Am Anfang war… das Wort. Dasselbe, das auch am Ende steht – gewaltig: Der Tod.
Schade nur, dass das Wort, das Thema, das Wiederkehrende in der Übersetzung von Françoise Chandernagors gelungener Komposition aus Tod und Leben, Gut und Böse völlig verloren geht. Nicht wegen der Sprache der Übersetzung: Übersetzt ist genau, wortgetreu; die Atmosphäre ist dicht und einfühlsam geschildert. Die massiven Streichungen jedoch betreffen genau die Passagen, die den Ton der Erzählung ausmachen: Die Passagen nämlich, in denen das eigentliche Thema wiederkehrend behandelt wird: Die Frage nach dem Ursprung. „Au commencement était…“ zieht sich im französischen Original thematisch und motivisch durch die Geschichte, durch die Handlung, und zeigt sich spiegelbildlich auch im Sinnverfall der Hauptfigur Louis Charles.
Louis Charles, der Sohn von Louis XVI ist „das Kind im Turm“: ein achtjähriger Junge, der einfach weggesperrt wird, isoliert und ohne Zerstreuungsmöglichkeit, der versucht, durch Denunziationen der Familie, Anzeigen, Einstimmen in den antimonarchischen Trend ein Stückchen Liebe und Anerkennung zu erlangen, bis sich sein Dasein schließlich auf ein reines Dahinvegetieren reduziert und er, auf seine Körperfunktionen beschränkt, allmählich auch seinen Geist aufgibt. Letztendlich stirbt „der Kleine“: blass, durchsichtig, sprachlos, beinahe geist- und seelenlos. Ein Fall von Kaspar Hauser? Ein Lehrstück über Sprachverfall? Ein Historienstück über die Terrorherrschaft Robespierres und ein dunkles Kapitel französischer Nationalgeschichte?
Ja: alles das, eindrücklich und subtil geschildert. Aber noch mehr: Françoise Chandernagor – die selbst Historikerin ist und sich bei ihren beeindruckend genauen Recherchen auf zeitgenössische Quellen gestützt hat – schafft es in ihrer Geschichte, über ein Einzelschicksal hinauszusehen und die Frage nach dem Guten und Bösen in jedem einzelnen Menschen ebenso zu behandeln wie die nach Kollektivschuld und kulturellem Gedächtnis. Auch weist ihre Erzählung typische Züge des modernen Romans auf: sie als Erzählerin greift unmittelbar in das Geschehen ein und tritt als Richterin auf. Sie führt einzelne für das Geschehen verantwortliche Personen vor, stellt ihnen scharfe Fragen aus der Perspektive über zweihundert Jahre danach. Sie beschwört Geister der Vergangenheit, ohne jedoch diese Geister zu verdammen und der Hölle zu überantworten. Dieses Vorgehen macht die Geschichte lebendig, die Vergangenheit gegenwärtig und stellt gleichzeitig die Frage in den Raum, ob die Geschichte sich wiederholt oder wiederholen könnte. In immer weiteren Kreisen bewegt sich die Befragung: Schuld oder Nicht-Schuld, Gut oder Nicht-Gut – Sein oder Nicht-Sein. Gewürzt mit philosophischen Einschüben, die zyklisch das Motiv des „Au commencement était…“ aufgreifen, handelt es sich hier um ein äußerst sensibles Werk auf allerhöchstem Niveau.
Zumindest im französischen Original. Die deutsche Übersetzung dagegen streicht genau die Einschübe, die den wirklichen Charakter der Geschichte ausmachen, genau die Sätze, die die Handlung pointierend unterbrechen. Auch die Zitate aus Originaldokumenten werden nicht typographisch herausgehoben wie im Original, und die Quellenangaben fehlen ebenso vollständig wie das Nachwort der Autorin. Das Buch bleibt auf das Geschehen beschränkt, auf die reine Handlung, wobei ihr leider das Blut ausgesaugt wird. Am Ende dämmert sie eben so blass und ausgezehrt vor sich hin wie der kleine Louis Charles.
Der unterschiedliche Ansatz bei Original und Übersetzung zeigt sich schon in der Wahl des Titels: Während La Chambre (‚Das Zimmer‘) das Umfeld beschreibt, in dem sich die Geschichte abspielt – und damit auf die bedrückende räumliche Abgeschlossenheit und Enge in Sartres „Huis clos“ anspielt, sodass sich der Fokus vom Persönlichen ins Allgemeine verlagert – , ist Das Kind im Turm ein personenbezogener Titel: Das Kind steht im Mittelpunkt, seine Geschichte und sein Schicksal. Dabei wird allerdings ignoriert, dass es ja gerade das „Mehr“ ist, was die Erzählung wirklich ausmacht. Bezeichnenderweise beginnt das deutsche Buch mit dem Satz „Am Anfang war ein Federstrich: ganze Zahlenkolonnen der Buchhaltung – gestrichen!“ In Anbetracht der gravierenden Streichungen des Originaltextes eine geradezu ironische Pointe.
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Françoise Chandernagor: Das Kind im Turm, aus dem Französischen übersetzt von Christel Gersch. München: Piper 2004. 286 Seiten
Françoise Chandernagor: La chambre. Paris: Gallimard 2002. 437 Seiten
Françoise Chandernagor wurde 1945 in Palaiseau geboren und lebt heute in Paris. Sie studierte an der „Sciences Po“ in Paris Politikwissenschaften und Geschichte und war als Politikwissenschaftlerin am obersten französischen Verwaltungsgericht tätig, bevor sie sich 1993 ganz dem Schreiben widmete. Sie ist Mitglied der Académie Goncourt und hat besonders mit ihren historischen Romanen L’allée du roi und La Chambre (Das Kind im Turm) große Erfolge erzielt und mehrere Auszeichnungen erhalten.