Fehlkommunikation und unendlicher Einsamkeit verstricken, voreinander das jeweilige Selbst verbergen und letztendlich tieftraurig und allein mit dem Tod eines geliebten Menschen und ihrer eigenen Ohnmacht angesichts von Terror und Willkür umgehen müssen.

Foers Buch ist auch ein Bilderbuch. Eine geradezu paranoide Tendenz, alles zu fixieren und festzuhalten zeigt sich in der optischen und strukturellen Gestaltung: Die Erzählpassagen sind durchsetzt mit Seiten ohne Text. Der Leser sieht konkrete Bilder, die auch Oskar sieht. Zusätzlich ist sein Großvater sprechunfähig und braucht das Schreiben als einzige Kommunikationsform: Sprache, die bleibt. Wie die Vergangenheit. Seine mit „Ja“ und „Nein“ tätowierten Hände ermöglichen ihm die Kommunikation und sind ebenso als Bild sichtbar wie auch die Notizbuchseiten, mit denen er versucht, Dialoge zu verschriftlichen. Oskar denkt in Bildern, sein Großvater in Schrift. Das mündliche Sprechen ist zu flüchtig, denn das Leben hat so viel Gewicht. Durch diese massive Bild- und Schriftfixierung wirkt Foers Roman sehr schwer.

Das Thema der Entfremdung zeigt sich auch in der Sprache der Protagonisten: einerseits handelt es sich um idiomatische Redewendungen, die teilweise aus spezifisch amerikanischem Kulturkontext stammen – so begrüßt beispielsweise der Portier Oskar stets mit der aus einem amerikanischen E-Mail-Programm stammenden Stimme: „You’ve got mail!“ –, andererseits jedoch beruhen diese Wendungen bei Oskar offenbar auch auf dem Einfluss der Großmutter, die vor 40 Jahren als Ausländerin versuchte, möglichst idiomatisches Englisch zu lernen. Dazu gehört z. B. „one hundred dollar“, was in der Übersetzung sehr gut mit „große Klasse“ – ein im Deutschen inzwischen ebenso ungebräuchlicher Ausdruck für einen identischen Sachverhalt – wiedergegeben wird: Hier zeigt sich sprachliches Fremdsein. Problematischer ist das zitierte „You’ve got mail“ – der Übersetzer macht daraus „Du hast Post!“, jedoch ist dieser Satz in der deutschen AOL-Version bereits mit „Sie haben Post!“ zum Quasi-Kulturgut geworden, sodass sich der Gegensatz zwischen Fremdsein und Einheimischsein nicht so deutlich zeigt. Eine idiomatische Wendung, die Oskar ständig gebraucht, ist nicht optimal übertragen: immer, wenn er sich schlecht fühlt, bekommt er „heavy boots“, im Deutschen mit „Bleifüße“ wiedergegeben. Hier stutzt der Leser – zu Recht, denn die Idiome entsprechen einander nicht: Während „heavy boots“ ein Euphemismus für tiefste Trauer ist, verbindet der deutsche Leser „Bleifüße“ unweigerlich mit zu schnellem Autofahren. Schade, denn dieses Idiom entspricht Oskars Idiolekt und zeigt gleichzeitig seine sprachliche Abgrenzung von den ‚fremden‘ Wurzeln seiner Großmutter. Und dennoch gelingt Henning Ahrens eine durchaus authentische Übertragung von Oskars Sprache ins Deutsche.

Ein extremes Buch, das zwischen unglaublichen Kontrasten schwankt: gleichzeitig zutiefst ernst und überwältigend komisch, bunt und trist, reißt der Autor alle wichtigen Themen des menschlichen Daseins an. Unglaublich spannend und extrem interessant spinnt er ein ineinander verwobenes Geschichtennetz – und verfängt sich letztendlich selbst darin. Ein Buch ohne Ende – und insofern nur der Auftakt: eben einmal aufs Blech getrommelt.

Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Henning Ahrens. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, 437 Seiten

Jonathan Safran Foer: Extremly Loud and Incredibly Close. Boston: Houghton Mifflin 2005, 368 Seiten