Manchmal erzeugt das Ungeschriebene mehr Spannung als Worte. In Retour d’Uruguay von Pascale Kramer (Zurück, übersetzt von Andrea Spingler), bringt die eigene Fantasie das Herz zum Rasen durch eine Fülle von Andeutungen, die erahnen lassen, dass mehr passiert als ausdrücklich erzählt wird. Der dumpfe Unterton der ansonsten detaillierten Erzählung verleitet unwillkürlich dazu, die Lücken mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen, und zeichnet so deutlichere Bilder als eine ausführliche Beschreibung.
Wenige schmucklose Worte, deren Kombination manchmal verwundert, umreißen treffend die Eigenheiten der Figuren und ihrer Umgebung. „L’horizon hirsuit du bois“ im Original ist typisch für den Stil und hat in der Übersetzung eine vergleichbar unkonventionelle Entsprechung in „ausgefranster Horizont“ gefunden. Kantig wirkt in der Übersetzung jedoch oft die Stellung des Reflexivpronomens: „Als Adrien morgens ins Bad ging, fand er Nina, wie sie vor dem ausgefransten Horizont des Waldes sich aus dem Fenster beugte und ein Brot aß.“ Flüssiger wäre ‚wie sie sich […] aus dem Fenster beugte‘. Größtenteils sind die stilistischen Eigenheiten jedoch gut erhalten und die deutsche Übersetzung vermittelt einen ehrlichen Eindruck vom Orignal.
Der zu Beginn der Geschichte siebzehnjährige Adrien begleitet seine entfernte Verwandtschaft seit ihrer Rückkehr aus Uruguay, beobachtet ihre Bemühungen, sich in Frankreich einzuleben, sich eine Existenz aufzubauen. Er baut eine engere Bindung zu verschiedenen Familienmitgliedern auf, lebt sogar mit ihnen in einem Haus und doch bleiben sie ihm fremd. Er bewundert den Vater, Raphaël, für seine charismatisch männliche Ausstrahlung und kennt ihn als großzügigen Mann, der seine Tochter verwöhnt und vergöttert. Etwas jedoch stimmt nicht an dieser Familie, etwas, das er nicht verstehen oder einordnen kann.
Der Leser tappt mit Adrien im Dunkeln, teilt seine Ahnungen und stellt seine eigenen Vermutungen an. Dabei erhascht er Einblicke in die Mechanismen von Manipulation und Macht, die das Leben dieser Familie beherrschen. Er spürt, dass es eine andere, eine brutalere Seite an Raphaël gibt, eine, die sich auf seine Familie konzentriert, eine Seite, die in Adriens Beisein jedoch nur gelegentlich schwach aufflackert.
Erklärt wird nichts, nur Anspielungen werden eingestreut, die teils erotische, teils beklemmende Bilder erzeugen. Die Spannung der Geschichte baut sich langsam auf, ist mitreißend und hinterlässt am Ende Faszination und Beklemmung. Adrien gibt nur widerwillig seine Zuneigung zu Raphaël auf, als dieser wegen Mordes verhaftet wird. Ein Teil seiner Ahnungen, was Raphaëls Brutalität betrifft, wird damit bestätigt. Was sich innerhalb der Familie abgespielt hat, lässt sich nur vermuten.
Gerade die Beschreibung des Alltäglichen bringt den Leser nahe an das Geschehen heran, und zusammen mit Adrien stellt auch er sich die Frage, was sich hinter der Fassade der Normalität verbirgt und wozu er selbst fähig ist. Im Gegensatz zu Adrien hängt er seinen Überlegungen jedoch noch lange nach, lange nachdem er das Buch zurück ins Regal gestellt hat. Dies ist eine bemerkenswerte Leistung für ein Buch; mit dem Schweizer Literaturpreis LIPP ausgezeichnet, hat es in Deutschland bis jetzt erstaunlicherweise kaum Beachtung gefunden. Zurück ist kein Krimi und doch fühlt sich der Leser wie ein Detektiv, der den Andeutungen auf den Grund gehen will und das heißt: weiterlesen, immer weiterlesen. Zurück ist auch kein Thriller und doch geht der Roman unter die Haut, obwohl jeder gewöhnliche Krimi mehr Grausamkeiten in einem Nebensatz abhandelt, denn die detaillierte Beschreibung des Normalen und das Ungeschriebene gehen tiefer.
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Pascale Kramer: Zurück, aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler. Zürich: Arche 2004. 189 Seiten
Pascale Kramer: Retour d’Uruguay. Paris: Mercure de France 2003, 159 Seiten